Der neue Geschäftsbericht der Deutschen Bahn AG

Oder: Die Misere der Bahn wird schöngeredet

Winfried Wolf

31. März 2023 (Gespiegelt aus „Nachdenkseiten„)

Von der Bilanzpressekonferenz der Deutschen Bahn AG am 30. März gingen drei Botschaften aus: Erstens, die Lage ist schwierig, doch wir sind auf dem guten Weg aus dem Tal der Tränen heraus. So gab es im vergangenen Jahr einen operativen Gewinn (EBIT) bzw. nach Steuern und Zinsen einen überschaubar kleinen Verlust. Zweitens. Im laufenden Jahr wird es einen Rekord von 155 Millionen Fahrgästen geben. Daran zeige sich, so Bahnchef Richard Lutz, dass „klimafreundliche Mobilität boomt“. Drittens. Wir haben ein Mittel gefunden, wie wir die Problematik der unzureichenden Infrastruktur in den Griff bekommen und dieses Mittel heißt „Generalsanierung“. Damit beginnen wir 2024 – bis 2030 wird die DB-Kundschaft über ein ausgezeichnetes „Hochleistungsnetz“ verfügen. Von Winfried Wolf.


Zum weitgehend gleichen Zeitpunkt wurden die Ergebnisse der ampel-internen Klärungsgespräche bekanntgegeben. Danach sollen der Schiene zusätzliche 45 Milliarden Euro zufließen.

Den verhalten positiven Wertungen der DB-Bilanz 2022 und der Ergebnisse der Koalitionsgespräche in Sachen Schiene fehlt die Substanz.

Ganz allgemein setzt man inzwischen beim Thema Bahn auf einen Gewohnheitseffekt: Den immer mehr tiefroten Zahlen und den ernüchternden Fakten werden immer wieder aufs Neue vage Versprechungen und Zukunftsprojekte gegenübergestellt. Das allgemeine Publikum ermüdet; die Bahnfahrgäste selbst – und erst recht die Bahnbeschäftigten – sind völlig frustriert. Und gerade dieser Mix ist brandgefährlich für die Zukunft der Schiene.

Die Lage

Der Bundesrechnungshof hat nur zwei Wochen vor der Bilanzpressekonferenz der DB ein 33-seitiges Papier zur „Dauerkrise der Deutschen Bahn AG“ veröffentlicht. In diesem steht, mit Daten und Fakten gut unterlegt: „Die DB AG ist ein Sanierungsfall … Die Konzernstrategie ´Starke Schiene´ ist eine weitgehend wirkungslose Worthülse… Die DB AG hat sich in den letzten Jahren kontinuierlich weiter verschuldet… Die Verschuldungskennzahl Nettofinanzschulden ist auf über 30 Milliarden Euro gestiegen, bei Berücksichtigung der Hybridanleihen auf über 32 Milliarden Euro… Die DB AG entwickelt sich zu einem Fass ohne Boden.“[1]

Eine derart vernichtende Bilanz am Bahnkonzern von offizieller, staatsnaher Seite gab es noch nie. Doch es interessiert sich dafür niemand – nicht der Bahnchef, nicht der Verkehrsminister, nicht die Ampel, nicht Verbände wie „Allianz pro Schiene“ – sie alle ignorieren diese, leider allzu gut dokumentierte Negativ-Bilanz.

Halten wir fest: Die Eisenbahn in Deutschland genoss mehr als 100 Jahre lang ein hohes Ansehen. Dutzende Wortbildungen – so gut wie immer positiv konnotiert – gingen in die deutsche Sprache ein. Einige von ihnen – etwa „Pünktlich wie die Eisenbahn“ – wirken aus naheliegenden Gründen reichlich anachronistisch. Dieses hohe Ansehen der Bahn existierte weitgehend noch Anfang der 1990er Jahre und 1994, mit der Vereinigung von Bundesbahn und Reichsbahn. Das erklärt auch, warum die Bahnreform im Dezember 1993 im Bundestag mit mehr als 90 Prozent der Stimmen (und mit vergleichbar großer Mehrheit im Bundesrat) angenommen wurde und warum es damals einen gewissen Enthusiasmus angesichts des Neuanfangs gab.

Inzwischen ist das Ansehen der Bahn auf einem Tiefpunkt angelangt. Dazu hat auch die Bilanz des Jahres 2022 beigetragen – mit dem Rekordwert von nur noch rund 62 Prozent Pünktlichkeit – wobei die im Jahr rund 100.000 komplett ausgefallenen Züge noch als 100 Prozent pünktliche in die absurde DB-Statistik eingehen.

Verantwortlich für die Bahn-Misere sind natürlich die Bundesregierungen, aber auch vor allem die führenden Köpfe im Bahnvorstand, die – spätestens ab dem Antritt von Hartmut Mehdorn als Bahnchef Ende 1999 – von Jahr zu Jahr zu diesem Erosionsprozess beitrugen. Sämtliche Versprechen, die mit der Bahnreform 1994 verbunden waren, wurden gebrochen: Statt Ausbau Abbau des Netzes (um minus 19 Prozent), Abbau der Kapazitäten (bei den Weichen um 50 Prozent), statt Verbesserung Verschlechterung des Services (Einstellung der Nachtzüge; bei jedem dritten Speisewagen gibt es irgendein Malheur), anstelle einer Konzentration auf die Schiene in Deutschland der Umbau der DB AG zu einem Global Player (2022 entfielen 55 Prozent des Konzernumsatzes auf das Ausland und hier vor allem auf Flugverkehr, Seeschifffahrt, Logistik, Lkw-Spedition).

Der DB-Geschäftsbericht 2022 verweist darauf, dass erstmals seit drei Jahren wieder im operativen Geschäft Gewinne eingefahren wurden. Tatsächlich gab es keinerlei Gewinn im Bereich Schiene im Inland. Aller Gewinn wird im Ausland und mit Nicht-Bahn-Geschäften generiert. Einmal abgesehen davon, dass diese Auslandsgeschäfte außerordentlich riskant und mehr als fragwürdig sind (BRH-Bericht: „Die DB betätigt sich als Wagniskapitalgeber beispielsweise bei der Entwicklung von Satellitennetzwerken und Drohnenlandeplätzen …“), wird auf diese Weise der Öffentlichkeit signalisiert: Ein Verkauf von Schenker wäre doch selbstmörderisch! Just eine Argumentation, die unter Hartmut Mehdorn zu hören war, als in den USA Bax Global erworben wurde (das Investment musste dann bald darauf zu 100 Prozent abgeschrieben werden). Just eine Argumentation, die unter Rüdiger Grube zu hören war, als 2010 in Großbritannien Arriva erworben wurde. Das Investment kostete jüngst mehr als eine Milliarde Euro für Abschreibungen.

Der behauptete Fahrgast-Rekord

Hier fällt zunächst der immer wiederkehrende Fehler auf, dass für die Bahn-Oberen, den Bundesverkehrsminister und die „Qualitäts-Medien“ als Fahrgäste nur diejenigen zählen, die in schicken ICE und IC/EC reisen. Tatsächlich entfallen 90 Prozent der Fahrgäste im Schienenverkehr auf den Nahverkehr (Zuggattungen RB, RE, S-Bahn). Selbst wenn man die Verkehrsleistung als Maßstab nimmt – also die Zahl der im Schienenverkehr von Fahrgästen zurückgelegten Kilometer („Personenkilometer“), so entfallen aktuell rund 56 Prozent auf den Schienenpersonennahverkehr.

Besieht man sich nun die Zahlen über einen längeren Zeitraum hinweg, dann ist die Aussage „Rekordergebnis“ (im Fernverkehr) ausgesprochen fragwürdig. Siehe Tabelle.

Tabelle: Reisende (in Millionen) im Fernverkehr und Nahverkehr 1997, 2005 und 2016-2022; Zielvorgaben für 2030 und die Pünktlichkeitsquote im Fernverkehr und Nahverkehr der DB 2016 bis 2022[2]

Danach gab es bei der Deutschen Bahn AG bereits 1997, also vor knapp einem Vierteljahrhundert, mehr als 150 Millionen Reisende im Fernverkehr. Es kam danach zu einem massiven Einbruch – mit einem Tiefpunkt 2005, als übrigens das Projekt „Bahnbörsengang“ in den Koalitionsvertrag von Schwarz-Rot hineingeschrieben wurde und als es nur noch knapp 120 Millionen Reisende im Fernverkehr und nur noch 1,172 Milliarden Reisende im Nahverkehr (der DB) waren.

Dieser Einbruch erklärt sich – insoweit es um den Fernverkehr geht – im Wesentlichen mit der Einstellung des Interregio. Bereits ab 1997 wurde diese Zuggattung ausgebremst; 2001 wurde sie komplett von der Schiene genommen. Dieser Zug hatte für die Bahn-Oberen – zunächst für Bahnchef Heinz Dürr und schließlich für Bahnchef Hartmut Mehdorn – den „Makel“, dass er zu billig und zu erfolgreich war. Es passte nicht in die Vorstellungskraft dieser Herren, dass ein Zug mit wenig HighTech, vor allem bestehend aus umgebauten alten D-Zugwagen, mit dem auch keine Milliarden-Euro-Aufträge verbunden waren, erfolgreich sein könnte.[3]

In der Summe wurde im Schienenpersonenfernverkehr 2019 gerade mal wieder das Niveau von 1997 erreicht. Also zwei Jahrzehnte Auf und Ab beziehungsweise Stillstand. Dann kam es zu dem – pandemie-bedingten – Einbruch 2020 und 2021. Und die Ergebnisse von 2022 bringen im Vergleich zum Vorjahr zwar ein deutliches Plus. Doch das Niveau von 2019 wird damit weder im Fernverkehr noch im Nahverkehr wieder erreicht. Im Fernverkehr liegt das 2022er Ergebnis um 12 Prozent unter dem 2019er Ergebnis und sogar noch unterhalb des 2016er Ergebnisses. Dass Bahnchef Lutz bereits im März 2023 weiß, wie viele Menschen 2023 die Züge nutzen werden („ein neues Rekordergebnis!“), ist so überzeugend wie seine Vorhersage Anfang 2021, wonach die DB dank der Konzeption „Starke Schiene“ 2021 eine Pünktlichkeitsquote von mehr als 80 Prozent erreichen werde. Tatsächlich sank die Pünktlichkeitsquote im vorletzten Jahr auf 75,2 Prozent. Was die Wirtschaftswoche vom 31. Januar 2022 zu einer Bilanz unter der Überschrift: „25 Jahre leere Versprechungen“ veranlasste. Im letzten Jahr gab es den Tiefpunkt mit einer Pünktlichkeitsquote von 65,1 Prozent. Eine vergleichbar niedrige Pünktlichkeitsquote gab es in der knapp 30-jährigen Geschichte der Deutschen Bahn AG noch nie. Und wohl auch nie bei der Bundesbahn. Auch im Nahverkehr gab es einen Rückgang der Pünktlichkeitsquote von 93,6 auf 92,2 Prozent.

Bei der Pünktlichkeitsquote ist zu berücksichtigen: Die Definition von Pünktlichkeit ist bei der Deutschen Bahn ausgesprochen großzügig. Erst ab einer Verspätung von sechs Minuten ist ein Zug unpünktlich. Oder: Pünktlich sind noch Züge mit 5 Minuten und 59 Sekunden Verspätung.

Wobei die Fahrgastzahlen auch dann, wenn es 2023 zu mehr als 150 Millionen Fahrgästen im Fernverkehr kommen sollte, völlig unzureichend sind. Angesichts des Klimanotstands und der klimapolitischen Ziele der Bundesregierung wurden die vergangenen beiden Bundesregierungen und die aktuelle Ampel nicht müde zu betonen, man plane eine „Verdopplung der Fahrgastzahlen bei der Bahn bis zum Jahr 2030“. So ist es noch im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung vom November 2021 festgehalten. Als der Bahnbeauftragte der Bundesregierung, Manfred Theurer, Mitte März äußerte, der Deutschlandtakt könne – anstelle 2030 – erst um das Jahr 2070 herum umgesetzt werden, wurde damit mehr oder weniger offen auch das Ziel „Verdopplung der Fahrgastzahlen bis 2030“ kassiert.

Bei der Bilanzpressekonferenz der DB war dann plötzlich mit keinem Wort mehr die Rede von der Verdopplung der Fahrgastzahlen. Dabei ist diese Zielvorgabe auch in den vorausgegangenen Geschäftsberichten enthalten. Das aber heißt: Das zentrale Klimaziel der Bundesregierung Bereich Verkehr wurde aufgegeben – was eine Art Vorwegnahme der dann in den letzten Tagen stattgefundenen Koalitionsgespräche war, wonach es ab sofort keine Sektorenziele bei den Emissionseinsparungen geben wird.

Diese Aufgabe des Klimaziels hängt gleichzeitig mit dem Projekt „Generalsanierung“ zusammen.

Das Allheilmittel „Generalsanierung“

Als Allheilmittel in Sachen Infrastruktur preisen das Bundesverkehrsministerium und der Bahnvorstand seit September 2022 eine „Generalsanierung“ an.

Zusammengefasst geht es um das Folgende: Ab Juni 2024 und bis einschließlich 2030 soll in jedem Jahr mindestens ein „Korridor“ des Schienennetzes „generalsaniert“ werden. Acht solcher Korridore wurden bislang identifiziert. Darunter die Riedbahn zwischen Frankfurt und Mannheim (Sanierungsbeginn ab Juni 2024) und die Verbindung Berlin – Hamburg (Sanierung 2025). Andere bislang von der DB genannte Korridore: Emmerich – Oberhausen (Sanierung ebenfalls noch 2025), Köln – Hagen, Hamburg – Hannover und Nürnberg – Regensburg (alle 2026), sodann Köln – Dortmund – Hamm (2027), Würzburg – Nürnberg (2028), Stuttgart – Ulm (2029) und Osnabrück – Münster (2030).

Bei dieser Generalsanierung soll die betroffene Strecke jeweils komplett gesperrt werden – und dies für mindestens fünf, oft für sechs Monate. Und es sollen alle Bestandteile auf dem entsprechenden Streckenabschnitt erneuert werden. Laut DB-Infrastrukturvorstand Berthold Huber – im FAZ-Interview vom 4.10.2022 – sind das: „Bahnhöfe, Gleise, Schotterbett, Weichen, Oberleitungen und Signale“. Danach, so Huber, sei man „acht bis zehn Jahre baufrei“. Wissing, Huber und Bahnchef Richard Lutz erklären, nach dieser Generalsanierung verfüge Deutschland über ein feines „Hochleistungsnetz“.

Tatsächlich ist diese Art Generalsanierung Generalunsinn. Auf diese Weise haben wir zunächst sechs Jahre eine unnötige, zusätzliche enorme Belastung für Fahrgäste und Beschäftigte. All dies aus den folgenden Gründen.

Sanierungen des Schienennetzes finden seit mehr als 100 Jahren unter rollendem Rad, bei laufendem Betrieb statt. Vollsperrungen sind technisch nicht notwendig. Es handelt sich bei all den infrage kommenden Strecken um zweigleisige Strecken. Mit der Sperrung von je einem Gleis (auf spezifischen Streckenabschnitten) in Verbindung mit Nachtarbeit und möglicherweise auch mal mit einer Komplettsperrung für drei bis vier Tage über Feiertage hinweg sind solche – auch sehr aufwendige – Sanierungen machbar. Das wird auch weiter bei Nachbarbahnen in dieser Weise so gehandhabt, insbesondere bei der weiterhin einigermaßen vorbildlichen Eisenbahn in der Schweiz. Und das war auch auf deutschem Boden jahrzehntelang so Usus: Selbst Streckenelektrifizierungen fanden in West- und Ostdeutschland jahrzehntelang bei laufendem Betrieb statt.

Sodann haben die Bestandteile einer jeweiligen Strecke eine jeweils höchst unterschiedliche Lebensdauer. Das Schotterbett muss alle 1-2 Jahre „nachgestopft“ werden. Weichen müssen jedoch nur alle 15 oder 20 Jahre ausgetauscht werden. Bahnsteige haben meist eine nochmals längere Lebenszeit. Ersetzt man alles auf einmal, so verschleudert man Steuergelder in gewaltigem Umfang, da viel von dem, was da ersetzt wird, noch jahrelang genutzt werden könnte.

Es geht bei der Generalsanierung nicht um Beeinträchtigungen auf einer beschränkten Verbindung. Die geplanten Vollsperrungen verlängern die Reisezeiten für Hunderttausende Fahrgäste um meist eine Stunde und dies für den Zeitraum von sechs Monaten. Ein erheblicher Teil der Betroffenen sind Pendlerinnen und Pendler, die auf Busse verwiesen werden („Schienenersatzverkehr – SEV“), die dann aber faktisch zum großen Teil auf die Straße ausweichen. Die entsprechenden Fahrplanänderungen wirken sich wellenartig auf einen großen Teil des Gesamtfahrplans aus.

Offiziell heißt es, es würde im Fall der Generalsanierung eines Korridors „gut geplante Umleitungen des Schienenverkehrs“ geben. Doch in vielen Fällen sind auch die angedachten Ausweichstrecken nicht dafür geeignet, dieses Plus an Schienenverkehr aufzunehmen. Es wird dort zu chaotischen Verhältnissen kommen. Wissing sagte sogar in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 1.10.: „Wir sanieren und elektrifizieren gerade Nebenstrecken, damit der Verkehr auch gut umgeleitet werden kann.“ Tatsächlich wird nirgendwo eine Nebenstrecke elektrifiziert.

Schließlich wird die „Generalsanierung“ nach offiziellen Angaben von Bahn und Bund 4.200 Kilometer des Schienennetzes betreffen. Doch das Schienennetz hat insgesamt eine „Betriebslänge“ (Schienen, auf denen es Personenverkehr gibt) von 34.000 Kilometern. Das heißt: Mit dem Versprechen „Generalsanierung“ werden gerade mal 12,4 Prozent des Schienennetzes saniert. Zu mehr als 80 Prozent des Netzes wird schlicht nichts gesagt; dort gibt es keine spezifische Sanierung. Es gibt also keine Planung für die dringend notwendige Sanierung des gesamten Netzes, einschließlich vieler Nebenstrecken. Keine Planung für die Abschaffung der mehr als 1.000 Langsamfahrstellen im Netz. Keine Planung für die Beseitigung von mehr als 100 Flaschenhälsen, Engstellen, Elektrifizierungslöchern. Keine Planung für die Reaktivierung hunderter Strecken und für den kompletten Ausbau vieler eingleisiger Strecken zu Zweigleisigkeit. Und schon gar keine Planung, wie das aktuelle Netz wieder um mindestens 30 Prozent vergrößert und damit auf den Stand von Mitte der 1950er Jahre gebracht werden könnte. Nur so könnte man den Anforderungen nach Klimaschutz und der Rolle, die dabei die Schiene spielen muss, gerecht werden.

Der langjährige SBB-Chef Benedikt Weibel sagte im März unverblümt, dass die in Deutschland geplante Generalsanierung „selbstmörderisch“ und eine „Katastrophe“ sei.[4]

Übrigens: Kein Mensch in Deutschland kommt auf die Idee, Autobahnstrecken komplett und monatelang zu sperren. Es existieren zu jedem Zeitpunkt mehr als 1.000 Autobahnbaustellen. So gut wie alle diese Baustellen werden bei laufendem Betrieb, also unter „rollenden Reifen“ und meist sogar bei Beibehaltung der Zahl der Fahrstreifen, betrieben und zu Ende gebracht. Im Schienenverkehr wird jedoch genau dies vorgeschlagen: Strecken-Vollsperrungen. Die Einseitigkeit des Umgangs bei der Sanierung von Schienenstrecken (halbjährige Vollsperrungen!) einerseits und Fernstraßen (Bau unter rollenden Reifen!) andererseits dokumentiert ein weiteres Mal die Fehlorientierung der Politik auf dem Gebiet des Verkehrs.

„45 Milliarden plus für die Bahn“

Ein Ergebnis der Koalitionsgespräche der letzten Tage lautet: 45 Milliarden Euro werde die Ampel bis 2027 für das Schienennetz bereitstellen. Bisher war vereinbart, dass der Bund bis zum Jahr 2030 rund 63 Milliarden Euro zur Verfügung stellt. Jetzt sollen es also knapp 110 Milliarden Euro sein. Wobei ein großer Teil der zusätzlichen Ausgaben durch die Lkw-Maut abgedeckt werden soll, die vom kommenden Jahr an deutlich ausgeweitet wird.

Dieser Geldsegen stieß in Bahnkreisen auf breite Zustimmung. Tatsächlich ist Skepsis angebracht. Man vergleiche das Gezerre, das es seit Monaten im Fall des im Grundsatz sinnvollen 49-Euro-Tickets gibt. Hier argumentieren die Länder, dass der Bund mindestens 1,5 bis 2 Milliarden Euro mehr an jährlichem Zuschuss zahlen müsse, um dieses Ticket zu finanzieren. Es geht also um den Bruchteil der Summe, die jetzt im Spiel ist – doch die Ampel lehnte ab. Was mit ein Grund dafür ist, dass dieses Ticket möglicherweise ein Fehlschlag werden wird.

Fast alles spricht dafür, dass die riesigen Summen, die nun plötzlich in die Schiene fließen sollen, in zwei kontraproduktive Bereiche fließen werden: Erstens in die beschriebene Generalsanierung, die oben bereits kritisiert wurde. Und zweitens in ein Dutzend neue Beton-Großprojekte, überwiegend im Bereich Hochgeschwindigkeitsverkehre, die dem Schienenverkehr als Ganzes nicht nutzen, ja, die in den meisten Fällen bahnverkehrszerstörerisch wirken. Wobei dann die neuen Beschleunigungsgesetze dafür angewandt werden, um jede Kritik aus Umwelt- und Klimaschutzgründen an diesen Vorhaben auszuhebeln.

Bei diesen Großprojekten geht es natürlich immer noch und erneut um Stuttgart 21, wo 2021/2022 seitens der DB sogenannte „Ergänzungsbauten“ als notwendig erachtet werden, die weitere fünf bis zehn Milliarden Euro kosten (darunter der sogenannte, 10 Kilometer lange „Pfaffensteigtunnel“). Des Weiteren gibt es das S21-Schwesterprojekt, die Schließung des Fernbahnhofs Hamburg-Altona und dessen Verlegung an den Stadtrand von Altona, nach Diebsteich. In Frankfurt/M. ist im Bereich des Hauptbahnhofs ein unnötiger, in gut 30 Meter Tiefe verlaufender und extrem teurer „Fernbahntunnel“ geplant. Sodann sind (mindestens) vier neue Hochgeschwindigkeitsstrecken geplant: Hamburg – Hannover, Hannover – Bielefeld, Würzburg – Nürnberg und Ulm – Augsburg. In München wird mit der sogenannten „Zweiten S-Bahn-Stammstrecke“ ein Projekt angegangen, das bereits im Bereich der Vorplanung auf 10 Milliarden Euro Kosten beziffert wird.[5]

