Bahnen gestern, heute und morgen (1)

Früher Bahnboom

Die europäische Bahnentwicklung hatte eine eindrucksvolle Blütephase parallel zur Industrialisierung. Überall wurden stürmisch und im großen Konsens von Politik, Wirtschaft und Bürgern Bahnnetze ausgebaut. Für die Fernbahnen baute man die großen nationalen und internationalen Verbindungen (die sogenannten »Hauptbahnen«) mit leistungsfähigen Knoten, hoher Kapazität und großartigen Bahnhöfen. Für die regionalen und lokalen Bahnen (einschließlich Straßenbahnen und Überlandstraßenbahnen) baute man fein verästelte Netze mit einfacheren Standards und kleineren Bahnhöfen und Haltestellen. Meist dienten diese Bahnnetze auch der Güterbeförderung. So wurden Bahnen zum dominanten Verkehrsmittel im Personen- und Gütertransport.

Innovationen der Bahntechnik

Einen großen Gewinn an Leistungsfähigkeit brachten die Elektrifizierung der Netze und die Modernisierung der Betriebssteuerung und Bahnkommunikation. Auch in den letzten Jahrzehnten gab es wichtige Fortschritte in der Fahrzeug- und Betriebstechnik, zum Beispiel mit Wendezügen, Leichttriebwagen und Automatikkupplungen sowie mit der Flügelung, der Zugtrennung und -Vereinigung an wichtigen Verzweigungsstellen des Netzes.

Politik priorisierte den Straßenverkehr

Trotz solcher technischer Fortschritte gerieten die Bahnen ab etwa 1960 in vielen europäischen Ländern ins Hintertreffen gegenüber dem Straßenverkehr mit PKW und Lastwagen. Jetzt hatte der Ausbau der Straßen Priorität, die Straßennetze wurden immer dichter. Dagegen wurden die Bahnnetze vielfach durch Stilllegungen von Strecken, Gleisen, Güteranschlüssen, Stückgutannahmestellen und Bahnhöfen ausgedünnt. Dadurch verloren die Bahnen schnell Marktanteile im Personen- und Güterverkehr. Ihre politische Priorität nahm ab. Die Investitionen in die Netze wurden stark gekürzt.

Hochgeschwindigkeit, Rückzug aus der Fläche und »Bahnreformen« mit Regionalisierung

Nur in den Ballungsräumen und auf wenigen Korridoren der Hochgeschwindigkeitstrecken wurde noch engagiert in den Bahnausbau investiert, einerseits in hochleistungsfähige S-Bahnen, andererseits in die Neu- und Ausbaustrecken der transeuropäischen Bahnkorridore mit dem Ausbau für Hochgeschwindigkeit jenseits der 200 km/h und mit neuen oder umgebauten Bahnhöfen. In einigen Ländern wurden die ehemals staatlichen Bahnen (teil)privatisiert, was zu einer Beschleunigung der Rationalisierungsbestrebungen, des Personalabbaus und der Stilllegungen angeblich weniger rentabler Netzteile und Bahnprodukte führte. In einigen europäischen Ländern waren solche sogenannten »Bahnreformen« mit einer Regionalisierung der Nahverkehre verbunden. Neben den ehemaligen »Staatsbahnen« beteiligten sich neue sog. »Privatbahnen« (meist aber auch maßgeblich getragen von Kapital »öffentlicher Hände«) am wachsenden Wettbewerb zwischen den verschiedenen Bahnunternehmen um Netze und Bestellerleistungen. Die Bahnwelt wurde dadurch »bunter« und vielfältiger nach der Zahl der Bahnunternehmen, der Art der eingesetzten Züge und der Kreativität der gebotenen Serviceleistungen.

