rail blog 238 / Joachim Holstein

Neue Waggons, neue Verbindungen, neue Preise

Rund um das Wochenende des Fahrplanwechsels ging die Zahl der Artikel, die vom Pressedienst zum Stichwort »Nachtzug« angezeigt werden, durch die Decke: 16 am Freitag, 34 am Samstag, 40 am Montag, 61 am Dienstag, 191 am Mittwoch, 43 am Donnerstag.

Die vier Hauptthemen:

1. Neue Nachtzugverbindungen, vor allem der ÖBB-Nightjet von Berlin nach Paris und Brüssel

2. Die „Nightjets der neuen Generation“ sind zwischen Hamburg-Altona, Wien und Innsbruck erstmals im Einsatz

3. Die ÖBB haben die Ticketpreise vor allem im Schlafwagen so stark angehoben, dass viele von Wucher und Abzocke schreiben

4. Benedikt Weibel, ehemals Chef der SBB, fordert das Ende der Unterstützung für Nachtzüge

Heute gibt es zunächst einen groben Überblick, ehe ich in den nächsten Beiträgen genauer auf die einzelnen Themen eingehe.

In Berlin war großer Bahnhof: zwei Verkehrsminister und eine Verkehrssenatorin, drei Bahnchefs und eine Bahnchefin präsentierten unter dem Motto »Nachtzüge für Europa« den ersten Nachtzug seit Dezember 2014, der Berlin mit Paris und Brüssel verbindet. Das erste Foto aus der DB-Mediathek zeigt deutlich, wer die Züge betreibt und wer sein Firmenlogo dazugibt:

Verabschiedung des ersten Nightjet nach Brüssel und Paris am 11.12.2023 in Berlin.

»In Kooperation mit« heißt, wie die »Berliner Zeitung« berichtet, dass die französische Regierung 10 Millionen Euro Start-Zuschuss pro Jahr gibt, dass die belgische Regierung auf die Trassengebühren verzichtet und dass Deutschland … also … Moment … okay, es ist, wie nicht anders zu erwarten: das Deutschland auch nicht einen Cent dazu bezahlt, sondern im Gegenteil die vollen Trassen- und Stationsgebühren, die Umsatzsteuer von 7 % auch für Auslandsreisen und die üblichen Energiesteuern abkassiert. Und so lautete denn auch die Schlagzeile der »Berliner Zeitung« am Tag der Einweihung:

Nur in Deutschland fährt er ohne Subventionen

Wenn man das zweite Bild aus der DB-Mediathek betrachtet, dann scheint das spitzbübische Grinsen der Herren Lutz und Wissing auch genau die Freude über diesen Coup auszudrücken.

Verabschiedung des ersten Nightjet nach Brüssel und Paris am 11.12.2023 in Berlin.

Im Bild v.l.n.r.:

Dr. Richard Lutz, Vorstandsvorsitzender Deutsche Bahn AG

Manja Schreiner, Berliner Senatorin für Mobilität, Klimaschutz, Verkehr und Umwelt

Clément Beaune, beigeordneter französischer Verkehrsminister

Dr. Volker Wissing, Bundesminister für Digitales und Verkehr

Christophe Fanichet, CEO der französischen SNCF Voyageurs

Andreas Matthä, Vorstandsvorsitzender ÖBB Holding AG

Sophie Dutordoir, CEO der belgischen NMBS/SNCB

Und bezeichnenderweise steht der »Macher« des Zuges, ÖBB-Chef Andreas Matthä, freundlich lächelnd in der zweiten Reihe, während die anderen mehr oder minder Beteiligten das Schild hochhalten.

Tu felix Austria …

Die Berliner Zeitung sei nochmals zitiert:

Großer Bahnhof im Untergeschoss des Hauptbahnhofs: Im abgesperrten Abschnitt G feierten die Chefs und eine Chefin von drei Bahnen, die sich einst aus wirtschaftlichen Gründen aus dem Betrieb von Schlaf- und Liegewagen verabschiedet hatten, mit den Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) die Wiederaufnahme der vor Jahren eingestellten Direktverbindung zwischen der deutschen und der französischen Hauptstadt.

