Stuttgart 21 und sein Leistungswunder ETCS – Traum und Wirklichkeit
Noch vor kurzem hatte der baden-württembergische Verkehrsminister Winfried Hermann unter der Überschrift „Bahnknoten Stuttgart 21 entwickelt sich weiter“ öffentlich frohlockt:
„Die elektronische Zugsteuerung ETCS dient als Trägersystem für eine beträchtliche Steigerung der Kapazität der Infrastruktur.“ Unter Bezugnahme auf ein eingeholtes Gutachten kündigte er ein Schlaraffenland für Bahnreisende im Tiefbahnhof an: „Ein zentraler Schlüssel sei dabei die Digitalisierung des Schienenknotens, die es ermöglicht, dass es in der Spitzenstunde über hundert Ankünfte von Fern- und Regionalzügen sowie S-Bahnen am Hauptbahnhof und damit weit mehr als in den ursprünglichen S-21-Planungen vorgesehen geben kann.“
Das Schlaraffenland entspringt bekanntlich einem Märchen. Als solches entpuppten sich nun auch Hermanns Verheißungen. Ausgerechnet der Südwestrundfunk stellte in seinen Hörfunk- und Fernsehprogrammen die Frage: „Stuttgart 21: Wird der neue Bahnknoten mit ETCS funktionieren?“
Und der SWR gab wenig erfreuliche Antworten. Seine Recherchen für die ARD-Sendung „Plusminus“ hätten gezeigt: „Die neue Technik ETCS, von der so viel abhängt, hat ihre Tücken. Und das könnte Folgen haben: Womöglich werden zahlreiche Züge den neuen Stuttgarter Tiefbahnhof nicht anfahren können – mit gravierenden Folgen für die Fahrgäste.“
Seine Erkenntnisse stützt der SWR auch auf interne Meldungen der Bahn und Aussagen von Insidern zu ETCS-Problemen auf der vor 9 Monaten eröffneten Neubaustrecke Wendlingen-Ulm. Dort gäbe es immer wieder technische Störungen und als deren Folge Umleitungen über die alte Strecke (Geislinger Steige). Solche Probleme träten auch auf anderen mit ETCS ausgerüsteten Strecken auf.
Die Reportage schildert dann zahlreiche akribisch belegte Einzelfälle.
Eine kleine Auswahl: „Im April wird ein Zug umgeleitet, weil der Lokführer noch keine ETCS-Berechtigung hat – denn dafür ist eine spezielle Ausbildung inklusive Prüfung notwendig. Im Mai bleibt aus dem selben Grund ein ICE bei Wendlingen kurz vor der Einfahrt auf die Neubaustrecke stehen. Nur diesmal hatte niemand bemerkt, dass der Lokführer keine Genehmigung für das neue System hatte. Der Zug musste zurück nach Plochingen fahren und dann über die Altbaustrecke umgeleitet werden. Ebenfalls im Mai musste ein Zug bei Merklingen (Alb-Donau-Kreis) evakuiert werden. Der Zug konnte plötzlich laut Bahn nicht mehr fahren, weil der Befehl zur Weiterfahrt nicht auf den Zug übertragen werden konnte. Kein ETCS-Problem, sagt die Bahn. Der Lokführer widerspricht: „Wenn technisch der Fahrbefehl den Zug nicht erreicht, dann hängt das mit ETCS zusammen.“
Nach Ansicht des Lokführers sind die Aussichten trübe: „Der Eindruck, dass die Fälle bisher nur vereinzelt auftreten, sei trügerisch.“ Denn zwischen Wendlingen und Ulm würden derzeit stündlich gerade mal bis zu vier Züge verkehren. „Aber im neuen digitalen Knoten und dem Tiefbahnhof sollen dann täglich 1.000 Züge verkehren“, sagt der Lokführer. Auch die S-Bahnen werden dann mit dem neuen System fahren. „Da ist doch klar, dass diese Probleme dann vermehrt auftreten werden.“
Wenig optimistisch sieht der SWR die Zukunft des Projekts: „Mehrfach musste die Bahn den Eröffnungstermin verschieben. Jetzt sind immerhin 51 Kilometer Bahn-Tunnel unterhalb der Landeshauptstadt gegraben, sodass Stuttgart 21 im Dezember 2025 in Betrieb gehen könne, sagt die Bahn. Doch schon jetzt ist klar: Teile des Projektes – wie der neue Flughafenbahnhof – sind dann noch nicht fertig und werden lange Zeit eine Baustelle bleiben. Und die Magistrale von Zürich nach Stuttgart wird für viele Jahre in Stuttgart-Vaihingen enden. Wer dann von dort aus in den neuen Tiefbahnhof fahren will, muss die Stadt- oder die S-Bahn nutzen. Würden in dieser Zeit noch zusätzlich Probleme durch ETCS entstehen, würde das weitere Einschränkungen für die Fahrgäste bedeuten.“
Alle Zitate wurden der Veröffentlichung des SWR entnommen. Die S21-Kritiker verkneifen sich den Hinweis, sie hätten es schon immer gewusst.