Stuttgart 21 – Fakten zum Offenen Brief von Ministerpräsident Kretschmann

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,

angesichts der vielen sachlich nicht haltbaren Aussagen im Offenen Brief von Herrn Ministerpräsident Kretschmann an Sie fühlen wir uns aufgerufen, Sie auf die Faktenlage insbesondere zu ETCS hinzuweisen. Angesichts des desolaten Zustands des Projekts erschienen uns weitere Milliardentransfers „lost costs“, verlorene Kosten. Das Kapazitätsproblem von Stuttgart 21 mit immer weiterem Milliardenaufwand lösen zu wollen, ist eine der vielen Lebenslügen der Befürworter. Weder die geplanten weiteren 47 Kilometer Tunnel („Ergänzungsprojekte“) noch die ETCS-Implementation können etwas am Engpass ändern, der durch die Halbierung der Gleiszahl entsteht.

Zunächst aber: Wir halten es für wichtig, dass Sie als Bundeskanzler, die Gleichheit der Lebensverhältnisse auch im Blick auf die Bahninfrastruktur im Auge haben – so wichtig die Interessen einzelner Bundesländer sein mögen. Das Projekt Stuttgart 21 hat mittlerweile 11,5 Milliarden Euro des bundeseigenen Bahnkonzerns ins reiche Bundesland Baden-Württemberg gelenkt, während bundesweit im gesamten Bestandsnetz zahllose mit viel begrenzteren Mitteln behebbare Bahn-Engpässe auf Umsetzung warten müssen. Ministerpräsident Kretschmann befürchtet, dass „die DB jedoch (versucht), die hierfür reservierten Bundeshaushaltsmittel auf die Sanierung des Bestandsnetzes umzulenken.“ Genau das sollte sie aber tatsächlich tun!

Auch wenn die Mittel für den Digitalen Knoten offiziell nicht als Teil der S21-Finanzierung deklariert werden, sind es selbstverständlich Aufwendungen für dieses Projekt – genau wie die Kosten für den geplanten Pfaffensteig- und Nordzulauftunnel. Auf vielen direkten und indirekten Wegen wird Geld, das für die Sanierung der Bahn benötigt wird, in das Stuttgarter Fass ohne Boden gelenkt. Wenn weitergebaut werden sollte, wäre es viel angemessener, die Projektpartner, das Land Baden-Württemberg, den Flughafen Stuttgart, die Region Stuttgart und die Stadt Stuttgart zur Finanzierung heranzuziehen.

Der Digitale Knoten Stuttgart ist auch keineswegs „für die Innovationsfähigkeit Deutschlands von zentraler Bedeutung“. Zum einen, weil er lediglich eine Notmaßnahme darstellt, um dem viel zu kleinen neuen Tiefbahnhof in Stuttgart wenigstens noch einige Prozent an zusätzlicher Kapazität zu verschaffen – während oberirdisch weiterhin ein komplett funktionsfähiger „alter“ Kopfbahnhof zur Verfügung steht, der keinerlei solche Investitionen braucht, um die Anforderungen auch der nächsten Jahrzehnte zu erfüllen. Zum anderen, weil es eine Fehlentscheidung der Bahn war, erste Erfahrungen mit dem Zugsteuerungssystem ETCS an einem der komplexesten und störungsanfälligsten Bahnknoten Deutschlands sammeln zu wollen. Das lässt unausweichlich für Jahrzehnte ein Dauerproblem erwarten, in das immer weitere Gelder gesteckt werden müssen. Dass hier von Ministerpräsident
Kretschmann in Merkel‘scher Diktion „die Zukunftsfähigkeit Deutschlands“ mal wieder von Stuttgart 21 abhängig gemacht wird, sollte nach all den Erfahrungen mit dem Projekt stutzig machen.

Viel sinnvoller ist es deshalb – wenn schon in Stuttgart mit ETCS begonnen wurde, weil man versäumt hatte, von Anfang an auch auf konventionelle Signaltechnik zu setzen – der Implementierung dieses Systems jede Zeit zu geben, die sie für gründliche Vorarbeit und Auswertung von Erfahrungen braucht. Deshalb wäre eine Streckung der zur Verfügung stehenden Mittel über einen längeren Zeitraum keineswegs nur eine Notlösung, sondern der einzige Weg zu einer erfolgreichen Implementierung – allerdings in ein zum Scheitern verurteiltes Tiefbahnhof- und Tunnelsystem. Das von Herrn Ministerpräsident Kretschmann befürchtete „fatale“ industriepolitische Signal wäre noch viel fataler, wenn der erste Versuch mit ETCS – erwartbar – unter Zeitdruck fortwährend scheitern würde. Ein Schrecken ohne Ende.

