Systemsprenger
Als im September 2020 der damalige Verkehrsminister Andreas Scheuer mit großem Trara die Idee eines »europäischen Hochgeschwindigkeitsnetzes« unter dem Namen »Trans-Europ-Express 2.0« präsentierte, fiel niemandem der eklatante, antagonistische Widerspruch zwischen seiner Behauptung, diese Züge würden sich in die Taktverkehre der jeweiligen Ländern einfügen, und den Angaben in der schriftlichen Präsentation auf: Die Ersteller der Studie schrieben eindeutig, dass die geplanten Züge, um Strecken wie Berlin – Barcelona zurücklegen zu können, reihenweise Halte auslassen und teilweise auch andere Strecken fahren würden.
Sie würden also das Taktsystem sprengen.
Maximal an einer Stelle würde es passen, also in Berlin oder in Frankfurt oder in Lyon oder in Barcelona, aber nicht an allen Stellen.
Dass ein Zugsystem scheitern kann, das nicht vorne und hinten, sondern nur an einem Ende »passt«, hätte man seit dem Aus für den Metropolitan wissen können, das nicht nur an seinem speziellen Preisgefüge lag, sondern auch daran, dass seine Fahrtzeitverkürzung durch das Auslassen aller Halte zwischen Hamburg und Essen nur denen etwas nutzte, die sich lediglich zwischen den wenigen Städten bewegten, in denen der Zug hielt. Wer über Köln hinaus weiterfahren wollte, stand dort so lange auf dem Bahnsteig, bis die Uhr auf den nächsten Taktknoten vorgerückt war – und diesen Knoten hätte man exakt mit dem normalen IC erreicht und sich neben einigen Dutzend Euro vielleicht sogar das Umsteigen erspart.
Man muss also wissen, was man tut. Wenn man das Taktsystem sprengt – und das tut die DB mit jedem »ICE Sprinter« –, ergibt das nur Sinn, wenn die Umstände es rechtfertigen, wenn also beispielsweise das Fahrgastaufkommen zwischen A und B zumindest zu bestimmten Zeiten so hoch ist, dass man neben Zügen, die »an jeder Milchkanne« halten, auch Züge einsetzt, die nonstop durchrauschen.
Wenn es genügend von diesen Zügen mit unterschiedlich vielen Haltstationen gibt, bekommt man im Grunde genommen eine Überlagerung von mehreren Taktsystemen – zu bewundern überall dort, wo mehrere der Zugtypen Regionalbahn, Regionalexpress, Interregio-Express, Intercity und ICE unterwegs sind und die Fahrpläne im optimalen Fall so aufeinander abgestimmt sind, dass die langsameren Züge mit mehr Halten an einem großen Taktknoten kurz nach den schnelleren Direktzügen abfahren und sich irgendwann am nächsten großen Knoten von einem schnelleren Zug aus dem nächsten Takt überholen lassen oder aber nur auf Teilstrecken verkehrende Regionalzüge so getaktet sind, dass sie wie im Musterland Schweiz immer kurz vor dem Taktknoten ankommen und kurz danach wieder zurückfahren. Gut anschauen lässt sich das beispielsweise auf der Oberrheinstrecke zwischen den Taktknoten Karlsruhe und Freiburg, wo die ICEs 1:01 bzw. 1:04 Stunden brauchen und man im RE mit Umsteigen in Offenburg 1:49 Stunden unterwegs ist, also knapp vor dem nächsten ICE ankommt.
Wenn noch Fahrplantrassen übrig sind, kann man auch noch weitere Züge einsetzen – zum Beispiel diese »TEE 2.0«-Expresse oder Nachtzüge, wobei die Nachtzüge der DB oftmals exakt in den Fahrplantrassen der IC fuhren und mit ihren Sitzwagen der letzte IC des Abends bzw. der erste IC des Morgens waren. Und wenn diese Nachtzüge seltener halten als die ICEs in den Tagesrandlagen, die oftmals ja auch die Milchkannen in Orten wie Lüneburg, Uelzen, Celle oder Donauwörth und Günzburg mitnehmen, dann kompensieren sie damit ihre geringere Höchstgeschwindigkeit und können die Takte auf lange Sicht einhalten und Überholungen weitgehend vermeiden. Wer mit Tempo 200 von Hamburg bis Hannover, von Hamburg bis Berlin oder auch von Hannover bis Würzburg durchfährt, ist kein Hindernis, auch nicht zwischen 21 und 24 oder zwischen 5 und 7 Uhr. Und schon die Nachtzüge der DB waren in Italien auf der »Direttissima« unterwegs.