Richard Lutz von der Deutschen Bahn, Sophie Dutordoir von der NMBS/SNCB in Belgien und Christophe Fanichet, Chef von SNCF Voyageurs, feierten die neue Verbindung als ein Stück funktionierendes Europa. Andreas Matthä von der ÖBB erinnerte sich in seiner Rede an Gleis 8 daran, als sein Unternehmen von 2016 an im Nachtzuggeschäft aufzutrumpfen begann. »Damals wurden wir von vielen belächelt«, sagte er. »Heute sind unsere Nightjets voll« – zum Teil über Wochen hinaus.

https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/nachtzug-vom-berliner-hauptbahnhof-nach-paris-bruessel-die-erste-fahrt-ist-nur-fuer-geladene-gaeste-li.2167508

Die Österreicher wussten damals, was sie taten. Sie hatten schließlich jahrelang gemeinsam mit der DB die Nachtzüge nach Italien betrieben – die DB-Kursgruppen ab München, die ÖBB-Kursgruppen ab Wien, dann ab einem norditalienischen Knotenbahnhof gemeinsam zum Zielort. Sie fuhren auch schon mit ihrem eigenen Nachtzug von Wien nach Hamburg und Düsseldorf.

Sie kannten den Markt, sie erkannten das Potenzial, sie kauften die 42 modernsten Schlafwagen der DB sowie einige behindertengerechte Liegewagen und setzten auf einigen Linien noch am Tag der damaligen DB-Geschäftsaufgabe die Nachtzüge fort: Zürich-Berlin-Hamburg, Innsbruck-München-Hamburg, Innsbruck-München-Düsseldorf, München-Rom/Mailand/Venedig. Sie konnten dank der Kooperation der SBB Zürich als kleinen Nachtzug-Hub nutzen, wo ihre eigenen Nachtzüge aus Wien und Graz umrangiert wurden, um die Wagen für den Zug nach Berlin und Hamburg zu »spenden« – auf diese Weise war jeder Wagen nach 4 Nächten wieder an seinem Abgangsbahnhof. Auch bei den Zügen nach Italien wurden die Wagen so getauscht, dass die Wagen der Münchner Kursgruppen regelmäßig nach Wien kamen. Und ihren bestehenden, in Nürnberg geflügelten Zug von Wien nach Hamburg und Düsseldorf kombinierten sie mit dem »neuen« Zug aus Innsbruck über München, sodass ein Linienkombination in X-Form dabei herauskam: von Wien bzw. Innsbruck nach Nürnberg, dort Kursgruppentausch, dann weiter nach Hamburg bzw. Düsseldorf.

https://www.tma-online.at/news/10761/oebb-sechs-weitere-nachtreisezuege-ab-dezember-2016/

Für die deutschen Strecken wurden vorzugsweise die von der DB übernommenen Schlafwagen eingesetzt, was in Vorarlberg auch schon mal für böses Blut sorgte, weil man dort mit deutlich älterem Rollmaterial abgespeist wurde.

Nach und nach wurde dann behutsam expandiert: aus einem Zug, der von Zürich über Berlin nach Hamburg fuhr, wurde ein Zug, der in Hildesheim geflügelt wurde; aus Düsseldorf wurde Amsterdam, und dann tauchte (wieder) eine Verbindung von Wien nach Brüssel und Paris auf.

Die Kapazität der Fahrzeuge hinkte aber immer dem Bedarf weit hinterher – eine Folge der jahrezehntelangen Investitionsbremsen der deutschen, französischen, belgischen, niederländischen und Schweizer Bahnen.

Und nun wurde also aus dem »Y-Flügelzug« von Wien nach Brüssel und Paris der »X-Flügelzug« aus Wien und Berlin nach Brüssel und Paris mit Kursgruppentausch in Mannheim. Dass das Rollmaterial knapp ist, erkennt man am Fahrplan: Es steht nur eine Garnitur zur Verfügung, wodurch der Zug pro Richtung nur drei Mal pro Woche fahren kann: montags, mittwochs und freitags von Ost nach West, dienstags, donnerstags und samstags von West nach Ost. Ab Herbst 2024, wenn weitere neue Garnituren fertig sind, können andere Wagen für diese Verbindung freigesetzt werden, dann wird die Bedienung täglich erfolgen. Bis dahin ergänzt sich auf der Relation nach Brüssel der Fahrplan ideal mit dem »European Sleeper«, der im Winter in zwei und im Sommer in drei der vier anderen Nächte von Berlin (bzw. von Prag über Berlin) nach Amsterdam, Rotterdam, Antwerpen und Brüssel fährt.

https://www.nightjet.com/#/home

https://www.europeansleeper.eu

Über Joachim Holstein

(*1960) arbeitete von 1996 bis 2017 als Steward in Nacht- und Autozügen der DB, war von 2006 bis zur Einstellung dieser Verkehre Betriebsrat der DB European Railservice GmbH und zuletzt Sprecher des Wirtschaftsausschusses. Mitbegründer der Initiative zur Rettung des Nachtzuges Hamburg-Paris (2008; »Wir wollen nach Paris und nicht an die Börse«) und des europäischen Netzwerks für Nachtzüge »Back on Track« (2015; https://back-on-track.eu/de/); Weiteres unter www.nachtzug-bleibt.eu

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