Bahnfahren in Belgien – einfach und beliebt:
Was Deutschland davon lernen kann
Was kaum jemand weiß: Belgien ist ein Eisenbahnland – mit dem neben der Schweiz dichtesten Eisenbahnnetz der Welt, dessen erste Strecke schon 1835 in Betrieb ging. Die belgische Bahngesellschaft SNCB (Société Nationale des Chemins de fer Belges) führte schon in den frühen 1980er Jahren einen landesweit vertakteten IC/IR-Verkehr ein, der damals die 70 wichtigsten Bahnhöfe Belgiens umfasste. Heute ist der gesamte Bahnverkehr vertaktet, mindestens im Stundentakt, im Großraum Brüssel S-Bahn-ähnlich im 20-Minuten-Takt. Das belgische Streckennetz von 3.602 km ist fast durchweg zweigleisig ausgebaut und zu rund 90 % mit 3 kV für die Inlandsstrecken bzw. 25 kV für die europäischen Hochgeschwindigkeitsstrecken (Rotterdam – Antwerpen – Brüssel und Grenze zu Deutschland – Lüttich – Brüssel – Lille) elektrifiziert. Die Höchstgeschwindigkeit auf den 3-kV-Strecken liegt bei 160 km/h, was bei den relativ kurzen Entfernungen zwischen zwei Haltestellen auch vollständig ausreichend ist.
Das Bahnnetz wie auch die Bahnhöfe machen durchweg einen sauberen und gepflegten Eindruck. Wert wird auf ausreichend witterungsgeschützte Wartehäuschen bzw. beheizte Wartesäle selbst auf Provinzbahnhöfen gelegt. Auf langen Bahnsteigen gibt es bis zu fünf witterungsgeschützte Unterstände, die Wagenreihung wird dann auch gemäß Unterstand angesagt: Also zum Beispiel »1. Klasse hält bei Wartehäuschen Nummer 2«! Die Signalisierung auf den Hauptstrecken erfolgt gemäß ETCS Level 1. Als belgische Skurrilität ist der Sprachwechsel der Ansagen bei Überschreiten der Provinzgrenzen zu vermerken. Französisch in Wallonien, in Brüssel Vlaams (die belgische Variante des Niederländischen) und französisch und im flämischen Landesteil nur noch Vlaams. Genau auch diese Mischung bei durchlaufenden Zügen.
Der Zugang zum Bahnsystem ist denkbar einfach. Die Fahrpläne sind getrennt für Werktage und Sams- und Sonntage/Feiertage. Damit entfällt das lästige Suchen nach den Sternchen und Fußnoten, ob dieser oder jener Zug auch am Samstag fährt, oder sonntags nur einen verkürzten Laufweg hat, wie das so bei der DB üblich ist. Die Züge fahren immer zur selben Minute ab, in der Regel von 5.00 bis 23.00 Uhr. An den Knotenpunkten sind Anschlüsse gut zu erreichen. So haben Bahnhöfe notrmalerweise sehr auskömmliche Gleisanlagen, um Züge im vertakteten Verkehr warten zu lassen. Der große Bahnhöfe Brüssel Midi verfügt über 22 Bahnsteigkanten, und selbst kleinere Städte, wie Ostende (73.000 Einwohner) und Brügge (120.000 Einwohner) haben jeweils 8 Bahnsteigkanten. Der die Stadt Brüssel unterquerende 6-gleisige Bahntunnel gilt mit 1.200 Zügen pro Tag als der am meisten frequentierte Bahntunnel Europas.
