rail blog 259 / Joachim Holstein

Neue Barriere in Hamburgs Bussen

Die Hamburger Politik möchte, dass man im Stadtgebiet mit öffentlichen Verkehrsmitteln schneller vorankommt.

Ein lobenswertes Ziel, ist doch der Zeitverlust gegenüber einer Fahrt mit dem Auto eines der Argumente, warum viele sich in ein mehrere Zehntausend Euro teures, anderthalb bis drei Tonnen schweres Gerät setzen, für das möglichst immer und überall – am liebsten auch noch kostenfreie – Parkplätze auf öffentlichem Grund freigehalten werden sollen.

Wenn man die Entfernung von A nach B schon nicht ändern kann, hat man aber immer noch eine ganze Palette an zeitsparenden Maßnahmen zur Verfügung:

  1. Die Entfernung von A zur nächsten Haltestelle des ÖPNV ist möglichst kurz.
  2. Die Entfernung von B zur nächsten Haltestelle des ÖPNV ist möglichst kurz.
  3. Der ÖPNV verkehrt so oft, dass man vor dem Einstieg kaum warten muss.
  4. Der ÖPNV verkehrt so oft, dass man beim Umsteigen kaum warten muss.
  5. Der ÖPNV ist schnell vom Gehweg aus zu erreichen, anstatt 10 Meter in die Höhe oder 40 Meter in die Tiefe zurücklegen zu müssen.
  6. Der ÖPNV verläuft möglich oft auf eigenen Trassen ohne Autostau.
  7. Die Fahrzeuge beschleunigen zügig und bremsen gleichmäßig ab, so dass eine höhere Spitzengeschwindigkeit nicht zu Komfortverlusten für die Fahrgäste führt.

Manches wird man sowohl mit Bussen als auch mit Straßenbahnen als auch mit U- und S-Bahnen umsetzen können: Taktungen unter 90 Sekunden habe ich bei den Metros in Moskau, Paris und Toulouse sowie auf der Stammstrecke der Münchner S-Bahn erlebt; bei Trams und Bussen kennt man »Kolonnenfahrten«; bahnsteiggleiches Umsteigen gibt es nicht nur zwischen Bahnen oder an Busbahnhöfen, sondern auch zwischen Bus und Tram wie in meiner Heimatstadt Heilbronn und an manchen (Fern-)Bahnhöfen, bei denen wie in Freiburg im Breisgau Gleis 1 ebenerdig von der Straße aus erreicht werden kann – Paradebeispiele sind natürlich die großen Kopfbahnhöfe in Paris und Zürich und der etwas kleinere in Hamburg-Altona.

Bei den Kriterien 1) und 2) liegen Busse vorn, knapp gefolgt von (und manchmal gleichauf mit) Straßenbahnen – je nachdem, wie die Haltestellen angelegt sind. Bei Untergrundbahnen gehen die Haltestellenabstände sehr weit auseinander, man vergleiche nur mal die Metros in Paris und Moskau. Aber wer in Moskau oder auch in Kiew 40, 50 Meter in die Tiefe rolltreppt, tut das in aller Regel nicht, um nach 500 Metern wieder an die Erdoberfläche zurückzukehren, sondern da geht es um andere Entfernungen. Deswegen sind solche Bahnen tief in der Erdkruste auch eine schlechte Idee, um vom Münchner Marienplatz zum Stachus oder vom Hamburger Dammtorbahnhof zum Unicampus eine Ecke weiter zu kommen.

Und es ist daher auch verlogen, wenn eine Stadt, die aus ideologischen Gründen eine Tram ablehnt, Werbekampagnen für eine milliardenteure U-Bahn mit Slogans wie »in fünf Minuten vom Hauptbahnhof zur Uni« startet, wenn diese Tiefbahn an der Staatsbibliothek vorbeifährt (diese Haltestelle soll wegfallen) und man nach fünf Minuten Bahnfahrt noch drei Minuten braucht, um sich nach oben zu arbeiten – falls Rolltreppe und Lift funktionieren.

