Das zweite Stuttgart 21 und sechs Bahninitiativen, die mit uns gegen die „Betonbahn“ kämpfen
Die Konferenz „Klima-Bahn statt Beton-Bahn“ findet ganz bewusst in der Stadt statt, in der unglaubliche Mengen an CO2-trächtigem Stahlbeton für bislang knapp 60 Kilometer an Tunnelröhren auf dem Gebiet der Stadt Stuttgart (ohne die Neubaustrecke nach Ulm) erzeugt worden sind. Das Projekt ist darüber hinaus ein noch viel größerer Skandal, weil durch die Tieferlegung des Bahnhofs eine Verkleinerung von 17 auf 8 Gleise vorgenommen wird. Die Landeshauptstadt Stuttgart bekommt damit als Hauptbahnhof einen Vorort-Bahnhof, der dem notwendigen Verkehr nie und nimmer gewachsen ist. Dem heutigen nicht und dem zukünftig zu wünschenden schon gar nicht.
Das haben die Macher des Projekts inzwischen auch erkannt und planen deshalb fieberhaft an sogenannten „Ergänzungsprojekten“. Diese so harmlos klingenden „Ergänzungen“ haben allerdings einen fast ebenso großen Umfang wie das bisherige Projekt Stuttgart 21. Zu den schon gebauten 60 Kilometer Tunnel sollen sage und schreibe weitere 47 Kilometer hinzukommen, in der Summe also die weltweit einmalige Gesamtlänge von über 100 km Tunnel – für ein einziges Bahnhofsprojekt.
Das Schlimme ist, dass diese zusätzlichen 47 Kilometer an Tunnelröhren zwar hier und da kleine Verbesserungen bringen, aber das Hauptproblem nicht lösen, nämlich dass der Tiefbahnhof zu klein ist. Der Stuttgarter Hauptbahnhof fertigt heute in der Spitzenstunde 37 Züge ab; der Tiefbahnhof bewältigt lediglich 32. Mit den Ergänzungen bohrt man die Zuläufe des Tiefbahnhofs etwas auf, kann aber nicht die Kapazität des Tiefbahnhofs erweitern. Man bekommt mit ihnen lediglich etwas mehr Flexibilität in die Enge des Tiefbahnhofs. Der Flaschenhals wird nicht weiter, wenn man einen größeren Trichter nimmt.
Was aber auf keinen Fall geht mit diesem Tiefbahnhof – ob mit oder ohne ergänzende Tunnels in den Zuläufen – ist ein Integraler Taktverkehr. Denn für die 14 Fahrtziele, die von Stuttgart aus angefahren werden müssen, sind eben auch mindestens 14 Gleise erforderlich.
Um dem abzuhelfen, hat man sich das absurdeste der Ergänzungsbauwerke ausgedacht, das man nur einem Satiriker zugetraut hätte: Man will nämlich die 16 Gleise des bestehenden Kopfbahnhofs abreißen und sechs Gleise davon anderthalb Stockwerke tiefer – als unterirdischen Kopfbahnhof – in genau der gleichen West-Ost-Lage wieder herstellen.
Das Ganze nur, damit das Haupt- und einzige Ziel des Projekts Stuttgart 21 nicht gefährdet wird: Man will, dass die oberirdischen Gleisflächen Immobilien Platz machen. Und das in einer für die Kessellage Stuttgarts hoch bedeutsamen Frischluftschneise, die mit dieser Bebauung verriegelt würde. Auch das ist ein Klima-Skandal.
Werfen wir noch einen kurzen Blick auf die beiden größten der geplanten Tunnel-Ergänzungsbauwerke. Im Süden Stuttgarts, auf der fruchtbaren sogenannten „Filder“-Ebene, war zwanzig Jahre lang geplant gewesen, die Züge von Mailand–Zürich–Singen nach Stuttgart durch die S-Bahn-Station direkt unter dem Flughafen fahren zu lassen. Bis in den dortigen Gemeinden selbst die konservativsten Kommunalpolitiker*innen aufwachten und merkten, dass durch den Mischverkehr von Fernzügen und S-Bahnen für alle Zukunft ÖPNV-Erweiterungen verunmöglicht würden. Deshalb will man nun einen elf Kilometer langen zweiröhrigen Tunnel fast von Böblingen bis unter die beim Flughafen gelegene Messe bauen. Das brächte etwa drei Minuten Fahrzeitgewinn, angeblich, um den Deutschland-Takt zu optimieren. Um nicht zugeben zu müssen, dass dieser Tunnel wegen der S21-Fehlplanung gebaut werden soll, soll er nicht aus dem S21-Budget, sondern direkt vom Bund finanziert werden.
So schnell wie dieser „Pfaffensteigtunnel“ im vorrangigen Bedarf des Bundesverkehrswegeplans gelandet ist, ist in der ganzen Republik-Geschichte noch nicht einmal eine Autobahn dort aufgenommen worden. Es eilt halt. Und ganz nebenbei kann man testen, wie schnell man Projekte umsetzen kann – vorbei an demokratischen Gremien und Einsprüchen von Verbänden. Scheuers Projekt-Beschleunigungs-Gesetz lässt grüßen.
Mit dem zweiten großen Tunnel-Projekt soll die Strecke Mannheim–Stuttgart um acht Minuten verkürzt werden – auf 31 Minuten, also für einen Integralen Taktfahrplan nicht brauchbar.
Noch drei letzte Stichpunkte dazu:
Erstens: Die Kosten für die geplanten „Ergänzungsprojekte“ betragen noch einmal mehr als die Hälfte des immer teurer gewordenen Projekts S21, nämlich mindestens 5,5 Milliarden, die dann bundesweit für wirklich nützliche Ausbaumaßnahmen fehlen.
Zweitens: Die Bauzeit für diese Projekte wird 10 bis 12 Jahre sein – Zeit, die wir angesichts der sich aufbauenden Klima-Katastrophe einfach nicht haben.
Drittens: Unser Ziel als S21-Bewegung ist nicht, die bereits gebauten Tunnels zuzuschütten, nachdem wir den Kopfbahnhof wiederhergestellt und modernisiert haben. Sondern wir schlagen mit unserem Konzept Umstieg 21 vor, die Tunnels für ein vollautomatisches City-Logistik-System zu nutzen, das die gesamten Waren zwischen Peripherie und Zentrum befördert und so zusätzlich die Straßen von Lieferverkehr befreit.
Dafür kämpfen wir. Dafür wollen wir „oben bleiben“.
Sechs Bahn-Initiativen
Wir haben hier in Stuttgart unter anderem die Parole: „Stuttgart 21 ist überall“. Damit meinen wir zum einen, dass Stuttgart 21 „überall“ zu spüren ist, Auswirkungen hat auf den gesamten bundesdeutschen Bahnverkehr. Zum anderen meinen wir damit: Ähnlich unsinnige und zerstörerische Projekte wie Stuttgart 21 gibt es „überall“. Wir könnten uns während dieser Tagung viele solcher Projekte ansehen. Hier seien sechs relativ willkürlich ausgewählte vorgestellt.
Allianz gegen eine feste Fehmarnbelt-Querung
Ganz im Norden haben wir die Allianz gegen eine feste Fehmarnbelt-Querung, unter deren Dach 12 Bürger-Inis aktiv sind.
Eine davon, das Aktionsbündnis gegen eine feste Fehmarnbelt-Querung e.V. ist für die juristischen Schritte von Bedeutung, weil es als anerkannter Umweltverband klageberechtigt ist. Das Projekt, gegen das sich die Allianz richtet, ist eine dänisch-deutsche Hochgeschwindigkeits- und Güterzug-Trasse. Sie besteht aus 18 km Unterwasser-Tunnel durch die Ostsee. Auf dänischer und deutscher Seite sind gigantische Maßnahmen zur „Hinterlandsanbindung“ geplant, die sich in Deutschland bis zum über 100 km entfernten Hamburg auswirken. Der Tunnel ist seit Anfang 2021 im Bau.
Die Hauptauswirkungen dieses Riesen-Bauwerks sind einerseits durch die Bautätigkeit angerichtete ökologische Schäden an der Ostsee. Andererseits würden täglich 78 Güterzüge mit einer Länge von je mehr als 800 Metern und mindestens 9500 Kraftfahrzeuge allein schon durch die Lärmemissionen den Tourismus auf Fehmarn gefährden, der 80 Prozent der Einnahmen der Insel ausmacht.
Prellbock Altona e.V.
In Hamburg soll der Bahnhof Altona ins zwei Kilometer nördlich gelegene Diebsteich verlegt werden. Kleine Ursache, große Wirkung: Ähnlich wie in Stuttgart, soll damit ein bestens funktionierender Bahnhof der Gewinnung eines neuen Stadtviertels Platz machen und dadurch massiv an Funktionalität und Bedeutung verlieren. Und ähnlich wie in Stuttgart gibt es hervorragende alternative Konzepte, um den schon jetzt guten Bahnhof noch zu modernisieren und zu verbessern.
Seit sieben Jahren arbeitet deshalb die Initiative Prellbock Altona e.V. daran, dieses Projekt zu verhindern, dessen Bau vor einem knappen Jahr begonnen wurde.
Pro Ausbau – Bahnfreunde aus dem Landkreis Schaumburg
In Auetal zwischen Hannover und Bielefeld hat die Initiative Pro Ausbau – Bahnfreunde aus dem Landkreis Schaumburg ihren Sitz. Es gibt sie seit zwei Jahren. Seit drei Jahren sind die Freundinnen und Freunde aktiv gegen einen völlig überzogenen Ausbau der Strecke Hannover–Bielefeld.
Die bisherige Fahrzeit von 48 Minuten soll mit riesigem Bauaufwand auf 31 Minuten reduziert werden. Ohne in die Details eines sinnvollen Integralen Taktverkehrs zu gehen: 31 Minuten Fahrzeit zwischen zwei Knoten ist Quatsch, und nur wenn dieser Quatsch zwischen den nächsten Knoten wiederholt wird, kommt wieder eine sinnvolle Fahrzeit heraus. Die Bahn plant deshalb auch auf weiteren Strecken sündhaft teure Fahrzeitverkürzungen, damit am Ende doch noch in Hannover ein funktionierender ITF entsteht.
Das geht für weniger Umwelt- und finanzielle Kosten und führt zu besseren Anschlüssen, sagt die Ini, wenn man eine maßvolle Reduzierung auf lediglich 41 Minuten plant und dafür in Hannover eine sogenannte „gedrehte Windmühle“ vorsieht, eine Kombination eines 00/30-Minuten-Knotens mit einem 15/45-Minuten-Knoten.
Frankfurt22
Auch in Frankfurt/Main wird Großes geplant: Bereits in den 90-er-Jahren versuchte die Bahn in Frankfurt ein ähnliches Projekt wie Stuttgart 21 umzusetzen; aber die Stadt lehnte dankend ab. Aus dieser Zeit stammt die Initiative, die sich jetzt „Frankfurt22“ nennt.
Sie wendet sich gegen neue Pläne der Bahn, einen Tunnel unter dem bestehenden Kopfbahnhof zu bauen, der ihn allerdings nicht, wie in Stuttgart ersetzen, sondern ergänzen soll.
Dass der Frankfurter Bahnhof überlastet ist, bestreitet niemand. Allerdings setzt sich die Ini dafür ein, dass das Problem durch eine Verbesserung der oberirdischen Zulaufgleise und den Ausbau des Südbahnhofs mit viel weniger CO2-Aufwand und kostengünstiger gelöst wird.
Bürger-Initiative „Schwaben-Trasse e.V.
Zwischen Ulm und Augsburg will die Bahn die Fahrzeit von 40 auf 26 Minuten drücken, indem sie die Strecke für eine Fahrgeschwindigkeit von 300 Stundenkilometer völlig neu baut. Gleichzeitig soll damit die Strecke durch Überholbahnhöfe Güterzug-tauglich werden und der Nahverkehr verbessert werden.
Die „bischt“, die „Bürger-Initiative Schwaben-Trasse e.V.“ hält dagegen: Die ökologischen Kosten sind für diese Ziele viel zu hoch, und sie schlägt eine Alternative vor: nämlich, dass nur etwa ein Viertel der Strecke neu- und der Rest lediglich ausgebaut wird.
