rail blog 320 / Frank Distel

Sehr geehrter Herr Livschütz,

dem Newsletterbeitrag, der mich als langjähriges Mitglied von Haus und Grund Stuttgart erreicht – und erschüttert – hat, muss ich grundlegend widersprechen! Die Position von Haus und Grund lässt jegliche ganzheitliche Abwägung vermissen und hat in erster Linie die Lobbyinteressen der Bauindustrie im Blick.

Meine Positionen:

  1. Beim Städtebauprojekt auf dem heutigen Gleisvorfeld wird aus schierer pekuniärer Haushaltsnotlage der Stadt niemals anteilig „bezahlbarer Wohnraum“ entstehen. Fakt ist, dass angesichts der bereits jetzt (vorsichtig!) kalkulierten 1,6 Milliarden € für die Baufeldfreimachung, Altlastenbeseitigung, Geländemodellierung sowie für die öffentliche Infrastruktur, die Preise für die Bauflächen dermaßen in die Höhe schnellen, dass für einen Quadratmeter Wohnfläche mindestens 12.000.- €, eher bis zu 14.000.- € anzusetzen sind. Der Rettungsanker der Stadt, bezahlbaren Wohnraum dennoch zu generieren, lautet Erbbaupacht. Ich frage Sie als Vertreter der Haus- und Wohnungseigentümer: wer wäre so dämlich, für eine einigermaßen familiengerechte 90- bis 100 m²- Wohnung 450.000.- € (reine Baukosten incl. Bauträgergewinn) zu investieren und zusätzlich jeden Monat zwischen 700.- und 900.- € Erbbaupacht für den Grundstücksanteil zu bezahlen? Meine Prognose: so blöd ist niemand, nur um am Ende in einer wohnqualitativ fürchterlich verdichteten Umgebung viel zu teuer zu wohnen. Die Betonwüste Europaviertel ist – weiß Gott! – schon abschreckend genug, finden Sie nicht?
  2. Eine direkte oder indirekte pekuniäre Förderung durch die Stadt für bezahlbaren Wohnraum halte ich selbst bei Bezuschussung nach dem Städtebauförderungsgesetz für haushalterisch völlig ausgeschlossen.
  3. Woher weiß die Stadt, ob sie in den 40er-Jahren bei zurückgehenden Einwohnerzahlen (vgl. Verband Region Stuttgart) die auf dem Gleisfeld angestrebte Wohnungsanzahl überhaupt noch benötigt? Es wäre stadtplanerisch viel sinnvoller, abschnittsweise andere, kleinere und viel kostengünstigere Baugebiete zu aktivieren, z.B. in Brachen oder per qualitativ verträglicher Nachverdichtung.
  4. Es dürfte auch Ihrem interessengesteuertem Blick nicht entgangen sein, dass die Rosensteinbebauung extrem stadtklimaschädlich ist, bringt sie doch den heute noch vorhandenen nächtlichen Luftaustausch mit den höchstbelasteten Innenstadtquartieren, zum Beispiel um die Neckarstraße, vollständig zum Erliegen. Das ist klimatisch verantwortungslose Stadtplanung!
  5. Zur bahnbetrieblichen Seite: es dürfte sich längst herumgesprochen haben, dass das Tief-Schief-Bahnhöfchen nicht ansatzweise für die künftige Bahnnachfrage ausreicht. Mit offenen Augen betrachtet, dürfte es völlig klar sein, dass mindestens 8 oberirdische Gleise erhalten werden MÜSSEN, um der klimatisch unausweichlichen Verkehrswende gerecht zu werden. Damit wäre im Übrigen auch die indiskutable Gäubahnunterbrechung vom Tisch!
  6. Die Stadt Stuttgart übersieht völlig, dass ein sicherer und reibungsloser Bahnbetrieb am Bahnknoten Stuttgart sowohl als weiche, wie auch als harte Standortfaktoren unverzichtbar ist.
  7. Der Stadt verbleiben schließlich die Areale C und – vielleicht bei überlegter Anpassung der städtebaulichen Planung – 1/3 der Rosensteinbebauung, die natürlich mit geeigneten Schutzmaßnahmen mit verbleibendem oberirdischen Bahnbetrieb unter einen Hut zu bringen ist. Besser wäre es aber, den gesamten Kopfbahnhof einschließlich des Abstellbahnhofs und der Panoramastrecke für die Gäubahn zu sanieren, zu modernisieren und zu digitalisieren. Ob dann ein Kombibahnhof incl. des Tief-Haltepunkts vor dem Hintergrund des völlig ungeklärten Brandschutzes in den Tunnelstrecken und des Überflutungsrisikos des Tiefbahnhofs noch sinnvoll und verantwortbar ist, anstatt die Tunnel viel besser für ein Logistikkonzept (vgl. „Umstieg 21“) zu nutzen, wäre sorgfältig zu prüfen!
  8. Geht nicht – gibt’s nicht! Es fehlt bei meinem (Ex)-Kollegen Baubürgermeister nicht am KÖNNEN, sondern am WOLLEN! Dabei bietet ihm das geänderte AEG nun endlich ohne eigenen Gesichtsverlust den Türöffner, den Gemeinderat vom Zwang eines Umdenkens zu überzeugen. Im Grunde müsste die gesamte Stadtverwaltung, vor allem die Kämmerei, erleichtert aufatmen, weil ihr ein nicht zu verantwortendes Haushaltsfiasko erspart bleibt und Türen für ganz andere Möglichkeiten eröffnet werden. 
  9. Alles zusammen kostet vielleicht die Hälfte des bahnbetrieblich unsinnigen, mindestens 2,5 Milliarden teuren Pfaffensteigtunnels. Es bedarf – ENDLICH! – eines „Zusammensetzens“ aller Projektbeteiligten und des Bundes, sich mit entnebelten Köpfen um ein neues Finanzierungskonzept zu bemühen. Ich könnte wetten, dass auch die DB AG erleichtert aufatmet, das unsinnigste Bahnprojekt deutscher Eisenbahngeschichte endlich in gute Bahnen lenken zu „dürfen“. Ebenso dürfte der Bund angesichts einer mehr als prekären Haushaltslage erleichtert aufatmen, wenn er „nur“ zu den o.a. Sanierungen und Modernisierungen beitragen würde. 2,5 bahnbetrieblich unsinnige Milliarden in zwei weitere, je 11,5 km lange Tunnelröhren auf den Fildern aufzubringen….und damit bundesweit andere, wichtigere Bahn- und Verkehrsmaßnahmen auf die lange Bank zu schieben, verbietet sich gesamtverantwortlich. Schließlich atmet auch der Flughafen Stuttgart angesichts des Corona-Einbruchs erleichtert auf, wenn ihm die Bahn seine 359 Millionen „Projektförderung“ incl. Verzinsung zurückzahlt.

Insgesamt also die Chancen des Aufatmens auf allen Seiten! Trotzdem bleiben der Stadt Bauflächen für ca. 2.500 Wohneinheiten mit deutlich weniger Aufwand für Infrastruktur und Bauvorbereitung. Wer schiebt endlich die Bretter vor den Köpfen zur Seite und öffnet die Blicke für das Richtige?

An Haus und Grund: bitte stets ganzheitlich abwägen!

Mit freundlichen Grüßen

Frank Distel,

Mitglied Nr. 991743328274

Dipl.-Ing. Frank Distel

Bürgermeister a.D.

Schifferstraße 9

78351 Bodman-Ludwigshafen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert