„Die Raserei ist schuld“

Die fatale Bilanz von 120 Jahren freier Fahrt für unmündige Bürger – eine kleine Verkehrsgeschichte

Von Klaus Gietinger

Dass auf deutschen Autobahnen Krieg herrscht, leugnen nur die, deren Politik ihn täglich neu entfacht (…) Ich habe meine Schwester und meine Nichte geliebt, viele trauern nun, und täglich gibt es in Deutschland neue Verkehrstote zu betrauern, etwa dreihundert im Monat, fast viertausend im Jahr. Allein Strafgesetze hindern mich, meine Empörung und meine Wut diejenigen spüren zu lassen, die für diese Tode, für diese Raserei Mitverantwortung tragen.

Thomas Gsella, der seine Schwester und Nichte durch einen Raser auf der Autobahn verloren hat, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 26. September 2015

Im Oktober 1956 stand die Bundesrepublik kurz vor der Revolution. Der ehemalige Eisenbahngewerk-schafter und MdB Oskar Rümmele, 66, aus Hinterzarten im Schwarzwald, Vorsitzender des Verkehrsausschusses, beharrte auf der Durchsetzung seines „Lieblingsgesetzes“.1 Dieses hatte nichts Geringeres zum Ziel, als die Fahrgeschwindigkeit aller Kfz in der BRD generell zu beschränken. Denn: „Die Raserei ist daran schuld, dass die Zahl der Verkehrstoten in den letzten Jahren so stark anstieg“. Rümmele war CDU-Mitglied, sein ihn unterstützender Verkehrsminister war Hans-Christoph Seebohm, damals Mitglied der rechtslastigen Deutschen Partei. Seebohm befand sich „ständig auf der Flucht vor demonstrierenden Fuhrunternehmern“. Aber nicht nur die riefen zur Treibjagd, auch der ADAC lud seine publizistischen Waffen und der, der noch wenige Jahre zuvor als Leutnant der Wehrmacht daran beteiligt war, Leningrad auszuhungern, und 1965 für jeden Arbeiter ein Auto fordern sollte, Helmut Schmidt, SPD, wusste, was den Unfalltod auf den Straßen stattdessen aufhalten würde. Er forderte in seiner Eigenschaft als Leiter des Amtes für Verkehr im Wirtschaftsministerium von Rümmele „endlich die Straßen verkehrsgerecht“ auszubauen. Das hatte Rümmele allerdings sowieso vor, weil man damals, wie teils noch heute, dem Irrglauben anhing, breitere und geradlinigere Straßen würden die Verkehrssicherheit erhöhen.

Heute weiß man, dass in der Regel genau das Gegenteil der Fall ist. Je schmaler die Straßen, umso vorsichtiger muss gefahren werden.2 Je großzügiger die Fahrbahnen ausgebaut sind, umso schneller wird gefahren, was vielfach zu tödlichen Unfällen führt. Rümmele, selbst Ex-NSDAP Mitglied, wollte jetzt mit einem Nazi-Gesetz brechen. 1934 hatten das NS-Regime sämtliche Geschwindigkeitsbeschränkungen für Pkw aufgehoben – zur allgemeinen Förderung der „Volksmotorisierung“.3 Es kam zu einem massiven Anstieg der Straßenverkehrstoten – auf rund 8000 im Jahr. Berücksichtigt man das Verhältnis zur Zahl der Fahrzeuge, so entsprach das dem Fünfzigfachen der heutigen Straßenverkehrsopfer. 1939 wurden Geschwindigkeitsbegrenzungen wieder eingeführt, allerdings um Benzin und Soldaten für den geplanten Krieg zu sparen.

1952 wollten sich die Verkehrspolitiker der Adenauer-Regierung von dieser Beschränkung, dem, wie sie tönten, „Nazi-Gesetz“, befreien. Innerorts wurde die Fahrgeschwindigkeit für Kfz unter 2,5 Tonnen freigegeben. Sie postulierten damit jedoch genau das Gleiche wie Hitler 1934: freie Fahrt.

Erneut schnellten die Unfalltotenzahlen nach oben. Kein Grund für die Lobbyisten der Autokonzerne, den ADAC oder die SPD, daran etwas zu drehen. Erst ein Christdemokrat musste sich auf den Wert eines Menschenlebens besinnen. Doch was hatte Rümmele tatsächlich vor? Er wollte nicht nur innerorts (50 km/h), nicht nur auf Landstraßen (80 km/h), sondern auch auf „den Straßen des Führers“, den Autobahnen, die Geschwindigkeit für Pkw beschränken, auf 90 km/h. Das war die eigentliche Revolution, die die Volksfront der Automobilisten zur Konterrevolution blasen ließ.

Wie alles anfing

Im letzten Drittel des 19. Jahr-hunderts, als erste Automobile verkehrten, fürchtete man den motorisierten Individualverkehr in Form von Dampfmaschinen-Kfz-Monstern. In Großbritannien wurde 1865 der berühmte Red-Flag-Act erlassen. Solchen Fahrzeugen musste ein Mensch mit roter Flagge zu Fuß voraus gehen. Das galt anfangs auch für Kfz mit Otto-Motoren.

Bekannt ist auch eine Carl-Benz-Anekdote. In Mannheim, seiner Heimatstadt, gab es 1894 ein Tempolimit von sechs Stundenkilometern.4 Benz ließ einen Beamten, der dieses Limit überwachen sollte, mit einem seiner Kfz vom Bahnhof abholen und mit den vorgeschriebenen 6 km/h transportieren. Als sie von einem Pferdefuhrwerk locker überholt wurden, wies ihn der ungeduldige Beamte an, doch endlich schneller zu fahren. So sei das erste deutsche Tempolimit gefallen.

1906 einigte man sich im Länder-Bundesrat des Deutschen Kaiserreiches, innerorts die Geschwindigkeit von Kfz auf 15 km/h „das Zeitmaß eines im gestreckten Trabe befindlichen Pferdes“5 festzusetzen. Übrigens sind die Argumente gegen die Geschwindigkeitsbeschränkung seit damals unverändert: Allein einzelne Raser seien die „Schwarzen Schafe“; eine bessere Verkehrsinfrastruktur sei wirksamer und der Verkehrsfluss leide bei einem Tempolimit. Dabei trifft genau das Gegenteil zu. Später kam als Argument hinzu: Im Ausland gäbe es teils mehr Tote trotz Beschränkungen.

1923 wurde innerorts das Limit auf 30 km/h heraufgesetzt. Für außerorts wurden keine Beschränkungen genannt, doch Gerichte versuchten, 60 bis 70 Stundenkilometer als Limit durchzusetzen. Nach einem Weltkrieg und einer Revolution samt Konterrevolution hatte man dann in der parlamentarischen Demokratie die erlaubte Geschwindigkeit verdoppelt. Warum?

Maßloses Kapital – maßlose Tempi

Die wesentliche Ursache für dieses Tempo ohne Maß ist letzten Endes die „maßlose Bewegung“ des Kapitals selbst, wie von Karl Marx bezeichnet; eine Bewegung, die aus der Akkumulation, der Verwertung des Werts, resultiert, also aus dem Zwang, aus Geld mehr Geld zu machen. Die maßlose Kapitalbewegung und der Zwang zum immer größeren Produktausstoß, auch Wirtschaftswachstum genannt, hat auch eine immer größere Transportintensität zur Folge, führt zu immer mehr Transportkilometern, die in den Waren stecken.6 Dieses Tempovirus überträgt sich auch auf die Menschen, die immer schneller und immer weiter unterwegs sind. Zudem ist Geschwindigkeit geil, zumal das Durchtreten des Gaspedals viel weniger Energie benötigt als das Praktizieren des aufrechten Gangs.7. Ein Virus ist geboren; eine Sucht entstand.

Obgleich Henry Ford ein Faschistenfreund war und dem Fordismus eine faschistoide Tendenz innewohnt, gelang es selbst in den USA nicht, die Geschwindigkeit der Kfz unbegrenzt zu lassen. Tempolimits kamen dort sehr früh und die autobahnähnlichen Interstates sehr spät.8 Mussolini und Hitler setzten jedoch erfolgreich auf unbegrenztes Pkw-Tempo.

Um richtig schnell fahren zu können, braucht man kreuzungs- und gegenverkehrsfreie Straßen. Mussolinis Leute waren da schneller mit dem Bau der autostrade als die deutschen Faschisten mit ihrer Reichsautobahn. Dabei war der italienische Faschismus wiederum stark vom Futurismus beeinflusst, der eine Welt von Dynamik, Geschwindigkeit, Technik, Jugend und Gewalt propagierte. Bereits im Futuristischen Manifest von 1909 heißt es: „Wir erklären, dass sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen … ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die „Nike von Samothrake.“9

Und so gab es bereits 1922 in Italien Pläne und erste Baumaßnamen für eine autostrade. Das Argument, in Deutschland habe es ebenfalls vor 1933 Autobahnpläne und eine Gesellschaft namens HAFRABA („Verein zur Durchführung der Autostraße Hamburg-Frankfurt-Basel“) gegeben; man sei also den italienischen Faschisten voraus gewesen, ist zu relativieren. Denn nicht nur spätere NS-treue Betoneure, sondern auch Mussolinis Senator Piero Puricelli saßen im Vorstand der HAFRABA. Fritz Todt, im NS-Staat dann zuständig für den Reichautobahnbau, und Puricelli stritten sich, wer nun die Autobahnen erfunden habe.10

Wie eingangs erwähnt, wurden am 1. Oktober 1934 sämtliche Geschwindigkeitsbeschränkungen aufgehoben, 1939, nunmehr als Kriegsvorbereitung, solche wieder eingeführt. Unter der ersten Adenauer-Regierung wurde 1952 erneut die Tempofreiheit beschlossen und in demagogischer Weise als antifaschistisch ausgegeben. Trotz der hohen Verkehrsopferzahlen gelang es dem Tandem Rümmele-Seebohm nur, Tempo 50 innerorts durchzusetzen – zu mehr fehlte ihnen die Kraft. Immerhin dort gingen die Todeszahlen kurzzeitig zurück. Auf den Autobahnen und auch auf den Landstraßen durfte weiter unbegrenzt schnell gefahren werden. Zu mächtig waren die Alt-Nazis bei Daimler, VW und im ADAC.

Dann passierte in Sachen Tempolimit lange Zeit nichts. 1966 scheiterte Ludwig Erhard (CDU) als Kanzler und eine hausgemachte Wirtschaftskrise durchschüttelte das Land. Die Akkumulation stotterte, VW fertigte zu lange simple Krisen-Käfer. Die erste Große Koalition unter dem Ex-Nazi Kurt-Georg Kiesinger (CDU) kam und mit ihr wurde eine keynesianische Wirtschaftspolitik umgesetzt. Prompt kamen die Motoren von Wirtschaft und Automobilen wieder auf Touren. Die Autos wurden immer schneller und bescherten dem Land immer mehr Verkehrstote. 1970 waren es sogar 20 000, was Gerhard Mauz 1971 im Spiegel als glatten Mord bezeichnete. Unter Berücksichtigung der Dunkelziffer und einschließlich der DDR gab es in Gesamtdeutschland damals rund 25.000 Tote pro Jahr.

Nun wollte Verkehrsminister Georg Leber, der 1969 sein Amt mit dem Versprechen antrat, keinen Deutschen mehr als 20 Kilometer von der Autobahn entfernt leben zu lassen, Tempo 100 auf den Land- und Bundesstraßen. Dafür wurde er vom Spiegel fast gegrillt. Doch Leber blieb tapfer. Am 16. März 1970 wurde hier Tempo 100 eingeführt. Aufgrund der deutlichen Rückgänge der Toten- und Verletztenzahlen wurde dies bis heute auch beibehalten.

Anfang 1973 schlug die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) unter ihrem Präsidenten Fritz Heller eine allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen, ja gar einen Fahrtenschreiber für Pkws ab 75 PS – das hat heute fast jeder Kleinwagen! – vor. Erneut betrieb die Presse Bashing mit dem aufrechten Beamten und seinem Stab. Ergebnis: Die Vorschläge wurden von der Regierung stillschweigend kassiert.

