Der Nachtzug – ein Sommernachtsmärchen
2006 präsentierte sich die DB stolz als »Carrier« der Fußball-WM und hatte ihre gesamte Fernverkehrsflotte mobilisiert, damit »die Welt zu Gast bei Freunden« sein konnte. Die gesamte Fernverkehrsflotte? Nein – die Nachtzüge wurden fein säuberlich von den Werbekampagne ausgenommen. Wir bekamen nichts: keine Fanartikel, keine Stadtpläne, keine kleinen Aufmerksamkeiten, kein zusätzliches Personal, nicht mal zusätzliche Biervorräte.
Den Beginn des Sommermärchens, das 4:2 gegen Costa Rica, erlebten wir im Hotel in Paris. Danach trafen wir am Bahnsteig auf ein Fahnenmeer und singende Fans: Am nächsten Tag spielten in Hamburg Argentinien und Côte d’Ivoire, in Frankfurt England und Paraguay, ein Tag später war Mexiko dran, danach folgten noch Brasilien, Ghana, Frankreich sowie Trinidad und Tobago.
Entsprechend sah der Zug aus. Von 36 Betten im Schlafwagen waren 33 von argentinischen Fans gebucht, die nach meiner viersprachigen Bordansage sofort wissen wollten, an welchem der vier Hamburger Bahnhöfe sie aussteigen müssten, um zum Hotel oder zur Reeperbahn zu kommen. Im Bistro gaben afrikanische Trommeln den Takt für lateinamerikanische Gesänge vor, und wir vier von der DB European Railservice berieten, wie wir mit den schwindenden Biervorräten und dem unrealistischen Schichtablaufplan umgehen sollten: Denn um Mitternacht das Bistro zumachen – also um 19 Uhr argentinischer bzw. 16 Uhr mexikanischer Zeit – das ging gar nicht!
Nur die Zugführerin musste den Plan akribisch einhalten, damit sie uns von Aachen bis Hamburg bringen konnte. Der Kollege vom Bistro strich das Frühstück, um bis hinter Dortmund zu arbeiten. Die Schaffnerin passte ihre Zeiten auch an. Und ich sagte grinsend: »Ich nehme jetzt meine vorgeschriebene Arbeitsschutzpause, danach darf ich sechs Stunden durcharbeiten.« Für die Pause zog ich mir ein Trikot des FC St. Pauli über, das ich nach fünf Minuten schon wieder loswurde: »Willst Du Riquelme? Willst Du Heinze? Willst Du Messi?« waren die Tauschangebote. Nur Heinze passte.
Die in Brüssel zusteigenden Engländer machten keinen Trouble, sondern Party, sodass wir den Zug in Lüttich so lange stehenlassen mussten, bis wir im Spätverkauf noch ein paar Paletten Dosenbier ergattert hatten.
Vor der Ankunft in Hamburg schickte ich nach der üblichen Verabschiedung noch einen speziellen Gruß an die argentinischen Fans über die Bordlautsprecher: die legendäre Kommentierung von Maradonas »Tor des Jahrhunderts« bei der WM 1986 durch Víctor Hugo Morales:
Argentinien gewann am Abend 2:1 – und wir bekamen noch am selben Tag die Zusage der Firma, dass das Personal und die Getränkevorräte aufgestockt würden.