So unterschiedlich diese Vorhaben im Einzelnen sind und so verschieden die Kritik an ihnen ausfallen muss, so haben sie doch vier Gemeinsamkeiten: Erstens sind sie mit gewaltigen Kosten verbunden (offiziell waren es bei den angeführten Projekten bereits 2021 mehr als 50 Milliarden Euro). Zweitens werden mit ihnen Millionen Tonnen Treibhausgase freigesetzt (vor allem wegen des Einsatzes von Beton und Stahl). Drittens können sie erst Mitte oder Ende der 2030er fertig erstellt sein. Viertens gibt es in allen Fällen überzeugende Alternativen, die allerdings den Nachteil haben, dass mit ihnen jeweils nur ein Bruchteil des Kapitals bewegt wird wie bei den Ampel-Großprojekten.

Benedikt Weibel äußerte in dem bereits zitierten Interview: „Jeder große Ausbau braucht heute 25 Jahre. Das kommt eh zu spät im Hinblick auf das Klima. Wir müssen deshalb die Bestandsnetze besser auslasten.“

Darum sollte es in erster Linie gehen: Optimierung des Netzes. Sanierung des gesamten Netzes. Ein Plan zur Elektrifizierung desselben zu 100 Prozent. Schnellstmögliche Beseitigung von „Flaschenhälsen“, Engpässen, Elektrifizierungslücken. Sodann Inangriffnahme von solchen Streckenreaktivierungen, die in relativ kurzer Zeit umgesetzt werden können.

Und warum wird dieses Naheliegende nicht angegangen? Auf die Frage, „Ist Deutschland am Ende einfach Autoland?“, antwortete Benedikt Weibel: „Natürlich, gerade im Vergleich zur Schweiz. Wir sind ein Bahnland. Wir haben keine Autoindustrie.“

Auf einer DB-Website ist zu lesen: „Wir wollen über den Fortschritt der Grünen Transformation [im Bereich Schiene; d. Red.] transparent informieren, um uns das Vertrauen unserer Stakeholder zu sichern.“

„Stakeholder“ der Deutschen Bahn ist jedoch nur einer: die Bevölkerung. Es geht darum, dieses formelle Eigentum zu einem realen zu machen, es mit den Inhalten einer Klimabahn und einer Bürgerbahn zu füllen.

Titelbild: Frederick Hornung/shutterstock.com

Winfried Wolf ist einer der Sprecher von Bürgerbahn – Denkfabrik für eine starke Schiene (buergerbahn-denkfabrik.org). Am 29. März legte diese Bahnfachleutegruppe den (140 Seiten starken) 15. Alternativen Geschäftsbericht Deutsche Bahn AG vor. In diesem werden die hier angesprochenen Themen – und viele andere – ausführlich dargelegt und untersetzt.


[«1] Bericht des Bundesrechnungshofs „zur Dauerkrise der Deutschen Bahn AG“ vom 15. März 2023.

[«2] Die Bahn – Daten und Fakten Ausgaben der Jahre 2000, 2006, 2019 und 2022.

[«3] Die Geschichte dieser Zuggattung wurde überzeugend von demjenigen dargestellt, der ihn im Wesentlichen „erfunden“ und entwickelt hat. Siehe: Karl-Dieter Bodack, InterRegio. Die abenteuerliche Geschichte eines beliebten Zugsystems, Eisenbahn-Kurier, Freiburg 2005.

[«4] Interview mit B. Weibel in: Cicero, März 2023.

[«5] Hier können nicht alle bahnzerstörerischen neuen Projekte vorgestellt werden. U.a. kommen hinzu: der „Brenner-Nordzulauf“ (30 km Tunnelstrecken), Dresden-Prag (26 km Tunnel unter dem Erzgebirge), Anbindung an die Fehmarnbelt-Querung).

Über Winfried Wolf

Winfried Wolf war Chefredakteur von Lunapark21. Er veröffentlichte zum Thema Verkehr seit 1986 („Eisenbahn und Autowahn“); zuletzt: „Abgefahren! Warum wir eine neue Bahnpolitik brauchen“ (zusammen mit Bernhard Knierim; Köln 2019)..

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