rail blog 169 / Andreas Kleber

Erinnerungen an den THAMES-CLYDE-EXPRESS

Schorndorf, 06.September 2023

Es sind heute genau 50 Jahre her, dass ich eines meiner unvergesslichsten Eisenbahnerlebnisse genießen durfte: eine Lokmitfahrt auf dem THAMES-CLYDE-EXPRESS Carlisle – Leeds auf einer Peak cl 45/6, welche den Zug von Glasgow Central bis Leeds bespannte. Eine Schwesterlok übernahm ihn dann zur Weiterfahrt bis Nottingham, wo abermals ein Richtungswechsel stattfand und wiederum eine Peak cl 45/6 den Zug bis London St Pancras bespannte.


In England, beziehungsweise in Großbritannien habe ich mich seit meinem ersten Besuch 1963 unheimlich wohl gefühlt; ich war auch längere Zeit dort tätig, sah dort schon meine Zukunft und bin 24 Mal dort gewesen, wobei ich etwa 24.000 Meilen auf den Schienen von British Rail (bzw. in den letzten Jahren der Great Western, etc.) zurückgelegt habe.

Ich erlebte noch die Bahn vor den Beeching-Cuts: die Stilllegung von 42 % des Streckennetzes hinterließ auch im Fernverkehr Spuren: selbst die Strecke, wo einst der erste Inter City mit diesem Namen am 08.10.1950 Paddington-Birmingham Snow Hill-Wolverhampton LL fuhr, bespannt von einer 100 mph (160,9 km/h) schnellen 2-6-0 h4 KING Class, wurde teilweise abgebaut; die Main Line wurde 1967 auf die elektrifizierte Strecke von Euston geleitet. Und London – Schottland? Die West Coast Main Line London Euston – Glasgow Central war für die Elektrifizierung vorgesehen, ebenso die East Coast Main Line, auf der die Züge London King’s Cross – Edinburgh mit den (damals) stärksten Einzeldieselloks (Deltic: 3.500 PS, 110 mph=177,02 km/h) bespannt wurden  … und die Midland Main Line London St Pancras – Sheffield – Leeds – Carlisle – Dumfries – Glasgow St. Enoch? Ab Carlisle zweigte die Waverley Line nach Edinburgh Waverley über Galashiels ab… die Midland hatte von ihrem Londoner Bahnhof St Pancras aus einen Tages-Expresszug nach Glasgow St Enoch und Edinburgh Waverley zu den beiden Nachtzügen mit Schlafwagen. Nachdem Dr. Beeching die Great Central stilllegte und 1966 das InterCity System sich entwickelte, sah man für einen Zug wie den THAMES-CLYDE-EXPRESS keine Zukunft mehr, nachdem die zweispurige Strecke Carlisle – Edinburgh stillgelegt wurde und damit der WAVERLEY verschwand.

Mit seiner Fahrzeit London – Schottland konnte der THAMES-CLYDE mit den Zügen den Zügen der West- und East Coast Main Line nicht mithalten: Glasgow St Enoch wurde 1966 geschlossen (heute steht dort eines der größten Shopping Center Europas), die Züge wurden nach Central umgeleitet. Durch den Wegfall des WAVERLEY kamen zwischen Leeds und Carlisle sowie über die schottische South Western Line einige Halte hinzu; Nottingham wurde angebunden, was mit einem Richtungs- und Lokwechsel verbunden war und die Fahrzeit weiter verlängerte: IC-Züge im Taktverkehr nach Sheffield und Nottingham verkehrten ab St Pancras, nach Leeds ab King’s Cross, nach Carlisle und Glasgow ab Euston … die Strecke Leeds-Settle-Carlisle, die Settle-Carlisle Line, stand zur baldigen Stilllegung an, denn der THAMES-CLYDE-EXPRESS passte in kein Konzept. Es ist unter anderem dem anglikanischen Bischof Eric Treacy zu verdanken, dass dies verhindert wurde: ein hoch geachteter Theologe UND Eisenbahnexperte. (Ich begegnete ihm am Sonntag, den 04.04.1971 in Keighley bei einer Sonderfahrt und besitze einige von ihm verfasste Bücher über die Midland Railway; er starb am 13.05.1978 auf dem Bahnsteig in Appleby bei der Einfahrt eines dampfbespannten Sonderzuges).