Ölkrise

Wenige Monate später, im Herbst 1973, kam die Ölkrise. Sie brachte kurzzeitig Tempo 100 auf der Autobahn und 80 auf der Landstraße. Allen Widerständen zum Trotz; Verkehrsminister Lauritz Lauritzen (SPD), unterstützt von Kanzler Willy Brandt, setzte sich durch. 1974 wagte sich die SPD, die nun mit Helmut Schmidt den Kanzler stellte, trotz FDP-Koalitionspartner ans Thema Autobahn-Tempolimit. Erneut gab es eine beispiellose Kampagne des Tempofreiheitskartells aus Autokapital, ADAC und Blättern wie Auto Motor Sport, Bild und FAZ. Dabei war inzwischen klar, dass Tempo 100 auf Autobahnen im vorausgegangenen Jahr die Zahl der Toten im Vergleich zum Vorjahr um bis zu 61 Prozent (!) reduziert hatte. Das bedeutete rund 600 Straßenverkehrstote weniger. Lauritzen wollte deswegen Tempo 100 per Verordnung durchsetzen. Doch der mehrheitlich CDU-regierte Bundesrat machte ihm, angeführt von dem Alt-Marinerichter und Matrosenmörder, Ministerpräsident Hans Filbinger (Baden -Württemberg) und dem Ex-Kriegsmarinehelfer und Ministerpräsident Gerhard Stoltenberg (Niedersachen) einen Strich durch die Rechnung. Franz Josef Strauß, 1943 Offizier für wehrgeistige Führung, unterzog sich einem legendären „Selbstversuch“ mit Tempo 100 („Stau, Vogel gezeigt, Fast-Unfälle“) und hatte damit „bewiesen“, was zu beweisen war: Tempo 100 sei in der Bevölkerung „schlicht nicht durchsetzbar“. Stattdessen kam die „Richtgeschwindigkeit 130 km/h“, nach der sich niemand zu richten hat. Aufgrund des Fehlens einer solchen Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen fanden seither mehrere Tausend Menschen unnötig den Straßenverkehrstod.

Und der Kampf ging weiter. Das BASt fand, ebenfalls 1974, heraus, dass auch bei einer höheren Höchstgeschwindigkeit von 130 km/h die Zahl der Schwerverletzten und Getöteten zwischen 10 und 23 Prozent rückläufig sein würde. Bei damals 1000 Verkehrstoten jährlich auf den Autobahnen waren das bis zu 230 Menschen, die am Leben hätten bleiben können, und Tausende Nicht-Schwerverletzte. Doch der Bericht machte auch klar, was gegen ein Tempolimit sprach: die Kapitallogik. Auf der Grundlage von „wirtschaftlichen Aspekten“, so der BAst-Bericht, sei das Limit abzulehnen, während es wiederum aus Sicherheitsgründen „vorzuziehen“ sei.11 Es war klar, welche Alternative vorgezogen wurde.

1981 berief Verkehrsminister Volker Hauff (SPD) die sogenannte Höcherl-Kommission, die die Verminderung der immer noch gigantischen Unfallbilanz (13.000 Tote pro Jahr) ins Auge fassen sollte. Hermann Höcherl, CSU, ließ seine Kommission tatsächlich Tempo 30 innerorts vorschlagen. Sie empfahl zunächst auch eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf Autobahnen, um dann am Ende doch einen Rückzieher zu machen und zu konstatieren, sie sei nicht in der Lage, „zu einer abschließenden Empfehlung zu gelangen.“12 Drei Jahre später war Höcherl dann in der Lage, betrunken ein Kfz zu steuern und sich von der Polizei erwischen zu lassen. Ein alter CSU-Brauch, meist ohne größere Folgen.

Dann kamen Kanzler Helmut Kohl, das „Waldsterben“ und der Einzug der Grünen in den Bundestag. Erneut gab es, inzwischen auch aus Umweltschutzgründen, Druck, den deutschen Sonderweg zu beenden. Mittlerweile hatten fast alle europäischen Länder auf ihren Autobahnen die Geschwindigkeit begrenzt; in Italien erfolgte dies 1975. Während die Azzuri also Abschied von dieser faschistischen Tradition nahmen, hielten die deutschen Verkehrspolitiker ihr die Treue. Dabei ergaben bereits 1974 Umfragen, dass es eine Mehrheit für ein Tempolimit gab.

Prüfauftrag

Um die Grünen abzuwehren, organisierte Kohl 1985 einen von Anfang an auf Limit-Verhinderung angelegten Tempo-100-„Großversuch“. Heiner Geißler, damals CDU-Generalsekretär und später Großmanipulator bei der Stuttgart 21-Schlichtung, machte von Anfang an klar, wie die Sache zu laufen habe. Der Prüfauftrag habe „nicht das Ziel, eine Tempogrenze einzurichten“, sondern den Beweis zu führen, dass eine solche überflüssig sei.13

Winfried Wolf listet u. a. auf: Es wurde kein Jahreszyklus untersucht, sondern nur der Zeitraum Januar bis Oktober. Der Januar war dabei außergewöhnlich kalt, weswegen die Durchschnittsgeschwindigkeiten um 12 Prozent niedriger waren. Außerdem wurde auf den untersuchten Abschnitten gar nicht zwingend die Einhaltung von Tempo 100 gefordert. Stattdessen gab man augenzwinkernd bekannt, dass die Autler auf den untersuchten Abschnitten auch schneller fahren durften. Als schließlich die tatsächlich gefahrenen Geschwindigkeiten gemessen wurden, war klar: nur 28,6 Prozent hielten sich an das Tempo 100. Der Rest fuhr schneller, teils sogar über 150 km/h. Der TÜV erwähnte im November 1985 in einer knappen Zusammenfassung der „Großversuch“-Ergebnisse den Rückgang der Unfall- und Opferzahlen erst gar nicht. Umgehend beschloss die Kohl-Regierung: kein Tempolimit. Ein Jahr später war der gesamte Bericht immer noch nicht veröffentlicht. Erst Ende 1986 machte die Deutsche Straßenliga publik, was der TÜV geheim hielt: Auch im Rahmen des manipulierten Versuchs war die Verkehrsopferzahl um 20 Prozent zurückgegangen.14 Zehn Jahre nach dem manipulierten „Großversuch“ belegte das Umwelt und Prognose Institut (UPI) Heidelberg – heute das einzig verbliebene Umweltinstitut, das nicht von Aufträgen des Autokapitals abhängt – in einer Untersuchung zu Tempo 30/80/100, dass in einer Dekade etwa 20 Prozent der Unfalltoten auf deutschen Straßen wegen Überschreitung dieser Geschwindigkeiten sterben mussten. Das waren knapp 2000 Straßenverkehrstote und 28.106 Schwerverletzte beziehungsweise 75.677 Leichtverletzte.15 Als der UPI-Chef Dieter Teufel im Jahr 2000 seine Studie aktualisierte, regierte längst Rot-Grün. Doch auch diese Regierung dachte nicht daran, ein Tempolimit einzuführen. Vor allem Gerhard Schröder (SPD), der sich gerne als „Autokanzler“ feiern ließ, war strikt dagegen. Das Verfass ungsgericht ließ eine Klage des VCD gegen das Autobahnrasen erst gar nicht zu. Die Regierung sei da nicht völlig untätig, daher sei eine Klage zwecklos.

Zu diesem Zeitpunkt war die DDR schon 20 Jahre verschwunden und damit auch das Tempolimit 100 auf den Ost-Autobahnen seit 1992 passé. Inzwischen war der Ex-Wehrmachtsleutnant der Reserve, Friedrich Zimmermann (CSU), Verkehrsminister. Unter seiner Ägide wurde die „sozialistische Gleichmacherei“ im Autobahnverkehr beseitigt. Die Folgen waren dramatisch: In den neuen Bundesländern explodierte die Zahl der Verkehrstoten förmlich. Dass die friedliche Revolution aufgrund der Zusatzmotorisierung der ehemaligen Trabant-Fahrer und der Tempofreiheit auf Autobahnen in den Jahren nach der Wende rund 14.000 zusätzliche Todesopfer forderte und damit eine der blutigsten Revolutionen auf deutschem Boden war, ist eine bis heute verdrängte Tatsache.16

2004 unterzeichneten 20 Professoren aus dem Bereich Straßenverkehrswesen, was mehr als drei Viertel aller aktiven Professoren in diesem Wissenschaftsbereich entspricht, ein Memorandum mit der Forderung nach „Geschwindigkeitsbegrenzung auf Bundesautobahnen“. Vorgeschlagen wurden moderate 130 – 140 km/h.17

Die Schröder-Regierung reagierte erst gar nicht. Die Grünen kamen jetzt von Tempo 100 ab und erhöhten auf 130 km/h. Inzwischen war die BRD das einzige Land der Welt außer Afghanistan, Bhutan, Nordkorea, Haiti, Nepal und Somalia ohne Tempolimit auf mehrspurigen Straßen. Eine illustre Runde.

2005 wurde Schröder von Angela Merkel abgelöst, die SPD zum Juniorpartner in einer Großen Koalition degradiert. Merkel war natürlich gegen ein Tempolimit. Und so ging es 16 Jahre weiter – trotz drohender Klimakatastrophe. Seit 2009 stellte die CSU, die Raser- und Bierkonsumentenpartei schlechthin, mit Peter Ramsauer, Alexander Dobrindt, Christian Schmidt und Andreas Scheuer den Verkehrsminister. 2020 wagte die SPD als Juniorpartner in der letzten Regierung Merkel erneut die Forderung nach einem Autobahn-Tempolimit, wohl wissend, dass sie damit ausgebremst würde. Als die Grünen im gleichen Jahr den Antrag auf ein Tempolimit stellten, wurde das im Bundestag ebenfalls von einer Raser-Volksfront aus SPD, CDU, FDP und AfD abgelehnt.

2021 kam es nach der Bundestagswahl zur sogenannten Ampel. SPD und FDP verbündeten sich in Sachen Tempolimit; Strippenzieherin dabei waren die damalige saarländische Verkehrsministerin Anke Rehlinger (inzwischen Ministerpräsidentin im Saarland) und ihr gelber Saar-Beipack Oliver Luksic (FDP). Die Grünen ließen sich über den Tisch ziehen: Es gab keinen grünen Verkehrsminister. Und noch vor jeder Verhandlung über einen Koalitionsvertrag war klar: Es wird auch kein Tempolimit geben. Und das, obwohl die Grünen bei der Wahl mehr Prozentpunkte als die FDP erzielten und obgleich die SPD die Tempolimit-Forderung im Parteiprogramm hat.

Blutige und fatale Bilanz

Seit 1945 sind auf deutschen Straßen rund eine Million Menschen ums Leben gekommen. Hätte man bei Gründung der Bundesrepublik, 1949 Tempo 30/80/100 eingeführt, so hätten, grob geschätzt, allein dadurch rund 200.000 Menschen nicht sterben müssen. Mehrere Millionen Menschen wären nicht verletzt bzw. traumatisiert worden. Obwohl seit Jahrzehnten eine Bevölkerungsmehrheit ein Tempolimit auf Autobahnen befürwortet, Tempo 30/80 in geschlossenen Ortschaften und auf Landstraßen auch von der Polizei gefordert wird, und obgleich Umweltschutz und die notwendige CO2-Vermeidung geradezu nach einem Tempolimit schreien, geschieht auf diesem Gebiet erneut nichts. Das ist schlicht kriminell – und eine der letzten Erbschaften des deutschen Faschismus.

Zu guter Letzt: Ab 2024 gibt es EU-weit bei allen neuen Pkw einen zwingend vorgeschriebenen Fahrassistenten mit der Bezeichnung „Intelligent Speed Adaptor“ (ISA), der die Einhaltung der örtlichen Geschwindigkeitsbegrenzungen „eigentlich“ erzwingt. Doch Noch-Verkehrsminister Scheuer sorgte in Brüssel 2021 dafür, dass man ihn durch ein Tippen aufs Gaspedal ausschalten kann.

Klaus Gietinger arbeitet als Filmregisseur, Sach- und Drehbuchautor. Er bedankt sich bei Frank-Markus Schmidt und Winfried Wolf für die Informatioenen.

Anmerkungen:

1 Der Spiegel vom 16.10.1956. Dies ist auch die Quelle bei den folgenden Zitaten.

2 Knoflacher, S. 134 ff.

3 Wolf 2007, S. 165.

4 Zängl, S. 26.

5 Reichsanzeiger, zitiert nach Praxenthaler, S. 8.

6 Wolf, 2021, S. 17 ff. und passim Gietinger, 2010, S. 77ff., 2019, S. 27ff., Konicz, S. 38ff.

7 Knoflacher, 142f.

8 Wolf 2021, S. 92

9 Futuristisches Manifest, hier zitiert nach Wolf 2007, S.162.

10 https://www.bundesarchiv.de/DE/Content/Virtuelle-Ausstellungen/Ein-Sehr-Sehr-Guter-Rat/ein-sehr-sehr-guter-rat.html

11 Zitiert nach Praxenthaler, S. 39f.

12 Zitiert nach Praxenthaler S. 43

13 Spiegel, 8.10.1984.

14 Wolf 1992, S. 389 und S. 386ff.

15 Teufel, https://www.upi-institut.de/upi42.htm.

16 Gietinger 2010, S. 16f.

17 Zängl, S. 130.

Über Klaus Gietinger

lebt in Saarbrücken. Er ist Sozialwissenschaftler, Drehbuchautor, Filmregisseur, Verkehrsexperte und Buchautor. Er ist aktiv bei Bürgerbahn statt Börsenbahn.

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