rail blog 314 / Joachim Holstein

Nachhaltigkeit und Vergleiche

Bei Fußball-Weltmeisterschaften ist es zu einem schlechten Running Gag geworden: der jeweils amtierende FIFA-Präsident erklärt das jeweils gerade beendete Turnier zur »besten WM aller Zeiten«, egal wo es stattgefunden hat und egal was los war. Katar 2022 war also besser als Russland 2018 und das wiederum besser als Brasilien 2014, was aber immer noch besser war als Südafrika 2010, und das war natürlich besser als das »Sommermärchen« 2006.

Das hätte sich Konstantin Wecker nicht besser ausdenken können, der in »Habemus papam« sarkastisch textete:

Der neue Papst ist besser, ja: besser als der alte Papst.
Jeder neue Papst ist besser.

Nun wurde uns für 2024 die »nachhaltigste Europameisterschaft aller Zeiten« versprochen. Ein großer Anspruch, denn zur Geschichte der EM-Turniere gehört auch das erste Turnier von 1960, an dem lediglich 17 Verbände teilnehmen wollten – nach nur 28 Spielen (24 in der Qualifikation, 4 in der Endrunde) stand der Europameister fest.

2024 brauchte man bei 53 Verbänden dafür 290 Spiele, nämlich 239 in der Qualifikation und 51 in der Endrunde.

Da vergleichen DFB und UEFA also nicht Äpfel mit Birnen, sondern Erdbeeren mit Wassermelonen.

Ernsthafte Vergleiche kann man erst seit 1980 ziehen, als nicht mehr einer der vier Halbfinalisten zum Gastgeber des »Final Four« bestimmt wurde, sondern erstmals vorab ein Ausrichter festgelegt wurde und die 8 (1980-1992), 16 (1996-2012) bzw. 24 Teilnehmer (seit 2016) in Vierergruppen antraten, bevor die jeweils Ersten und Zweiten und neuerdings auch einige der Dritten im KO-System weitermachten. Und hier kam somit der Transport zwischen den Spielorten als Umweltfaktor Nummer 1 ins Spiel.

1980 bildete Italien mit Mailand/Turin und Rom/Neapel zwei regionale Cluster, zwang aber die Teilnehmer, den dritten Gruppenspieltag im anderen Cluster auszutragen, was sicherlich dadurch bedingt war, dass die italienische Mannschaft in drei verschiedenen Städten antreten sollte, um möglichst keine zu bevorzugen.

1984 scheuchte Frankreich alle Mannschaften und alle Fans zwischen drei Städten hin und her – so mussten beispielsweise die Portugiesen von Strasbourg erst nach Marseille und dann nach Nantes.

1988 machte die BRD es im Prinzip genauso: niemand durfte drei Vorrundenspiele am selben Ort austragen. Ungerechtigkeiten nahm man dabei in Kauf: die Niederlande hatten eine Vorrunde der kurzen Wege vor der eigenen Haustür in Köln, Düsseldorf und Gelsenkirchen, während Spanien von Hannover erst nach Frankfurt und dann nach München musste.

Schweden halbierte 1992 gegenüber 1988 die Zahl der Städte und verringerte die Wege deutlich: der Gastgeber spielte drei Mal vor den Toren Stockholms, die anderen drei Spiele derselben Gruppe fanden in Malmö statt, wo Dänemark zwei Mal antreten durfte. Die zweite Gruppe traf sich in Göteborg und Norrköping – mit drei Spielen in Göteborg hatten die Niederlande erneut das Privileg der kürzesten Wege, zumal sie das Halbfinale am selben Ort austragen durften; hätten sie das Finale erreicht, hätten sie sogar alle fünf Spiele am selben Ort ausgetragen.

1996 kam der Fußball heim, und England setzte bei jetzt 16 Teilnehmern das Prinzip der kurzen Wege fort, das schon bei der WM 1966 praktiziert worden war: London und Birmingham (natürlich spielte England drei Mal in Wembley und hätte bis zum Finale sechs Mal in Wembley spielen dürfen), Leeds (Spanien 3x) und Newcastle, Manchester (Deutschland 3x) und Liverpool sowie Sheffield (Dänemark 3x) und Nottingham waren die Vorrunden-Cluster – da konnte man als Fan zum nächsten Spiel fast schon laufen.

2000 fand die erste EM statt, die in zwei Ländern ausgetragen wurde: in Belgien und den Niederlanden. Im Railblog 24 schrieb ich über dieses Turnier, an dem Norwegen, Schweden und Dänemark teilnahmen und bei dem viele Fans mit Interrail-Tickets anreisten und zwischen den Spielen heimfuhren: Schweden spielte in Brüssel und zweimal in Eindhoven, Dänemark in Brügge, Rotterdam und Lüttich, Norwegen in Rotterdam, Lüttich und Arnheim. In jeder Gruppe fanden drei Spiele in den Niederlanden und drei in Belgien statt – angesichts der geringen Entfernungen und des dichten Bahnnetzes mit Regionalzügen problemlos machbar.

Portugal setzte 2004 nur teilweise auf regionale Cluster, obwohl es angesichts von 5 Stadien im Großraum Porto möglich gewesen wäre, dort mindestens zwei Vorrundengruppen komplett anzusiedeln. Stattdessen zwang man Spanien zum Maximaltrip Algarve – Porto – Lissabon, und in zwei Gruppen wurde jeweils neben fünf Partien im Norden eine in Lissabon ausgetragen.