Wir halten es für sehr bedenklich, wenn sich ein Ministerpräsident jenseits der Faktenlage in Sachen ETCS derart vor den argumentativen Karren der Projektunterstützer spannen lässt: Das betrifft sowohl die erhofften Kapazitätssteigerungen durch ETCS als auch die angepeilte Umsetzungszeit. Beides sind, wie alle bisherigen Zeit- und Kostenangaben der Bahn, politische, realitätsferne Beschwichtigungen. Um das Projekt nicht ins Stocken zu bringen und um es der Bevölkerung als voranschreitendes Projekt verkaufen zu können, haben die Stuttgarter Projektpartner fortlaufend von der Bahn positive Signale gefordert und diese dann mitvertreten –ausgerechnet auch diejenigen, die sich nun über die „Lügen“ der Bahn beschweren.

Definitiv falsch ist die Aussage, „Experten zufolge“ sei das „Potenzial der Effizienz- und Kapazitätsgewinne in einem komplexen Bahnknoten ungleich höher als auf freier Strecke“. Das genaue Gegenteil ist der Fall: Experten sagen, dass Kapazitätsgewinne um so geringer sind, je mehr Weichen beteiligt sind, also am größten gerade nicht im komplexen Bahnknoten Stuttgart. Mehr Sicherheit ja, aber nicht mehr Kapazität. (Siehe hierzu auch den Offenen Brief des Faktenportals WikiReal.org!)

Nicht unerwähnt soll bleiben, dass das Immobilienprojekt Stuttgart 21 als Bahnprojekt schon heute gescheitert ist. Alle Beteiligten wissen in Wahrheit, dass die acht Gleise des Tiefbahnhofs unter gar keinen Umständen den bestehenden 16-gleisigen Kopfbahnhof ersetzen können. Alle Beteiligten wissen, dass die große Zahl an für den Tiefbahnhof geplanten Zügen – ob mit oder ohne ETCS – zu einer so hohen Zugdichte führen würde, dass dieser Bahnhof bundesweit dauerhaft der Haupt-Verspätungsverursacher würde. Und alle wissen oder könnten es wissen, dass das von der Bahn vorgelegte Brandschutz-Konzept zwar für eine Baugenehmigung irgendwie ausreichen mochte, weil es formal die meisten Bestimmungen einhält, dass es aber nicht zum Betrieb von Zügen ausreicht, weil es in der Praxis seine Funktionstüchtigkeit nicht nachweisen kann. Die große Enge in den Tunnels und die einzigartige Länge von 60 Kilometer zusammenhängender Tunnels (mit geplantem Pfaffensteigtunnel und Nordzulauftunnel sogar über 100 Kilometer), erfordert mehr als die bloße Minimaleinhaltung von Bauvorschriften. Der Tiefbahnhof wird deshalb nie den in Stuttgart erforderlichen Bahnverkehr bewältigen können. Stuttgart 21 wird als Tragödie enden (es ist schon jetzt weltweit eine Lachnummer), wenn jetzt einfach weitergebaut wird und weitere Finanzmittel den schon jetzt verlorenen hinterhergeworfen werden.

Deshalb unsere Bitte: Stimmen Sie keiner ungeprüften Weiterfinanzierung des Projekts zu! Lassen Sie sich nicht instrumentalisieren! Fordern Sie vielmehr von den Projektpartnern ein Innehalten und konstruktive Schritte zu einem industriepolitisch und vor allem bahnverkehrlich verantwortbaren Umsteuern. Niemand sollte sich von der Drohung mit einem schwarzen Baustellenloch, einem Ende mit Schrecken, zum sinnlos gewordenen Weiterbauen und Weiterfinanzieren nötigen lassen. Im Falle einer Beendigung gibt es längst klimaverträgliche Konversions- und Plan-B-Ideen.

Mit freundlichen Grüßen,

Martin Poguntke (Sprecher)                                                                            Dr. Werner Sauerborn (Geschäftsführer)

                                                              Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21

Über Martin Poguntke

ist Diplompädagoge und Theologe und einer der Sprecher des „Aktionsbündnisses gegen S21“. Er war Tagungsleiter der „Klimabahn-Konferenz“ und lebt in Stuttgart, der Stadt mit dem Klima-, Stadt- und Bahnverkehr- zerstörerischsten Projekt Deutschlands.“ Er war 30 Jahre lang Mitglied bei den Grünen und ist wegen deren Mittragen von S21 dort ausgetreten.

Zeige alle Beiträge von Martin Poguntke →

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert