Großer Bahnhof in Berlin
Rede von Michael Becker, Kernen 21, auf der 655. Montagsdemo am 3.4.2023
Während ein König am Brandenburger Tor der Menge zuwinkte, tagte der Aufsichtsrat der Deutschen Bahn pompös und gut abgeschirmt hinter meterhohen Zäunen im Kaiserbahnhof in Potsdam, am Rande vom Park Sanssouci. Wir standen davor und haben gegen das Großprojekt Stuttgart 21 protestiert. Die Resonanz der Presse auf diese Sitzung war gleich Null: vermutlich wissen die Medien inzwischen, dass dieses Kontrollorgan eine reine Alibi-Veranstaltung ist, und die politischen Weichenstellungen längst unter den verschiedenen Lobbygruppen im Vorfeld abgesprochen wurden. So muss sich dann die Bahn tatsächlich auch keine Sorgen machen.
Nahezu zeitgleich wurde im Haus des deutschen Beamtenbundes der Alternative Geschäftsbericht der Deutschen Bahn von „Bürgerbahn – Denkfabrik für eine starke Schiene“ vorgestellt. Dieser Bericht legt nicht nur schonungslos die Fehlentwicklung der Bahn AG offen, sondern zeigt auch ganz konkret, welche Schritte nötig und möglich sind, um die Bahn wieder richtig aufzugleisen. Den Bericht können Sie auf buergerbahn-denkfabrik.org herunterladen – sehr empfehlenswert!
Diesen Bericht muss auch das heute-journal gelesen haben: In der Sendung vom 30.03.23 prangert der Sender direkt aus dem Frankfurter Börsensaal die ruinöse Investitionspolitik der Bahn an. So habe fragwürdige Prestigeprojekte wie Stuttgart 21 Unsummen verschlungen und falsche Anreize die Instandhaltung des Schienennetzes verhindert – Reparaturen zahlt die Bahn, Generalsanierung der Bund.
Am Vorabend hat unsere Stuttgarter Gruppe den Berliner Schwabenstreich „Wir pfeifen auf Stuttgart 21, baut was gescheids“ am Potsdamer Platz vor dem DB-Tower unterstützt. Da das Gebäude ja schon über zwanzig Jahre alt ist, muss es für 200 Millionen Euro kernsaniert werden – alle 800 Mitarbeiter sind für mindestens zwei Jahre in andere Gebäudeteile des Sony-Centers verlegt worden.
Ähnlich wie der DB-Konzernzentrale ergeht es der Eisenbahnbrücke über den Humboldthafen am Berliner Hauptbahnhof: wegen Schäden am Betontragwerk musste schon eine Stützkonstruktion eingezogen werden, um den Betrieb des Schienenverkehrs aufrecht erhalten zu können. Der Weiterbau der Nord-Süd S-Bahn mit dem komischen Namen S21 ist bis zur vollständigen Klärung der Schäden erstmal auf Eis gelegt, die Brücke ist ja auch schon zwanzig Jahre alt! Ich fürchte, die Filztalbrücke wird bis zur ersten Betonsanierung keine zwei Dekaden erreichen.
Am Donnerstag dann die Bilanzpressekonferenz der Bahn – wie schon in Coronazeiten nur virtuell – kann ich gut verstehen, so lassen sich die lästigen Fragen von Journalisten viel leichter verhindern. Als ich dann die Überschrift der Pressemitteilung und das Gesicht von Bahnchef Lutz dazu gesehen habe,
habe ich mich gefragt, ob in Berlin die Cannabis-Freigabe nicht schon klammheimlich erfolgt ist. Ungedopt kann man so ein Zahlenwerk nicht präsentieren: „Bilanzpressekonferenz 2023, Kunden kommen nach Pandemie wieder zurück, mit Rekordumsatz wieder schwarze Zahlen. Konzern erreicht operatives Ergebnis von knapp 1,3 Milliarden Euro.“
Nüchtern betrachtet ist festzuhalten: Nur durch das Rekordergebnis der schienenfremden DB-Schenker-Tochter kam Geld in die Kasse, auf der deutschen Schiene wurde mit Personen und Güterverkehr ein dickes Minus produziert. Ganz nebenbei hat der Konzern noch 16 Milliarden vom Steuerzahler erhalten. Herrn Lutz selbst muss das alles nicht stören, er hat seine persönlichen Ziele erreicht und bekommt zu seinem Gehalt – was schon dem 40-fachen einer durchschnittlichen DB-Angestellten entspricht – noch einmal 1,3 Millionen Boni obendrauf.
Gute Voraussetzungen für die aktuellen Tarifverhandlungen von EVG und GDL im Herbst: angesichts solch glänzender Ergebnisse dürfen Lohnerhöhungsforderungen von 100% nicht mehr als unverschämt abgetan werden.
Unverschämt allerdings sind die geplanten Streckensperrungen rund um Stuttgart in nächster Zeit aufgrund des planlosen und überhasteten Vorhabens der Bahn, das digitale Zugleitsystem ETCS (European Train Control System) ins Gleisbett zu bringen. Gegen die kommende Sperrung der Gleise hat sich nun das aus verschiedenen Umwelt- und Verkehrsaktivistinnen, Gruppen und Vereinen bestehende „Bündnis gegen die Streckensperrungen zwischen Waiblingen und Cannstatt“ gegründet. Dieses ruft am Freitag den 14. April um 18 Uhr zu einer Demonstration vor dem Hauptbahnhof auf. Das Motto: „Sofortiger Stopp der Sperrungspläne! keine Totalsperrung zwischen Waiblingen und Cannstatt!“
Eine gute Gelegenheit, den AutofahrerInnen der Stadt schon mal zu vermitteln, wie das ist, wenn einem der Verkehrsweg zur Arbeit und zurück versperrt wird, bietet sich beim vorgelagerten Fahrradkorso. Dieser beginnt um 16:45 Uhr zur besten Feierabendzeit am Bahnhof in Cannstatt und führt zum Hauptbahnhof.
Dort lassen sich dann auch gleich weitere Störungen im Betriebsablauf besichtigen, die Stuttgart 21 – die Mutter aller Streckensperrungen – verursacht. Seit Jahren ist die Stadtbahn unterbrochen, und statt dem direkten Zugang zu den Gleisen führt ein so langer Bogen, dass er im Volksmund inzwischen Fernwanderweg genannt wird.
Unter den vielen Streckensperrungen, die Stuttgart 21 verursachen wird, bin ich auch auf eine für den Kannibalen S21 ganz symptomatische gestoßen: Auf der Strecke über Tübingen bis Aulendorf fährt bisher der IRE 6, diesel-getrieben. Im Tiefbahnhof wird er nicht mehr fahren können, also sollte die Strecke zumindest bis Sigmaringen zur Tiefbahnhof-Eröffnung elektrifiziert werden. Nach aktuellen – ob man das überhaupt Planungen nennen kann, wird dies frühestens bis 2032 erfolgen und soll mindestens 200 Millionen Euro kosten. Geld, das leider in die falschen Kelche gegossen wurde und nun nicht mehr zur Verfügung steht.
Wollen wir also dauerhaft Streckensperrungen verhindern, müssen wir dafür sorgen, dass der Elefant S21 nicht weiter auf der Bahninfrastruktur herumtrampelt und wir weiter „Oben Bleiben“!