Beginnende Renaissance der Bahnen

Heute stehen die Bahnen in manchen Ländern vor einer Renaissance, die wieder Anschluss an die Konzepte der Boomzeiten der Bahnentwicklung sucht. Lokale und regionale Netze werden wieder ausgebaut. Moderne, leistungsfähige Triebzüge setzen sich immer mehr durch. Viele Länder restrukturieren ihre Fahrpläne als »Integraler Taktfahrplan« mit dichtem Taktverkehr und gesicherten Anschlüssen in alle Richtungen. Das Bahnnetz wird durch viele neue Haltepunkte und Bahnhöfe der stürmischen Siedlungsentwicklung der letzten Jahrzehnte angepasst. Die Knoten werden systematisch ausgebaut, damit dort Nah- und Fernverkehr optimal verknüpft werden können. Gewerbegebiete werden wieder an das Bahnnetz angebunden.

Erfolgsstrategien

Wenn die EU, die Nationalstaaten, die Regionen und Kommunen eine eindeutige Priorität zu Gunsten des Schienenverkehrs setzen, wenn die Investitionen gleichmäßig und systemwirksam in den Netzen verteilt werden und nicht nur auf wenige Großprojekte der Hochgeschwindigkeit und auf wenige, gigantische und spekulative Bahnhofsprojekte konzentriert (= monopolisiert) werden, wenn die Standards für die Infrastruktur und Fahrzeuge flexibel gesetzt werden und die Finanzierung des Schienenverkehrs eine verlässliche, hohe Priorität erhält, dann können die Bahnen in Europa wieder die Nummer 1 im Verkehr werden. Unterstützt werden sie durch eine enge Verknüpfung mit dem Fahrradverkehr (Bike & Ride, Radstationen, Fahrradmitnahme) und mit dem Car-Sharing und natürlich mit den lokalen und regionalen ÖPNV-Systemen der jeweiligen Umlandregionen der Bahnhöfe.

Potenziale für eine Verkehrswende zur Bahn

Es gibt riesige Potenziale für eine Mobilität ohne Autos und LKW: Voraussetzung sind ein engagierter Netzausbau, ein motivierter Service, kreative Angebotskonzepte und ein professionelles Marketing. Dazu gehören auch attraktive Nachtzüge, die im Nachtsprung Europas Regionen miteinander verbinden. Dazu gehören die internationalen und nationalen Netze der IC- und ICE-Verkehre, die die großen Metropolen und Großstädte im Taktverkehr verbinden. Dazu gehören dichte Interregio-Netze, die alle Mittel- und Oberzentren untereinander im dichten Taktverkehr verbinden. Dazu gehören attraktive Regionalbahnen, die im urbanen, suburbanen und ländlichen Raum die Verankerung der Schiene in der Fläche sicherstellen, mit dichtem Taktverkehr und vielen neuen Haltepunkten. Dazu gehören hierarchisch strukturierte Güterbahnen mit einem System leistungsfähiger Güterverkehrs- und Güterverteilzentren und mit Anschlussgleisen in jedes Gewerbegebiet.

Dazu gehört ein enger Verbund mit dem straßengebundenen öffentlichen Verkehr, der überall als Zu-und Abbringer für die Verankerung der Bahnen in der Fläche sorgt. Und dazu gehört ein Tarifsystem, das das bequeme, bruchlose Reisen durch alle Systeme des öffentlichen Verkehrs ermöglicht, auf der Basis attraktiver, integraler Abos.

Mit solchen Bahnen kann in Europa überall die Verkehrswende gelingen, mit deutlich weniger Autoverkehr in PKW und LKW, mit stark verringerten Emissionen und einem deutlich reduzierten Verbrauch fossiler Energien. Daraus folgt: in der postfossilen Mobilität müssen die Bahnen wieder die zentrale Rolle spielen.

Über Prof. Dr. Heiner Monheim

(*1946), Geograf, Verkehrs- und Stadtplaner, seit den 1960er Jahren befasst mit den Themen Flächenbahn, Schienenreaktivierungen, Erhalt des IR, S-Bahnausbau und kleine S-Bahnsysteme, Stadt- Umland-Bahnen, neue Haltepunkte, Güter-Regionalbahnen, Bahnreform 2.0, Kritik der Großprojekte der Hochgeschwindigkeit und Bahnhofsspekulation. Details: www.heinermonheim.de

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