Verkehrspolitik mit der Schere
Wenn es in diesen Tagen im Kabinett von Olaf Scholz eine Auseinandersetzung zwischen den Grünen um Robert Habeck und der FDP um Verkehrsminister Volker Wissing über die Frage tobt, ob nicht nur Schienenwege, sondern auch Straßen beschleunigt gebaut werden sollten, dann hat diese Debatte eine Tradition von mehr als einem halben Jahrhundert.
Im Übergang von der Großen Koalition unter Kanzler Kurt-Georg Kiesinger (1966 bis 1969) zur sozialliberalen Koalition unter Kanzler Willy Brandt (1969-1974) begann Ende der 1960er Jahre die westdeutsche Verkehrspolitik die aus heutiger Sicht verheerende Ungleichbehandlung von Bahnnetz und Straßennetz. Die Schere öffnete sich zu Ungunsten der Bahn und zu Gunsten der (Fern)Straßen. Bildmächtig war dabei, wie die Politik dauernd mit der Schere die Bänder für neue Straßenstücke durchschnitt. In das Straßennetz wurde massive Bundes- und Landesmittel gepumpt. Parallel dazu investierten auch die Kommunen massiv in den Ausbau ihrer Straßennetze und ihres Parkraums. Deutschland wollte Autoland werde und dafür war nichts zu teuer.
Auf der anderen Seit wurde die Bahn immer mehr als ungeliebtes, teures Stiefkind diskreditiert, das sich mit einem großen Netz betriebswirtschaftlich nicht mehr rechnen würde. Der später politisch in Ungnade gefallene Thilo Sarrazin hatte am verkehrswirtschaftlichen Institut von Prof. F. Voigt in Bonn die theoretischen Grundlagen für den Kurswechsel zur Schrumpfbahn gelegt.
Bund und Länder begannen, bei den sog. Gemeinschaftsaufgaben (regionale Wirtschaftsförderung, Hochschulbau, Krankenhausbau, Wohnungs- und Städtebau, Agrarstrukturverbesserung, Küstenschutz und Tourismusförderung) eine gezielte Steuerung des sozialökonomischen Geschehens mit regionalen Ausgleichsstrategien. In vielen Bereichen war das segensreich, im Verkehr dagegen verheerend. Denn es begründete den Ausbau des Straßennetzes bis in den letzten Winkel mit einer beängstigenden Perfektion. Dagegen wurde die Gestaltungsaufgabe einer dezentralen Bahnentwicklung vollständig pervertiert. Der Rückzug der Bahn aus der Fläche wurde ideologisch begründet mit Kostenargumenten und politisch-administrativ konsequent umgesetzt.
Die Bundesbahn selber hatten seit den 1960er Jahren in »vorauseilendem Gehorsam« das Konzept einer kleinen, feinen, betriebswirtschaftlich optimierten Bahn erfunden, die sich vor allem auf die Hauptkorridore und späteren Hochgeschwindigkeitsstrecken konzentrieren sollte. Aus diesem Grund erfolgten bereits in dieser Zeit die massiven Stilllegungen von Personen- und Güterbahnstrecken, Anschlussgleisen und Bahnhöfen.
Für die Straße stellten Bund und Länder gewaltige Budgets bereit und bauten eine eigene Planungsmaschinerie auf, die immer neue Straßenprojekte erfand.
Die (Sch)Rumpf- und Korridorphilosophie der Bahnpolitik hatte fatale Auswirkungen auf die Verkehrsentwicklung, die Umwelt und das Klima.