Ein Handlungsleitfaden für eine erfolglose Bahn

Oder: Wie schlaue Unternehmer:innen schlaue Bahnpolitik machen würden

von Holger Busche

Japan misst die Pünktlichkeit am Bahnsteig nicht nur zeitlich in Sekunden, sondern auch räumlich in dm, damit die Menschen auch auf dem Punkt an ihrer Tür stehen. „Heute in umgekehrter Wagenreihung“, sprich „sehen Sie zu, wie sie binnen 30 Sekunden durch die Fahrgastmassen ans andere Zugende kommen“, ist dort ebenso unbekannt wie „heute ohne Wagen 3; 6 & 7“ oder „Das einzig funktionierende WC in Wagen 1“. Würde unsere Bahn es nicht so erschweren, könnte man im Zug ganz entspannt schlafen, arbeiten, essen, trinken, ausruhen oder mit den Kindern spielen.

Doch diese Bahnprobleme verdecken nur die wahren Grundprobleme: Autos parken vor der Tür und Menschen wohnen meist nicht im Bahnhof. Je kürzer die An- und Abreise zur Station ist, desto besser. Jahrzehntelanges Stilllegen von Halten und Strecken verlängerten diese Wege. Unternehmer lieben Kundschaftsnähe und würden somit viele Halte neu bauen bzw. reaktivieren – Auf dem Land sowie in Städten, Stadtteilen und Vororten.

Am Bahnhof folgt das Warten auf den Zug. Unternehmer sagen: „Stundentakt ist Mist!“, da die Kundschaft keine Dreiviertelstunde am Bahnsteig absitzen will. Auch eine Stunde später da zu sein, nur weil Arbeit oder Kinder noch einige Minuten länger brauchten, ist blöd. Unternehmer lassen ihre Kundschaft nicht warten und daher ihre Züge öfter fahren (30‘-Takt und oft noch häufiger). Sie sehen, was es zu holen gibt: Auf jeden Fahrgastkilometer kommen die von acht Auto- und zwei Beifahrenden.

10‘-Takte sind mehrfach genial: Kundschaft, die sich die Abfahrten zur gleichen letzten Ziffer, z.B. „immer was mit 7“ merkt oder wegen kurzer Wartezeit einfach so den nächsten Zug nimmt („Pater-Noster-Effekt“), spart Kosten für Werbung und nutzt Optionen: Die Sportlichen steigen in 3 Minuten um, die mit Kinderwagen in 13 und wer noch was kauft, freut sich über 23 Minuten Zeit. Schlaue Unternehmer lassen auch mehr Züge ohne Umstieg zum Zielort fahren, denn sie wissen: Jedes Umsteigen kostet bis zu 1/3 der Kundschaft.

Zugsysteme begünstigen dichte Takte: Je dichter, desto weniger teures Warten auf Anschlüsse. Zudem steigt, wenn alle Züge gleich lange brauchen, die Kapazität; die Kosten für jede zusätzliche Fahrt sind extrem gering. Unternehmer kennen dieses Prinzip der Grenzkosten.

Doch leider ignorieren Bahn und Politik diese Unternehmer-Prinzipien und denken vom ICE und hochpreisigen Fernreisenden aus. Sie sollen schneller fahren, auch wenn sie dadurch Regional- und Güterzüge, deren Markt viel größer ist, an die Seite drängen. Das reduziert die Kundschaft sowie die Kapazität und die Auslastung des Netzes und erhöht damit dessen Preise. All das schadet auch dem Klima, da fast alles auf der Straße fährt oder gar (billig) fliegt.

Dabei führen nur ein Achtel der gefahrenen Kilometer weiter als 250 km. Innerdeutsche Flüge leisten sogar nur zwei Prozent des Verkehrs. Rund 2/3 der Kilometer liegen im Regionalbereich (15-250 km). Wege kürzer als 15 km sind zwar noch häufiger, aber auch so kurz, dass sie nur rund ein Viertel der insgesamt gefahrenen Kilometer ausmachen. Lkw fahren zu drei Viertel (Tonnenkilometer) mehr als 150 km, die Hälfte sogar über 400 km.

Unternehmer wissen also, wie relevant die Schiene zum Klimaschutz und zur Entlastung von Menschen, Straßen und Wirtschaft beitragen könnte.

• Takt vor Tempo = Dichtgetaktetes, harmonisches Fahren

• Mehr Kundennähe durch viel mehr Stationen

• Schneller Ausbau kleiner und mittelgroßer Maßnahmen

• Gezielte Großprojekte für Regional- und Güterzüge

• Aufbau eines Netzes für kombinierte Verkehre (Lkw – Zug – Lkw)

• Qualifizierung von Fernzügen durch bessere Preise, mehr Komfort, umsteigefreie Verbindungen, um vereinzelte Fahrzeitverlängerung mehr als nur zu kompensieren

Unternehmer:innen würden sofort beginnen und echte Ziele (z.B. 20-30% am Personenverkehr und fernlasterfreie Autobahnen) setzen, wäre da nicht der offensichtliche und ungeschriebene Handlungsleitfaden zur jahrzehntelangen Verkehrspolitik:

Sie regieren und wollen sich rühmen, möglichst viel für die Schiene zu tun, ohne die Dominanz anderer, von Ihnen viel geliebteren, Verkehre zu gefährden? Klingt schwer, ist aber ganz leicht. Produzieren Sie einfach möglichst aufwändig an den eigentlich wichtigen Märkten vorbei:

Spezialisieren Sie sich auf kleine Marktanteile von Gruppen, deren Beförderung maximalen Aufwand erdordert. Einige Beispiele:

Reden Sie immer nur vom Pendelverkehr, der auf die Schiene muss! Sie wollen ja freie Straßen zu allen Zeiten. So ignorieren Sie die 85 Prozent der Reisenden, die im Freizeit- (31% der Pkm) und Besorgungsverkehr (45% der Pkm) oder aus sonstigen Gründen unterwegs sind. Die drohen Ihnen mit Einnahmen, außerhalb der Spitzenlast, ohne dass Sie mehr Züge kaufen müssen. Erinnern Sie sich an die jahrzehntelange, nun aber meist eingestellte Praxis, abends und wochenends Züge zu streichen. Diese Konzentration auf Spitzenlasten erhöht nicht nur Ihre Produktionskosten und senkt Ihre Fahrgastzahl (lästige „Beförderungsfälle“), sondern reduziert die Staus Ihrer eigentlichen Klientel auf der Straße

Erzeugen Sie Rennfieber: „Speed First“. Fordern Sie Mitleid und gelebte Solidarität mit der kleinen Minderheit Geschäftsreisender, die – wie Sie selbst – noch am selben Tag zurückmüssen. Hohe Spitzengeschwindigkeiten machen die Züge und Strecken teurer und fegen andere Züge und damit Kundschaft von den Gleisen

Sorgen Sie auf jeden Fall durch Stundentakte und möglichst wenigen Stationen dafür, dass gerade kurze, alltägliche Wege nur schwer ohne Auto gehen. Das sichert nicht nur Pkw-Verkäufe, sondern auch deren Nutzung. Schließlich nutzt, wer ein Auto hat, dieses auch für Fahrten, die auch mit der Bahn hätten gehen können, schlicht weil es da ist. Zudem schafft das Auto selbst Ziele, die nur per Auto zu erreichen sind, und bringt Verbündete, die große Flächen für z.B. Gewerbe weit abseits errichten wollen

Verkaufen Sie kleine Ziele, (16% statt 8% im Personen- und 25% statt 18% im Güterverkehr) mit einem tollen Namen (z.B. „Germany‘s Next Top Fahrplanmodel“ oder so) ganz groß, auch wenn sie kaum Klimaschutz bringen

Erzwingen Sie das Umsteigen zwischen Zügen! Kurswagen, Heckeneilzüge und InterRegio, die viele Verbindungen umsteigefrei ermöglichten, sind peinliche Fehler früherer Regierungen. Zum Glück glauben Ihnen inzwischen alle, dass man praktisch nie Zielorte ohne umständliches Umsteigen erreichen kann. Einzelne Versuche, derartige Verbindungen umsteigefrei anzubieten, können Sie gleich mehrfach erfolgreich torpedieren:

Die Aufteilung der Fahrzeugflotte in lauter kleine und (wichtig!) zueinander inkompatible Gruppen von Vehikeln. Hilfreich dabei sind Kupplungen, Drücke der Bremssysteme und sehr effizient: Steuerungssoftware und die Aufteilung der Zuständigkeiten in lauter verschiedene Unterunternehmen. Wenn alle allen anderen für alles Rechnungen schreiben müssen, sind die gut damit beschäftigt und vermeiden die Zusammenarbeit mit anderen Ihrer oder gar fremder Unternehmen. Es adelt Sie besonders, wenn Ihre eigenen Schienenunternehmen auf der Straße transportieren lassen. Wenn Ihrem Bahnunternehmen diese Straßentransportfirma dann auch noch gehört, sind Sie in die Königsklasse aufgestiegen. Glückwunsch!

Achtung: Das mögliche Wechseln zwischen unterschiedlichen Zügen birgt die Gefahr der Vernetzung. Dagegen helfen zum Beispiel bauliche Trennungen, die zu weiten Wegen über viele Treppen führen. Ohne Bauaufwand schaffen Sie zusätzlich abschreckende Hindernisse ganz einfach durch tarifliche Trennungen. Je weniger Kundschaft, desto leichter können Sie die Infrastruktur dann anschließend verfallen lassen.

Höhere Kenntnisse der Betriebswirtschaft erfordert es allerdings schon, den hohen Fixkostenanteil bei Schienensystemen zu ignorieren. Streichen Sie Zugfahrten, ohne Züge zu sparen. Dann schrumpfen das Angebot, Nachfrage und Einnahmen. Da die Fixkosten bleiben, wird Ihr System auf diese Weise viel teurer.

Investieren Sie verschwenderisch. Je größer ein Projekt, desto weniger sollte es genutzt werden. Vorsicht: Neubaustrecken führen zu mehr Geschwindigkeit und Kapazität. Daher sollten diese möglichst nur von ein, zwei Zügen pro Stunde und Richtung befahren werden. Geeignet gewählte Höchstgeschwindigkeiten, die gerade keine knotenfähigen Fahrzeiten zulassen, hängen zusteigewillige Menschen der Regionen durch abschreckend langes Warten ab. Etwas mehr Geschick erfordern höhengleiche Abzweigungen, um nutzenstiftende Anschlüsse auszuschließen. Wenn Sie mit hohen Investitionen es schaffen, die Attraktivität oder Kapazität der Infrastruktur zu verringern, dann haben Sie es an die Spitze geschafft. Wiederum Glückwunsch.

Zum Schluss noch das Wichtigste, um sich lästige Lobbyarbeit für die Schiene vom Leib zu halten: Halten Sie sich das oder die Bahnunternehmen im Staatsbesitz, damit Ihre Eisenbahnangestellten nicht widersprechen (dürfen), was immer Sie tun bzw. nicht tun, insbesondere bzgl.:

• Abbau von Steuersubventionen für und Übernahmen von externen Kosten des Straßen- und Flugverkehrs

• Tempolimits & Nachtflugverbote

• Kostengünstige oder gar -lose Zurverfügungstellung öffentlicher Flächen zum Parken

• Streichen von sinnvollen Investitionen in den Schienenverkehr

Zu diesem Handlungsleitfaden gibt es zum Glück zwei Auswege:

1. Die Bundesregierung will tatsächlich mehr Lebensqualität und Klimaschutz durch mehr Schienenverkehr anstelle von Stau, Abgasen und Lärm durch Flug- & Straßenverkehr und richtet dafür Ihre Politik ihrer beiden FDP-Ministerien für Verkehr und Finanzen neu aus.

2. Eine Unternehmer-Bahn ersetzt das/die Staatsbahnunternehmen.

Für wie wahrscheinlich Sie es auch immer halten, dass die Bundesregierung die FDP zum Unternehmertum bekehren kann (Ausweg 1): Ich bin jederzeit gerne bereit, als Ausweg 2 einen Euro für die Übernahme der Bahn zu investieren, um sie auf die wahren Märkte auszurichten und durch mehr Güter-, Regional- & qualifizierten Fernzügen mit Klimaschutz zu gewinnen. Lobby-Arbeit bzgl. der Regulierung von Straßen und Flügen sehr gerne inklusive.

Über Holger Busche

Als promovierter Geophysiker u.a. aktiv bei PRO BAHN und VCD ein. Sein Hauptwerk „Der letzte Fahrplanwechsel“ der „PRO BAHN Konzepte“ (1994-2000) ist Grundlage des Fahrplans von fünf Bahnlinien in Schleswig-Holstein. 2015 schob er den Wettbewerb um den Zielfahrplan Kiel – Lübeck an. Bereits 1998 veröffentlichte er die erste Berechnung zu wasserstoffgetriebenen Zügen und organisierte 2014 und 2019 die International Hydrail Conference in Norddeutschland. Er fährt zumeist mit dem Umweltverbund.

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