rail blog 155 / Michael Jung

Warum die Reaktivierung von Bahnstrecken nicht vorangeht

Ein Online-Seminar der VCD-Arbeitsgruppe ÖPNV mit dem Experten Ingo Dewald gab interessante Einblicke, warum trotz der Erhöhung der Bundesmittel für Streckenreaktivierung im Rahmen der 2020 erfolgten Novellierung des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes (GVFG) auf 2 Mrd. Euro pro Jahr es mit den Streckenreaktivierungen nicht richtig vorangeht. Fehlendes Geld ist es diesmal nicht.

Vor drei Jahren wurde vom Verband Deutscher Verkehrsunternehmen eine Liste von 227 reaktivierungswürdiger Eisenbahnstrecken vorgelegt. Nur 10 der darin genannten Projekte sind abgeschlossen, 15 weitere sind in konkreterer Planung oder im Bau. Deutlich mehr hätte passieren können.

Was sind nun die Ursachen dafür: Es sind auf jeden Fall nicht Bürgerinitiativen oder einzelne Kläger, die sich für eine Änderung oder angepasste Planung eines Bahnprojektes einsetzen, sondern es ist ein von außen nicht leicht durchschaubares Dickicht von mangelndem Willen, Unlust, Inkompetenz und auch gezielter politischer Sabotage, die sich über jeden NIMBY (not in my backyard)-Kläger freuen, damit sie ein Projekt nicht umsetzen müssen.

