eine aktuelle Standortbestimmung für zentrale Weichenstellungen der deutschen Bahnpolitik

Forderungen von Bürgerbahn zum Thema Deutschlandtakt
Vorbemerkung
Vom 17.–18.5. 2025 haben in Hamburg im W 3 die Bahnexperten von „Bürgerbahn-Denkfabrik für eine starke Schiene“ eine aktuelle Standortbestimmung zum Deutschlandtakt und seiner derzeitigen Umsetzung vorgenommen. Sie fordern von der Bundesverkehrspolitik, der DB und ihrer InfraGO sowie den Verkehrsministerien der Länder eine strategische Neuausrichtung bei der Umsetzung des Deutschlandtakts, die dazu beitragen kann, schnellstmöglich die Systemqualität und Attraktivität der Bahnen in Deutschland signifikant zu steigern. Damit wollen wir auch die positiven Effekte des Deutschlandtickets noch besser nutzen – sowohl in den Ballungsregionen als auch im ländlichen Raum.
Die Grundidee des Deutschlandtakts muss vor allem für besseren Nahverkehr und ein dezentraleres Bahnsystem in den ländlichen Regionen genutzt werden
Bürgerbahn begrüßt die Grundidee eines deutschlandweiten Integralen Taktverkehrs (ITF). Wir erinnern daran, dass die Idee lange Zeit vor allem von den Aufgabenträgern des Nahverkehrs propagiert wurde. Speziell für den Bahnverkehr in ländlichen Regionen mit geringer Fahrplandichte verspricht ein gut gemachter ITF gegenüber dem unbefriedigenden Status quo mit großen Zeitverlusten beim Umsteigen große Attraktivitätsgewinne.
Gute Erfahrungen mit ITF-Systemen
Schon die ersten regionalen ITF-Versuche mit dem Allgäu-Schwaben-Takt, dem Rheinland-PfalzTakt sowie dem Schleswig-Holstein-Takt haben beachtliche Attraktivitäts- und Fahrgastzuwächse ermöglicht. Vorher hat schon der erste systematische Taktverkehr durch die Einführung des IC-Netzes („jede Stunde, jede Richtung“) einen beachtlichen Attraktivitätsfortschritt im Fernverkehr ermöglicht, dem dann ebenfalls mit einem klaren Taktschema das sehr erfolgreiche IR-(InterRegio) System folgte.
Großes Vorbild für ITF-Systeme ist und bleibt die Schweiz, in der der ITF die Effizienz und Attraktivität des Schweizer Bahnen massiv verbessert hat und im ganzen Land, vor allem auch seinen Mittel- und Kleinstädten und ländlichen Regionen für gute Schienenerreichbarkeit sorgt. Zumal auch der kommunale ÖPNV seine Fahrplansysteme vielfach auf die ITF-Logik abstimmt.
ITF wird in Deutschland leider teilweise als Alibi für fragwürdige Projekte der Hochgeschwindigkeit zweckentfremdet
Zurzeit werden leider viele unsinnige Infrastrukturmaßnahmen aus dem Repertoire des Hochgeschwindigkeits-Verkehrs (HGV) realisiert oder geplant, die weit über die Notwendigkeiten eines ITF hinausschießen und dort z. T. kontraproduktiv wirken. Wegen der hohen Kosten und langen Bauzeiten verzögern sie zudem die Komplettierung eines ITF-Systems auf Jahrzehnte. Hier dominiert die Fernverkehrsperspektive mit HGV-Standards, während die Belange das Regional- und Nahverkehrs zu kurz kommen.
Geradezu grotesk ist der Missbrauch des ITF-Arguments für zweckentfremdete, kapazitätsschädigende Infrastrukturmaßnahmen wie Stuttgart 21 oder die Vernichtung des wichtigen Sekundärknotens Hamburg-Altona. Auch die angekündigten 41 Total-Sperrungen wichtiger Schienenachsen für die sog. Generalsanierung machen die schnelle und breite Umsetzung des ITF unmöglich. Sie legen wichtige Teilnetze viel zu lange lahm und führen zu mühsamen, unzureichenden Umleitungen sowie zu teuren und unattraktiven Schienenersatzverkehren. Stattdessen muss die Netzsanierung minimal invasiv neben rollendem Rad erfolgen.
Das ITF-Prinzip sollte vorrangig für viele kleinere Infrastruktur-Maßnahmen genutzt werden
Zurzeit bleiben viele dringliche kleinere kapazitätssteigernde Infrastrukturmaßnahmen auf Strecken und an Knoten unerledigt liegen. Dazu gehören
– die Nachrüstung von Überholgleisen und der Abbau eingleisiger Engstellen im Netz
– der Einbau wichtiger Weichen auf stark belasteten Strecken, um deren Kapazität zu steigern,
– die Kapazitätserweiterung hoch belasteter zweigleisiger Strecken durch zusätzliche Weichen, ggf. auch durch ein drittes oder viertes Gleis,
– der Ausbau der Leistungsfähigkeit wichtiger ITF-Knoten durch zusätzliche Bahnsteige und Gleise,
– der Bau zusätzlicher Überwerfungsbauwerke an Gleiskreuzungen, um die dort üblichen Wartezeiten für die Züge abzubauen,
– der Abbau der vielen Langsamfahrstellen im Netz, die das pünktliche Erreichen der nächsten Knoten verhindern,
– die Reaktivierung stillgelegter Bahnstrecken mit entsprechenden Netzeffekten und
– der Bau zusätzlicher Bahnhöfe und Haltepunkte, um die Schienen-Erreichbarkeit neuer Siedlungsgebiete zu verbessern,
– die verstärkte Nutzung von nah gelegenen Sekundärknoten, um überlastete Metropolenbahnhöfe zu entlasten und
– die betriebliche Optimierung der Zugwenden an Linienenden, um das Verstopfen knapper Gleise durch auf die Wende wartende Züge zu verhindern.
Dabei handelt es sich jeweils um kleine Infrastruktur- und Betriebsmaßnahmen, die bislang gegenüber den Großbaustellen der Hochgeschwindigkeit vernachlässigt werden, obwohl sie für das Funktionieren des ITF-Systems viel dringlicher sind und in der Summe auch ein beachtliches, aber dezentral sinnvoll verteiltes Investitionsvolumen repräsentieren.
Sinnvolle Differenzierungen der Geschwindigkeiten und Infrastrukturstandards
Im Einzelfall kann natürlich auch eine zeitsparende Geschwindigkeitserhöhung für das ITF-System hilfreich sein. Dafür ist ein maßvoller bestandsorientierter Ausbau sinnvoll. Im Zielfahrplan sind wegen der hohen Kosten und langen Bauzeiten und massiven Eingriffe in Landschaft und Bebauung sowie der hohen Energieverbräuche künftig keine Geschwindigkeiten über 200 km/h vorzusehen. Entsprechend den EU-Vorgaben ist eine „Standardgeschwindigkeit von 160 km/h“ ausreichend. [EU-Norm 1315/2013]. Reisezeitverbesserungen sollen vor allem durch flüssigeres Umsteigen und schnellstmögliche, systematische Beseitigung der vielen Langsamfahrstellen und Engstellen im Netz erreicht werden.
Mehr Resilienz im Netz und Betrieb
Der 3. Fahrplanentwurf ist großenteils „auf knappe Kante“ genäht. Das führt im praktischen Betrieb zu viel Frustrationen, weil die Fahrpläne oft nur mit wenigen Minuten Umsteigezeiten und ohne Pufferzeiten arbeiten. Pufferzeiten sind nötig, weil es im realen Betrieb vielfach zu Störungen kommt (Wartezeiten durch Signalstörungen, Bahnübergangsstörungen, Oberleitungsschäden, Zugkreuzungen, vorausfahrende langsamere Züge, Personenschäden, Extremwetterereignisse wie Stürme und Überflutungen oder Böschungsbrände). Dazu ist eine wirkungsvollere Störfall-Prophylaxe und ausreichende Fahrplanreserve notwendig. Ein resilientes Netz bietet Umfahrungs- und Gleiswechseloptionen. Ausreichend Umsteigezeiten in den Knoten werden angesichts der Alterung der Gesellschaft immer wichtiger.