Und sie wenden sich gegen einen Deutschland-Takt, der nur mit derart gigantischen Geschwindigkeiten funktioniert.
Brennerdialog.de
Wir sind ganz im Süden Deutschlands angekommen. Dort soll die Strecke zwischen München und dem geplanten Brenner-Basis-Tunnel als Zulaufstrecke für Geschwindigkeiten bis 230 Stundenkilometer ausgebaut werden. Die Initiative „Brennerdialog.de“ ist dagegen seit 2016 aktiv.
Sie argumentiert: Dieses Projekt sei nicht nur – mit nach aktuellen Hochrechnungen 10 Mrd. an Kosten – viel zu teuer, sondern auch überhaupt nicht nötig, um die nötige Leistungsfähigkeit der Strecke herzustellen.
Mit ETCS – das ja auf geraden, Weichen-armen Strecken wirklich Vorteile bringt –, der Begradigung einiger Kurvenradien und einigen Ortschafts-Umfahrungen wegen des dann vermehrten Güterverkehrs werde mit viel weniger – auch ökologischen – Kosten das Ziel der Kapazitätssteigerung viel sinnvoller erreicht.
So unterschiedlich die Projekte sind und die Initiativen dagegen sich vor Ort darstellen, so augenfällig sind doch einige strukturelle Parallelen:
Geldsack
Es geht immer um Milliarden: Allein bei den hier vorgestellten sechs Projekten um runde 40 Milliarden. Zum Beispiel beim Brennerzulauf hat die Bahn von fünf Varianten die mit den längsten Tunneln und den kompliziertesten Bauanforderungen ausgewählt. Das scheint System zu haben, dass die Bahn als Goldesel genutzt wird und sich anbietet, um möglichst umfangreiche Bauaufträge zu generieren. Auffällig ist auch, wie Politik und Bahn dabei einander jeweils die Verantwortung zuschieben und faktisch Hand in Hand arbeiten, wenn es darum geht, Großaufträge gegenüber der Bevölkerung zu legitimieren.
Um Großprojekte durchzusetzen, war bislang das Hauptargument, bestimmte Bahnhöfe oder Strecken hätten ihre Belastungsgrenze erreicht oder seien hoffnungslos veraltet. Seit etlichen Jahren sind auch Umweltargumente hinzugekommen: Bahn müsse zum Flugverkehr konkurrenzfähig sein, man müsse Güterverkehr von der Straße auf die Schiene verlagern oder die Bevölkerung vor Lärm schützen – oder auch einfach dem wachsenden Güterverkehr gewachsen sein. Zu diesen Durchsetzungs-Legenden ist in letzter Zeit eine neue hinzugekommen: der Deutschland-Takt. Ob’s passt oder nicht, die angenommenen Knotenzeiten notwendig sind oder nicht – Hauptsache das allgemein zustimmungsfähige Argument: Wir streben doch modernen klimaschonenden Taktverkehr an.
Fast durchgängig stellt sich auch die lokale und Landespolitik hinter die Pläne von Bund und Bahn oder lässt sich durch verwirrende Alternativ-Planungen spalten. Und die Medien sind zumeist Sprachrohr der Politik, übernehmen die PR der Bahn wörtlich, aber berichten über Pressemitteilungen der Kritiker nur im Konjunktiv.
Bürgerbeteiligung ist in aller Regel nur Pflichtübung oder eine Einbahnstraße, bei der nicht wirklich nach Alternativen gesucht wird, sondern die Bevölkerung ruhiggestellt und ihre Zustimmung erzeugt werden soll.
Was sich auf Seiten der Bürgerinitiativen durchgehend zeigt, sind nicht nur hoher Sachverstand, sondern immer auch konstruktive Alternativ-Vorschläge. Ein unglaubliches Potenzial, das sich da bundesweit zu Hunderten ehrenamtlich engagiert und unglaublich viel Energie und Zeit aufwendet. Wunderbar, dass wir heute viele Vertreterinnen und Vertreter dieser bundesweiten Bewegung – leibhaftig oder mit vorbereitend – hier versammeln konnten. Und wunderbar, dass wir alle hier nun auf dieser Konferenz miteinander ins Gespräch kommen!