Wie ein Drehgestell den ganzen Zug stoppt
Für die Anreise aus Hamburg zu einer verkehrspolitischen Konferenz in Köln benutzt man natürlich die Bahn. Und wenn man auf Komfort Wert legt und der Fahrplan passt, bucht man natürlich einen Sitzplatz im Abteilwagen eines Intercity und nicht etwa einen Quetschsitz im Großraum eines ICE 4, denn auch in der 1. Klasse (für 28,40 Euro) ist der Komfortunterschied zwischen diesen beiden Zügen deutlich spürbar.
Folglich freut man sich auf Gleis 12 auf den eigenen IC und winkt dem ICE 205 um 16:45 Uhr auf Gleis 14 hinterher. Da ertönt der Lautsprecher: »IC 2215 fährt heute von Gleis 14«. Die übliche Zumutung für Reisende mit Kinderwagen, an Krücken oder mit viel Gepäck, denn es gibt nur einen Lift für 400 Meter Bahnsteig.
Auf Gleis 14 angekommen, meldet sich die »DB Reisebegleitung« mit der Nachricht, der Zug fahre von Gleis 14. Ja, danke. Aber die Begründung überrascht: »Reparatur am Zug«. Meine Phantasie reicht nicht aus, um das als Begründung für diesen Gleiswechsel zu verstehen. In beiden Fällen ist der Bahnsteig in Fahrtrichtung links, aber bei Gleis 14 ist auf der anderen Seite nur die Wand, während auf Gleis 12 der ehemalige Gepäckbahnsteig genügend Platz auch für größere Reparaturen bieten würde.
Aber nun gut, wir fahren. Nächster Halt ist Bremen.
Bremen wurde auch der letzte Halt dieses Zuges. Zunächst meldet sich der Bordfunk mit »wir haben da ein Problem und versuchen uns an einer Lösung, wir melden uns wieder«, um wenige Minuten später zu verkünden »wir haben einen Schaden am Drehgestell des letzten Wagens«, und daher ende dieser Zug hier, man möge sich auf dem Bahnsteig schlau machen, wie man jetzt nach Osnabrück komme.
Oder nach Köln.
Ich frage mich, was ich gemacht hätte, wenn die DB-Reisebegleitung schon vor der Abfahrt des ICE 205 einen Schaden am IC 2215 gemeldet hätte. Wäre ich dann auf den anderen Bahnsteig gesprintet, um dem Personal die Meldung unter die Nase zu halten und zu sagen: »Ich will nicht riskieren, mit dem IC 2215 liegenzubleiben; die Zugbindung ist unter diesen Umständen ja wohl aufgehoben, ich möchte hier mitfahren«? Hätte man das akzeptiert oder hätte man Terz gemacht?
Außerdem frage ich mich, warum die DB offenkundig außerstande ist, den letzten Wagen einfach abzukuppeln und mit dem Rest weiterzufahren: Lautsprecherdurchsage zur Evakuierung des Wagens, um die sich die Zugschaffnerin kümmert, ein Zugführer schreibt einen neuen Bremszettel und ergänzt die Wagenliste, während der andere Zugführer den Wagen abkuppelt. Das Ganze hätte keine fünf Minuten gedauert. In den DB-Nachtzügen hätten wir von der DB European Railservice das hinbekommen. Unser Personal war dafür ausgebildet.
Aber DB Fernverkehr wirbt zwar um Quereinsteiger und verlangt, dass alle Mitarbeiter betriebsdiensttauglich sind – aber eine wesentliche Operation dieses Betriebsdienstes, nämlich das Kuppeln von Zügen, scheint nicht mehr zum Programm zu gehören. Was allerdings auch kein Wunder wäre, hat doch die DB den laufenden Abschied von lokbespannten Zügen vor kurzem geradezu gefeiert. Triebwagengarnituren zu fahren, ist einfacher. Klar. Die kann man nicht trennen, sondern wenn da auch nur ein Radsatz kaputt ist, bleibt der gesamte Zug stehen.
Der IC mit dem einen kaputten Drehgestell steht immer noch am Gleis und blockiert es, als ich eine Dreiviertelstunde später mit dem nächsten ICE nach Köln fahre. ICE 617 nach Stuttgart soll um 21:49 Uhr in Köln eintreffen und dabei ohne Halt von Dortmund nach Duisburg fahren.
Er blieb in Dortmund stehen. Lange genug, um den Flixtrain vorbeiziehen zu lassen. Der ist zwar nicht so Hi-Tech wie der ICE 4 und ernährt auch keinen Herrn Lutz und keinen Herrn Huber, aber er fährt. Und dann kommt die Ansage: »Unsere Weiterfahrt verzögert sich, wir warten auf das neue Zugpersonal, das sich noch in einem verspäteten ICE befindet.«
Einer der Klassiker. Wir kamen dann um 22:30 Uhr an, 93 Minuten nach meiner geplanten Ankunft.
Sagte ich schon, dass ich zu einer verkehrspolitischen Konferenz unterwegs war?
Ja.
Passt.
Thank you for choosing Deutsche Bahn today.
Kleiner Nachtrag:
1995 fuhr ich mit der Bahn von Thüringen nach Hamburg, aus dem Fahrradurlaub kommend und mit dem Wochenendticket. Zwischen Magdeburg und Oebisfelde bestand der Zug aus einer Diesellok, zwei Wagen und hintendran einer mitgeschleppten Diesellok. Plötzlich rumpelte und knirschte es gewaltig, und dann stand der Zug. Die hintere Lok war aus den Schienen gesprungen, stand aber noch auf dem Gleiskörper. Da die Schraubkupplung gehalten hatte, war auch das hintere Drehgestell des zweiten Wagens entgleist. Was tun? Während ich noch überlegte, ob ich mit meinem Gepäck und dem Fahrrad aussteigen, den Bahndamm hinunterrutschen und nach Oebisfelde oder gleich bis Wolfsburg radeln solle, kam die Ansage der Zugchefin: »Bitte alle in den vorderen Wagen durchgehen, wir kuppeln ab und fahren gleich weiter.«
Geht doch. Wenn man richtig ausgebildet ist. Und das waren die Kolleginnen und Kollegen der Deutschen Reichsbahn.