rail blog 370 / Joachim Holstein

Notizen aus der Provinz, Teil 2

Wir springen vom Süden in den Norden von »The Länd«, dorthin wo Mark Twain einst die Schönheit der Natur bewunderte und heutzutage die Grenze zwischen Baden-Württemberg und Hessen Kapriolen schlägt: da ragt ein 14 km langer und an seiner schmalsten Stelle gerade mal 2,6 km »breiter« Zipfel Hessen bis zum Neckar und bei der Flussschlinge Hirschhorn sogar darüber hinaus auf die Südseite.

Der Bahnknotenpunkt Eberbach 6 km östlich davon liegt allerdings in Baden-Württemberg, und die nach Norden Richtung Hanau und Frankfurt führende Bahnstrecke erreicht »erst« nach 5,7 km hessisches Gebiet.

Das ist Pech, denn dadurch konnte die Fahrplangestaltung gnadenlos zuschlagen. Nach Westen, Richtung Heidelberg-Mannheim besteht ein Halbstundentakt mit Deutschlands längster S-Bahn, die jeweils stündlich als S1 von Osterburken bis Homburg (Saar) bzw. als S2 von Mosbach bis Kaiserslautern führt. Hinzu kommt alle zwei Stunden der Regionalexpress von Heilbronn nach Mannheim auf seiner Nordroute – die ebenfalls alle zwei Stunden befahrene Südroute führt über Sinsheim (für Fußballfans: über Hoffenheim). Das macht fünf Verbindungen innerhalb von zwei Stunden. Richtung Süden gibt es dieselben fünf Züge binnen zwei Stunden, ehe sich in Neckarelz vier davon in Richtung Mosbach-Osterburken aus dem Neckartal verabschieden und der zweistündliche RE von der im Stundentakt verkehrenden Stadtbahn Richtung Heilbronn flankiert wird.

Aber Richtung Norden, etwa ins gerade mal 21 km entfernte Erbach mit dem wegen seiner Fachwerkbauten berühmten Nachbarort Michelstadt? Alle zwei Stunden ein kleines Bähnchen, das ist alles. Ab Erbach geht es dann im Stundentakt nach Frankfurt sowie im Zweistundentakt nach Darmstadt Hbf, das macht drei Züge binnen zwei Stunden.

Wäre es wirklich zu viel verlangt, nicht nur jeden zweiten, sondern jeden Zug von Frankfurt nach Erbach bis Eberbach fortzuführen und somit einen Stundentakt mit dem Neckartal herzustellen?

Das Umsteigen in Eberbach ist gewöhnungsbedürftig. Wie in Immendingen gibt es drei Bahnsteige mit fünf Kanten, wovon Gleis 1 auf Straßenniveau erreichbar ist. Allerdings gibt es hier Fahrstühle zum barrierefreien Umsteigen. Gleis 5 mit den Zügen aus und nach Hessen hat aber keinen Fahrstuhl abbekommen – offenbar war man der Meinung, das lohne sich bei einem Zug binnen zwei Stunden nicht. Also muss man auf den Bahnsteig mit den Gleisen 2 und 3 hinunterfahren, diesen Bahnsteig bis zum Nordwestende entlanglaufen und dann die Gleise 3 und 4 zu Fuß überqueren. Zwar hängen da Warnschilder und so etwas ähnliches wie Tore oder Schranken, aber denen ist nicht anzusehen, ob vielleicht noch Helmut Kohl bei ihrer letzten Verwendung im Kanzleramt saß …

Der Solo-Triebwagen wurde ziemlich voll. Es war Sonntag, und zur örtlichen Kundschaft gesellten sich Wandersleut und die Fahrradzunft. Drei Fahrräder nebeneinander vor den Klappsitzen verzurren? Kein Problem. Allerdings saß auf der einen Seite schon eine ältere Dame mit Rollator, die wegen neu hinzukommender Räder vom Zugbegleiter gebeten wurde, sich in der Mitte des Fahrzeuges einen neuen Platz zu suchen, da hier alles für Fahrräder vorgesehen sei. Sie zog unter lautem Schimpfen von dannen: »das passiert mir jedes Mal, warum kann ich hier nicht sitzen?«

Gedacht habe ich: »Wenn das jedes Mal passiert, dann könnte man vielleicht von vornherein an der anderen Tür einsteigen«. Gesagt habe ich Richtung Zugbegleiter: »Vielleicht sollte Ihre Firma ein zweites Fahrzeug einsetzen?!«

Der Kollege wurde lebhaft: »Der zweite Teil, den wir normalerweise dabei haben, läuft heute nicht richtig. Und bevor wir mit einem kaputten Fahrzeug liegenbleiben, habe ich ihn lieber zuhause gelassen«.

Okay. Valider Punkt. Kann passieren, es war Sonntag, und der Betreiber VIAS ist eine eher kleine Firma. Und wir kamen auch gut weg, fuhren bei Sonnenschein durch eine schöne Landschaft mit Bauten wie aus dem Modellbahnkatalog und brausten schließlich von Darmstadt-Nord nonstop bis Mainhattan. Welch ein Kontrast.

Über Joachim Holstein

(*1960) arbeitete von 1996 bis 2017 als Steward in Nacht- und Autozügen der DB, war von 2006 bis zur Einstellung dieser Verkehre Betriebsrat der DB European Railservice GmbH und zuletzt Sprecher des Wirtschaftsausschusses. Mitbegründer der Initiative zur Rettung des Nachtzuges Hamburg-Paris (2008; »Wir wollen nach Paris und nicht an die Börse«) und des europäischen Netzwerks für Nachtzüge »Back on Track« (2015; https://back-on-track.eu/de/); Weiteres unter www.nachtzug-bleibt.eu

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