2008 gab es mit der Schweiz und Österreich wieder zwei – kleine – Veranstalterländer. Diese verfügten über hervorragende Eisenbahnnetze und entschieden sich für kurze Wege: Basel und Genf, Zürich und Bern, Innsbruck und Salzburg sowie Wien und Klagenfurt lauteten die Vorrunden-Paare, wobei die Schweiz (in Basel), die Niederlande (in Bern), Österreich (in Wien) und Griechenland (in Salzburg) alle drei Spiele am selben Ort bestreiten durften.

2012 machten es Polen und die Ukraine genauso; hier waren Warszawa/Wroclaw, Gdansk/Poznan, Lwiw/Charkiw sowie Kiew/Donezk die Vorrunden-Paare, wobei Tschechien (in Wroclaw), Spanien (in Gdansk), die Niederlande (in Charkiw) und Schweden (in Kiew) in der Vorrunde nicht reisen mussten. Vermutlich hatten die Veranstalter darauf spekuliert, in ihren Vorrundengruppen jeweils Zweiter zu werden – dann hätten sie das Viertel- und das Halbfinale im eigenen Land spielen können.

2016 wurde die EM auf 24 Mannschaften aufgestockt, es gab in Frankreich somit sechs Vorrundengruppen mit 48 Spielen in zehn verschiedenen Stadien. Zwar lagen mit Lens und Lille, Paris und Saint-Denis, Lyon und St-Étienne, Bordeaux und Toulouse sowie Marseille und Nizza jeweils zwei Stadien relativ dicht beieinander, aber bei diesem Turnier strengte man sich an, die Reisestrapazen für Teams und Fans zu maximieren. In allen Vorrundengruppen fanden die sechs Spiele an sechs verschiedenen Orten statt, sodass alle Teilnehmer an drei verschiedenen Orten spielen mussten, Frankreich nacheinander in Saint-Denis vor den Toren von Paris, Marseille und Lille. Russland und Wales bestritten ihr jeweils erstes Spiel im tiefen Süden, ihr jeweils zweites Spiel im hohen Norden und trafen im dritten Spiel in Toulouse aufeinander. Die Türkei wurde von Paris erst nach Nizza und dann nach Lens an der belgischen Grenze beordert, ähnlich traf es Irland. Dieses Turnier war somit wie schon 1984 der Gegenentwurf zu »bequem und umweltfreundlich«, selbst wenn man einige der Strecken mit dem TGV oder mit Intercités hätte zurücklegen können.

Die Euro 2020 nahm eine Ausnahmestellung ein: 60 Jahre UEFA sollten gefeiert werden, indem die Vorrunde, das Achtel- und das Viertelfinale in 12 verschiedenen Ländern und die beiden Halbfinals und das Endspiel in einem 13. Land ausgetragen werden sollten. Auf die Frage, wie die Fans eigentlich dann zu den Spielen ihrer Teams kommen sollten, antwortete UEFA-Chef Michel Platini: »Es gibt doch Billigflieger!« Corona sorgte nicht nur für eine Verschiebung um ein Jahr auf 2021, sondern auch für leichte Änderungen der Orte. Die Vorrunden-Paare lauteten: London und Glasgow, München und Budapest, Amsterdam und Bukarest, Kopenhagen und St. Petersburg, Sevilla und St. Petersburg (als Ersatz für Bilbao und Dublin) sowie Rom und Baku. Ich hatte damals nachgerechnet: nur in den ersten beiden Fällen wäre es überhaupt möglich gewesen, mit der Bahn rechtzeitig von Spielort zu Spielort zu kommen.

Die Euro 2024 war damit also die erste »normale« Europameisterschaft nach zwei »Turnieren aus der Hölle«, was Umweltbelastung und Zeitverschwendung durch Reisestrapazen betrifft. Wenn die Zeitrechnung von DFB und UEFA erst 2016 beginnt, dann – und nur dann – mögen sie Recht haben mit der »nachhaltigsten Europameisterschaft«.

Man kann gespannt sein, wie das Verkehrskonzept für die EM 2028 aussehen wird, denn die hat gleich fünf Verbände als Ausrichter. Kleine Entwarnung: es handelt sich um die vier britischen Verbände plus Irland. Und von Liverpool nach Dublin oder Belfast kommt man wahrscheinlich sowieso am besten mit der Fähre.

Am Horizont lauert dann schon die EM 2032, die in Italien und der Türkei ausgetragen wird; die beiden Staaten liegen nach UEFA-Definition »nahe beieinander«, was eine Voraussetzung für die gemeinsame Bewerbung war. Man kann da nur an die Luftlinie gedacht haben (Minimum 650 km, Rom-Istanbul 1.380 km, Turin-Trabzon 2.630 km). Per Bahn oder Auto wird man es nicht schaffen, zu den Spielen im anderen Land zu kommen. Darf man auf die Vernunft hoffen, Vorrundengruppen und die Achtelfinalpartien der Gruppenersten- und zweiten jeweils im selben Land auszutragen? Dann werden die Eisenbahnen (und Busunternehmen) der beiden Länder zeigen dürfen, was sie leisten können.

Über Joachim Holstein

(*1960) arbeitete von 1996 bis 2017 als Steward in Nacht- und Autozügen der DB, war von 2006 bis zur Einstellung dieser Verkehre Betriebsrat der DB European Railservice GmbH und zuletzt Sprecher des Wirtschaftsausschusses. Mitbegründer der Initiative zur Rettung des Nachtzuges Hamburg-Paris (2008; »Wir wollen nach Paris und nicht an die Börse«) und des europäischen Netzwerks für Nachtzüge »Back on Track« (2015; https://back-on-track.eu/de/); Weiteres unter www.nachtzug-bleibt.eu

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