00/30 Knoten durch 15/45-Knoten ergänzen
Die bisherige Fixierung auf „00/30 Knoten“ im Fahrplan erzeugt für den Streckenausbau immer wieder unverhältnismäßig hohe Streckeninvestitionen, um die letzten Minuten Beschleunigung aus den Strecken herauszuholen. Die deutsche Siedlungsstruktur ist so polyzentrisch, dass nicht immer 30-Minutenabstände zwischen den Knoten passen. Deswegen können für bestimmte Knoten auch Symmetrie-Zeiten 15/45 eingerichtet werden. Besonders in großen „Mega-Knoten“ (Metropolbahnhöfen) kann mit viertelstündlichen Knotenzeiten (00, 15, 30, 45 Uhr) eine optimale Ergänzung zu den 00/30-Knoten erreicht werden. Damit können teure Neu- und Ausbaumaßnahmen ggf. entfallen. Die Mittel sollen prioritär für den Kapazitätsausbau im Bestandsnetz (Strecken und Knoten) und für Reaktivierungen eingesetzt werden.
Leistungsfähigkeit der großen Knoten durch Sekundärknoten steigern
Ein großes Problem beim ITF ergibt sich aus der begrenzten Leistungsfähigkeit der großen Metropolbahnhöfe (Megaknoten). Sie sind oft durch die starke Belegung mit Nah- Regional-, Fern- und Güterverkehr überlastet. Bislang reagiert die Infrastrukturplanung darauf meist mit ergänzenden Tunnelprojekten, die extrem teuer und langwierig sind. Dazu gibt es zwei viel schneller nutzbare Alternativoptionen. Die Umläufe der in diesen Knoten endenden Züge sind so zu ändern, dass auf Richtungswechsel wartende Züge die Knoten nicht verstopfen. Dafür müssen die Linienenden an strategisch besser gelegene Bahnhöfe mit Kapazitätsreserven verlegt werden. Zudem müssen im Umkreis der Megaknoten weitere Sekundärknoten für ITF-Übergänge ertüchtigt werden. Typische Beispiele hierfür sind München-Pasing und München-Ostbahnhof, Hamburg-Harburg und Hamburg-Altona, Frankfurt-Flughafen-Fernbahnhof und Frankfurt-Südbahnhof oder Berlin-Südkreuz, Berlin-Ostbahnhof und Berlin-Gesundbrunnen.
Kapazitätsvernichtung durch Gleisabbau verhindern, Kapazität durch einfache Mittel erhöhen
Das Auflassen von Gleisen in großen Knoten zugunsten von Immobilien-Projekten wie z. B. in Stuttgart am Hbf (S 21) oder in Hamburg Altona, muss sofort eingestellt werden. Vorhandene Bahn-Infrastruktur ist zu erhalten bzw. wiederherzustellen. Die Kapazität der Knoten muss ggf. durch Anbau neuer Gleise und weiterer Überwerfungsbauwerke, durch Nutzung von Sekundärknoten und durch verstärkten Einsatz von Doppelstockzügen auch im Fernverkehr erweitert werden. Für Frankfurt, Stuttgart, Hamburg und München wurden von Bürgerbahn Konzepte für Kapazitätserweiterungen vorgelegt.
Breitere Beteiligung von Initiativen und Verbänden
Die ausgewiesene Expertise von „Bürgerbahn-Denkfabrik für eine starke Schiene“, ABBD (Aktions- bündnis Bahn-Bürgerinitiativen Deutschland) und weiteren regional operierenden Initiativen muss für einen konstruktiven Dialoge mit den beauftragten Gutachtern, vor allem SMA und den maßgeblichen Stellen im BMV und bei der DB sowie den Aufgabenträgern des Nahverkehrs genutzt werden. Die etablierten Verbände VCD, ProBahn und Allianz pro Schiene reichen nicht aus, um solche kreativen Alternativkonzepte einzubringen.