  1. Mangelndes politisches Interesse und Verständnis der Aufgabenträger und der lokalen Politik. Reaktivierungsprojekte dauern von der Planung bis zur Umsetzung in der Regel mehr als vier Jahre, also länger als eine Legislaturperiode. Kommt es in der ersten Periode zu einem positiven Beschluss zur Reaktivierung, ernten bei einem Machtwechsel die jetzigen Oppositionspolitiker dann die Früchte der Inbetriebnahme in der nächsten Legislatur. Das dämpft die Einsatzbereitschaft der Politiker vor Ort, sich für eine Streckenreaktivierung aus dem Fenster zu hängen, nachhaltig.
  2. Zu komplizierte und langwierige Planungsverfahren. Ist eine Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) erforderlich, dann dauert es alleine 1-2 Jahre, bis nach Ausschreibung die entsprechenden Umweltgutachten (Biotopkartierung, Avifaunistische Gutachten, Reptilien- und Vogelnester zählen usw., was ja nur in der Vegetationsperiode stattfinden kann) vorliegen. Bei kleinen Maßnahmen, wie Streckenelektrifizierungen, Umbau von Bahnübergängen etc. soll nun künftig auf eine UVP im Rahmen eines Planfeststellungsverfahren verzichtet werden. Skurril aber ist: die vereinfachte Regelung gilt zum Beispiel für die Verlängerung eines Bahnsteiges, aber nicht für die Verlängerung mehrerer Bahnsteige an einer Strecke. Da bedarf es wieder eines umfassenden Planfeststellungsbeschlusses. Das raubt Zeit.
  3. Die meisten Planungen macht die DB. Diese hat nicht nur begrenzte Planungskapazitäten, sondern konzentriert diese auch noch auf die prestigebehafteten Großprojekte. Da bleiben kleine Reaktivierungsmaßnahmen auf der Strecke. Gleiches gilt für die Planfeststellungsbehörden und Fachplanungsämter der Länder, die häufig durch Straßenbauplanungen gut ausgelastet sind. Und die Politik sonnt sich lieber im Schein von Großprojekten, mit Kleinprojekten kann man sich keinen Ruhm verdienen.
  4. Die DB-Planungsverfahren sind unnötig kompliziert, Das Planregelungswerk der DB ist aufgebläht und widersprüchlich. Das treibt die Kosten und erhöht den Abstimmungsbedarf. Zudem neigt die DB dazu, sich auf die sichere Seite zu legen, also lieber technisch überspezifiziert zu planen, als nach schlanken Lösungen zu suchen.
  5. Nach den DB-Planungen werden die Projekte immer unnötig teuer. Das treibt die Kosten und verringert den Nutzen nach der üblicherweise durchzuführenden Nutzen-Kosten-Analyse (NKA). Branchenexperte gehen davon aus, dass die Kosten nach dem DB-Kostenkennwertkatalog um den Faktor drei überhöht sind im Vergleich zu dem, was bei einem kostengünstigen Bauverfahren möglich wäre.
  6. Bei Reaktivierungsmaßnahmen werden häufig – teilweise von Projektverhinderern absichtlich – völlig überhöhte Ausbaustandards gefordert / zu Grund gelegt.  Für eine für den SPNV zu reaktivierende Nebenstrecke muss nun wirklich kein Gleisbett für 22,5 Tonnen Achslast gelegt werden.
  7. Die Nutzenberechnung in der NKA stellt zu wenig auf Umweltfaktoren ab und übergewichtet reine Fahrzeitersparnisse. Das führt zum Beispiel im Fall der geplanten Elektrifizierung der Bestandsstrecke von Stade nach Cuxhaven dazu, dass dieser Streckenteil gleichzeitig auf eine Höchstgeschwindigkeit von 160 km/h ausgebaut werden soll, nur um den NKA-Faktor über eins zu heben, ohne dass diese Fahrzeitverkürzung um rund fünf Minuten für die Fahrgäste irgendeine Verbesserung der Umsteigebeziehungen brächte. Dafür ist aufgrund des problematischen Untergrunds der Strecke die Erhöhung der Streckenhöchstgeschwindigkeit doppelt so teuer wie das reine Elektrifizierungsprojekt. Gleichzeitig fehlt aber das Geld für die Beseitigung zweier eingleisiger Brücken auf dieser Strecke, denn diese Kosten hätten die Elektrifizierung „unwirtschaftlich gemacht“. Folge dieser völlig abwegigen „Wirtschaftlichkeitsberechnung“ (Eisenbahnbetriebswissenschaftliche Untersuchung / EBWU) ist, dass die Gesamtstrecke von Hamburg Hbf bis Cuxhaven mit Dieseltraktion gefahren wird, davon die Hälfte unter Fahrdraht.
  8. Der allgegenwärtige Mangel an Fachkräften verhindert / verzögert die Reaktivierung von Bahnstrecken. Die großen Bahnbaufirmen haben kein Interesse an solchen „kleinen“ Baumaßnahmen, und häufig fehlen auf der DB/EBA-Seite die Techniker für die Abnahme-/Inbetriebnahme. So kommt es vor, dass erst Monate nach Baufertigstellung die Strecke ab- und in Betrieb genommen werden kann.
  9. Leider sind auch häufig Grüne Lokalpolitiker gegen die Reaktivierung von Bahnstrecken, weil sie diese gerne als Fahrradschnellwege für ihre Wählerklientel ausbauen möchten. Das EBA gibt bei einer Entwidmung von Bahnstrecken diesem Begehren allzu leicht statt.
  10. Auch die Umwelt- und Fahrgastverbände (VCD, Pro Bahn) stürzen sich eher auf die Großprojekte (Deutschlandtakt, Neubaustrecken) als vor Ort der lokalen Politik Druck zu machen, sich konkret mit den Widerständen vor Ort auseinanderzusetzen und sich für das Konzept einer Flächenbahn, die notwendigerweise die Reaktivierung von Bahnstrecken einschließen muss, einzusetzen.

Fazit: Pro Bahn und VCD haben als bundesweite Organisationen kein Konzept, wie sie dem diffusen und anhaltenden Widerstand gegen die Reaktivierung von Bahnstrecken vor Ort offensiv begegnen können.

Über Michael Jung

Jahrgang 1950, Dipl.-Volksw., arbeitete zuerst in einem Großkonzern der Mineralölwirtschaft und dann 28 Jahre bei einer deutschen Großbank, davon 10 Jahre lang im Bereich Finanzierung von Eisenbahn- und Nahverkehrsprojekten weltweit. Seit 8 Jahren ist er Sprecher der Bürgerinitiative Prellbock-Altona e.V., die sich für den Erhalt und Modernisierung des Fern- und Regionalbahnhofs Altona am jetzigen Standort einsetzt.

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