Lange Zeit hatte die SNSB, die in den 1930er Jahren einen Teil der prestigeträchtigsten Luxuszüge wie den Étoile du Nord von Paris über Brüssel nach Amsterdam, den Edelweiß-Express von Amsterdam über Brüssel – Namur – Luxembourg – Strasbourg – Basel – Zürich oder den Ostende – Brüssel – Köln Pullmann-Express einsetzte, die Modernisierung ihres Fahrzeugparks vernachlässigt, aber in den letzten 10 Jahren enorm aufgeholt. Zwar fahren auf einigen Strecken immer noch die mehrfach modernisierten Brüsseler Vorortzüge aus den 1950er Jahren (die aber erstaunlich zuverlässig sind), aber die Kernstrecken des Netzes werden mit modernden Doppelstockwagen von Alstom mit Siemens-Lokomotiven und Triebwagen von Siemens und Stadler bedient. Die Ausstattung der Wagen ist funktional, aber ohne irgendwelchen Firlefanz. Man merkt: hier haben Eisenbahner die Spezifikation geschrieben und nicht irgendwelche Eisenbahnphantasten bei den politisch besetzten Aufgabenträgern. Dementsprechend sind Zugausfälle aus technischen Gründen auch sehr selten. Auch besteht aus Kostengründen das Bestreben, die Fahrzeuge so lange es geht zu nutzen. Dafür gibt es auch noch heute zahlreiche Fahrzeuge mit unter dem Aspekt der Barrierefreiheit unzureichenden Einstiegsverhältnissen. Auch in einigen Provinzbahnhöfen gibt es noch 35 cm hohe Bahnsteige. Aber alle modernisierten Bahnhöfe haben heute einheitlich 76 cm Bahnsteighöhe.
Den Fahrgast erfreut, dass es auch auf den kleineren Bahnhöfen noch besetzte Schalter gibt. Ansonsten ist der Fahrkartenvertrieb wie auch bei der DB über Automaten, die SNCB App und den heimischen PC möglich. Die SNCB-Webseite ist in den drei belgischen Landessprachen Vlaams, Französisch und Deutsch sowie Englisch verfügbar.
Wichtig für die Fahrgäste sind die attraktiven Fahrpreisangebote. So können Personen über 65 für ganze 8,30 Euro den ganzen Tag (Wochentags nur ab 9.00) quer durchs ganze Land reisen und die Züge aller SNCB-Gattungen nutzen, nur die internationalen HGV-Züge nicht! Für eine Fahrt zum Beispiel von Köln nach Ostende lohnt es sich dann, mit dem Deutschlandticket bis nach Aachen bzw. bis zur Grenze zu fahren, und ab der Grenze gilt dann das belgische Seniorenticket für 8,30 Euro. Letztendlich ist man nur unwesentlich länger unterwegs, denn der belgische IC von Eupen über Brüssel, Gent, Brügge nach Ostende fährt stündlich ohne Umsteigen ab Welkenraedt (nahe der deutsch-belgischen Grenze) bis Ostende!
Gleichermaßen attraktiv ist das Angebot im städtischen und regionalen Nicht-Eisenbahn-ÖPNV. Es gibt nur drei Verkehrsbetriebe im Lande. De Lijn für den flämischen Teil, STIB für den Region Brüssel und TEC (Transport en Commun) für den wallonischen Teil. Bei De Lijn gibt es Streifenkarten für 10 Fahrten für nur 17 Euro, als pro Fahrt 1,70 Euro. Diese Tickets gelten ab Entwertung jeweils eine Stunde unabhängig von Fahrtlänge und Richtung – und das im gesamten De-Lijn-Konzessionsgebiet, welches deckungsgleich mit der Provinz Flandern ist. Egal ob man nun in Gent, Ostende oder Antwerpen mit der Straßenbahn oder dem Bus fährt: es gilt das gleiche Ticket. Und die innerhalb von einer Stunde zurückgelegten Strecken können zum Teil enorm sein, zum Beispiel von der französischen Grenze bei De Panne bis nach Ostende mit der immer (vermutlich auch deswegen) proppenvollen Kusttram, einer mehr als 70 km langen Überlandstraßenbahn längs der gesamten belgischen Küste. Auch ist es in dieser Straßenbahn möglich, ein Ticket durch Auflegen seiner deutschen Bank- oder Kreditkarte auf das Entwertungsterminal in der Straßenbahn oder im Bus zu erwerben. Dann kostet die Fahrt allerdings 2,30 Euro. In Hamburg hingegen kostet das billigste Ticket 2,10 Euro, mit dem man vom Hauptbahnhof aus gerade mal drei Stationen mit der S-Bahn bis zu den Landungsbrücken fahren kann.
Hallo Deutschland, so etwas brauchen wir auch zur Ergänzung des Deutschlandtickets! Aber eine solch radikale Vereinfachung der Ticketstrukturen wäre nicht nach dem Geschmack der Aufgabenträger und Verkehrsverbünde, weil dann viele Verwaltungs- und Vorstandsposten überflüssig würden.