So fuhr ich zum ersten Mal am 31.08.1970 den gesamten Laufweg des Zuges von Glasgow Central nach London St Pancras. Es ist landschaftlich gesehen die reizvollste und schönste Strecke zwischen den beiden Hauptstädten. Und der Zug mit seinem acht bis zehn Wagen war gut besetzt. In der Mitte der Speise- sowie der Küchen/Buffetwagen; es wurden im Speisewagen (britisches) Breakfast, südwärts ab Carlisle Lunch, ab Leeds High Tea und ab Sheffield noch Dinner serviert! In der Gegenrichtung ähnlich. Bespannt wurde der Thames-Clyde-Express von der Peak cl.45/6 (siehe Anhang), einer 135 t schweren 1-Co-Co-1 dieselelektrischen Lok mit 2.500 PS Motorleistung (zum Vergleich: die dieselhydraulische C-C WESTERN mit 2.700 PS hatte 100 t). Ich liebte diese Strecke und auch diesen Zug, bin ihn einige Male gefahren und wollte ihn zumindest auf der Settle-Carlisle UNBEDINGT auf dem Führerstand erleben. Ich bekam die Erlaubnis vom Loco Super Int. Brian Solmans aus Leeds, der mich – mit Melone und Midland Inspector Uniform – in Carlisle willkommen hieß. Ein Railway Enthusiast from Germany auf einer PEAK cl 45 auf der (wenn nicht) landschaftlich schönsten Strecken Englands vor dem THAMES-CLYDE-EXPRESS – das war ihm noch NIE passiert. Das Wetter spielte mit: die Strecke hatte viele Steigungen: Appleby – Ais Gill – Ribblehead-Viadukt, aber eine ansonsten herrliche bergige Gegend, sehr dünn besiedelt… die Lok hatte ihre Last mit diesem Zug auf dieser teils steilen, kurvenreichen Strecke durch die vielen Tunnels und über Viadukte.

1974 verlor der Thames-Clyde-Express seinen Namen; am 03.05.1975 verkehrte er nach 48 Jahren mit und 67 ohne Namenzum letzten Mal nördlich von Leeds, inzwischen mit Dieseltriebwagen, wie ich es (mit Unterbrechungen) einige Male tat, um befreundete Kollegen in Appleby, Settle, Keighley und Ilkley wieder zu treffen.

Aber die Erinnerung an die Führerstandsmitfahrt vor 50 Jahren wird für mich unvergessen bleiben…

https://en.wikipedia.org/wiki/Thames%E2%80%93Clyde_Express

https://de.wikipedia.org/wiki/Beeching-Axt

https://de.wikipedia.org/wiki/Waverley_Line

https://de.wikipedia.org/wiki/Midland_Main_Line

https://de.wikipedia.org/wiki/West_Coast_Main_Line

https://de.wikipedia.org/wiki/East_Coast_Main_Line

https://de.wikipedia.org/wiki/Eric_Treacy

https://de.wikipedia.org/wiki/Bahnstrecke_Settle%E2%80%93Carlisle

https://de.wikipedia.org/wiki/Ribblehead-Viadukt

Ein Kommentar zu “rail blog 169 / Andreas Kleber”

  1. Andreas ist unser vermutlich am häufigsten und weitesten Zug-gereistes Mitglied , mit einem riesigen Erinnerungsschatz. Und er kann so viel erzählen. Und so detailreich. Wer kümmert sich normalerweise schon um die jeweilieg Lok, ihre Typbezeichnung, ihren Namen? Andreas aber hat das seit frühester Kindeheit getan. Und ein bewundernswertes Archiv von Kursbüchern und anderen Bahnmaterialien gesammelt. Er vermittelt so lebendige Bahnkultur, die leider in den Chefetagen der DB eher selten anzutreffen ist. Das sind alle Quereinteiger. Ohne emotionale Bindung an die Bahnen und ihre kukturelle und technische Bedeutung.
    Deswegen sage ich Danke an Andreas und lese gern mehr von Deinen Erinnerungen. Ich selber bin zwar auch seit frühester Kindeheit regelmäßig Bahn efahren, meine Stammstrecken waren Heidelber-Aachen und Heidelberg-Bochum, immer also durch das Rheintal mit seine Burgen und faszinierenden Blicke auf den Rhein, seine Lastkähne und die vielen Burgen und bombastischen Tunnelportale. Aber anders als Andreas konnte ich mir die technischen Details der Loks und Waggons nie gut merken, davon erfihr man ja auch als normaler Bahnreisender wenig. Fasziniert hat mich aber immer der Blick in die Kombüse der Speisewagen, wo man durch die Durchreiche das Personal bei der Arbeit beobachten konnte. Da wurde noch richtig gekocht und gebraten. Und bis in die 60er Jahre ging dann ja auch um die Mittagszeit ein Kellner mit einem silbernen Gong durch den Zug, um Reservierungen für den Speisewagen entgegen zu nehmen. Das war noch echte Bahnkultur.
    Danke, Andreas, für Deine „Erinnerungs-Schätze“

    Heiner Monheim

    PS. Mit den von Adreas beschriebenen verheerenden Streckenstilllegungen und Privatisierungen im engischen Bahnnetz hat sich später vor allem Winfried Wolf immer wieder auseinander gesetzt, den wir so schmerzlich vermissen seit seinem viel zu frühen Tod.

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