Aber da Hamburg ja dank Olaf Scholz und seiner Partei keine Tram will und man U-Bahnen selbst da, wo sie sinnvoll sind, nur finanzieren könnte, wenn man auf Steuergeschenke für CumEx und große Vermögen und diverse Subventionen für Auto- und Flugverkehr verzichten würde, muss man sich um Busse kümmern. Also hat man in Hamburg 2011 ein »Busbeschleunigungsprogramm« entwickelt, um den Leuten den Verzicht auf die Tram schmackhaft zu machen.

Aber das ging gehörig schief. Nach sechs von geplanten sieben Jahren Umsetzungszeit waren nur 120 von geplanten 259 Millionen Euro abgerufen, meldete das »Abendblatt« am 22. März 2019. Und die Morgenpost vom 17. November 2023 bezeichnete das Prestigeprojekt des heutigen Kanzlers schlicht als »Märchen«.

»Abendblatt« und »Süddeutsche« widmeten sich dem Thema Bürgerbeteiligung, der alles andere als ein Dialog war:

… bei Versammlungen vor Ort trifft Politik auf Wut. Dabei geht es doch um etwas unumstritten Positives, nämlich Bürgerbeteiligung. Doch da gibt es ein grundsätzliches Missverständnis: Die Bürger verstehen Beteiligung als Beteiligung an der Entscheidung. Die Verwaltung hingegen versteht es als Beteiligung an der Diskussion. Das schafft am Ende viel Frust. 

https://www.abendblatt.de/hamburg/article133028439/Buergerbeteiligung-ein-Missverstaendnis.html

Deswegen sitzt Bernd Kroll hier, …

Kroll … war selbst früher Abgeordneter im Regionalausschuss und ist CDU-Mitglied.

Auch in anderen Hamburger Vierteln gibt es Widerstand gegen die Busbeschleunigung. Doch der Mühlenkamp, so erzählt Kroll nicht ohne Stolz, ist die „Keimzelle“ des Protests. Auf Bürgerversammlungen geht es zuweilen hoch her, im Oktober brüllten wütende Anwohner einen Ingenieur, der das Programm in einer Kirche vorstellte, regelrecht nieder.

https://www.sueddeutsche.de/politik/streit-um-busbeschleunigung-in-hamburg-mein-viertel-meine-strasse-mein-zorn-1.2335182

Nun hat man sich eine ganz andere Lösung ausgedacht, um den Busverkehr zu beschleunigen. Dabei muss man nicht mal Autoparkplätze wieder in öffentlichen Raum umwandeln oder wenigstens das Parken in zweiter Reihe unterbinden – nein: die Fahrgäste wurden ins Visier genommen, denn sie halten den Busverkehr auf. Jedenfalls, wenn sie – im Gegensatz zu Django – keine Monatskarte oder gar ein Abo haben.

Dem Fahrpersonal 2 Euro hinstrecken und »Kurzstrecke« sagen? Dauert viel zu lange! Da gibt es was Besseres: Barzahlung verbieten und stattdessen Terminals einbauen (nein, keine Fahrkartenautomaten) zum Auslesen einer Prepaid-Karte.

https://www.hvv.de/de/prepaidcard

Das dauert 16 Sekunden. Bei einem Menschen, der genau weiß, was er will und der die Preisstufe auf dem Display in Nullkommanix findet.

In Hamburg wurde die Prepaid-Karte in der Woche nach ihrer Einführung am 1. Januar 2024 heftig diskutiert. Manche Bürger und manche Presseorgane riefen »Skandal« und der HVV entschuldigte sich vielmals – aber für etwas, was er gar nicht zu verantworten hatte, nämlich: Obwohl ein halbes Jahr lang landauf, landab auf den Wegfall der Barzahlung hingewiesen worden war, obwohl die Ausgabestellen der Karten bekannt waren, kam so gut wie niemand auf die Idee, sich so eine Karte vor dem 31. Dezember 2023 zu besorgen. Und weil das so war, stockten viele Ausgabestellen ihre Vorräte nicht auf – und wurden ab Silvester vom Ansturm überrannt.

Was bis dahin nicht ernsthaft diskutiert wurde, ist ein ganz anderes, ein wirkliches Problem: die Terminals sind nicht barrierefrei. Darauf haben der Blinden- und Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg (BSVH), der FUSS e.V., die Hamburger Landesarbeitsgemeinschaft für behinderte Menschen, die Lebenshilfe und der SoVD hingewiesen:

Viele Menschen mit Behinderungen sind nicht in der Lage, im Bus mit der Prepaidkarte zu zahlen, weil sie das Terminal mit Touchscreen nicht bedienen können. Das betrifft Menschen mit einer kognitiven oder einer Seh-Einschränkung. Häufig ist dies auch altersbedingt der Fall. Diese Menschen haben möglicherweise noch keinen Schwerbehindertenausweis oder er berechtigt sie nicht zu einer Freifahrt im ÖPNV. Die Verkehrsunternehmen bieten diesen Fahrgästen bisher keine Alternative zum Bezahlen an. Sie sind daher von Busfahrten ausgeschlossen.

Entsprechende Einwendungen, die durch das Kompetenzzentrum für ein barrierefreies Hamburg und weitere Expert*innen der Interessenvertretungen im Vorfeld an den hvv herangetragen wurden, ignorierte der Verkehrsverbund bisher und verwies darauf, dass Probleme evaluiert werden.

Im vorderen Bereich des Busses wird es aufgrund des eingeschränkten Raumes nicht möglich sein, eine barrierefreie Lösung anzubieten. Ebenso wenig, die digitale Anwendung für seheingeschränkte Menschen zugänglich zu machen. 

https://www.bsvh.org/pressemitteilung/bargeldloses-zahlen-schliesst-menschen-mit-behinderung-vom-busfahren-aus.html

Wenn jetzt jemand fragt: »Warum kaufen die sich keine Monatskarte?«, dann sei darauf hingewiesen, dass es hier um Menschen geht, die oft wenig Geld haben und eben vielleicht nur ein, zwei Mal pro Woche oder gar pro Monat mit dem ÖPNV fahren müssen.

Zwar bietet Hamburg einen Sozialrabatt mit dem das Abo-pflichtige Deutschlandticket von 49 auf 19 Euro verbilligt wird und Schulkinder kostenlos fahren können, aber dazu müssen bestimmte Voraussetzungen bestehen. Der Landes-Seniorenbeirat hat jedenfalls bereits gefordert, für Hamburg ein Seniorenticket für 29 Euro einzuführen.

https://www.lsb-hamburg.de/wp-content/uploads/2024/01/LSB-Presse-Info_29-Euro-Ticket-fuer-Senioren_22Jan2024.pdf

Menschen in diesem Alter haben schließlich keinen Arbeitgeber, der das Deutschlandticket als Jobticket für unter 20 Euro und vielleicht sogar gratis anbietet …

Gratis?

Ja. Gratis.

Und warum eigentlich nicht ÖPNV gratis für alle, die behindert oder gleichgestellt sind, sowie für alle Minderjährigen? Wer Elon Musk und René Benko Milliarden schenkt, wird doch wohl ein bisschen Geld für Fahrpreisermäßigungen bereitstellen können.

Oder?

Über Joachim Holstein

(*1960) arbeitete von 1996 bis 2017 als Steward in Nacht- und Autozügen der DB, war von 2006 bis zur Einstellung dieser Verkehre Betriebsrat der DB European Railservice GmbH und zuletzt Sprecher des Wirtschaftsausschusses. Mitbegründer der Initiative zur Rettung des Nachtzuges Hamburg-Paris (2008; »Wir wollen nach Paris und nicht an die Börse«) und des europäischen Netzwerks für Nachtzüge »Back on Track« (2015; https://back-on-track.eu/de/); Weiteres unter www.nachtzug-bleibt.eu

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