Fußballfans wundern sich über die Bahn
Verschiedene Medien waren während der EM-Wochen unterwegs und geben Eindrücke von Fans wieder – darunter auch solchen, die nicht den Flieger genommen haben, sondern am Boden geblieben sind.
https://www.fr.de/sport/heim-em-schottische-fans-lieben-die-deutsche-bahn-93174765.html
In Stuttgart sind unter ihnen Geschwister (22 und 14) aus Ungarn:
Sie kommen aus Debrecen, der zweitgrößten Stadt in Ungarn. Gereist sind sie mit dem Zug über Budapest.
Prima Verbindung: über Budapest, Wien und München. In Frankfurt trifft man Vater und Tochter aus Dänemark:
Der 53-Jährige trinkt sein Bier, die 22-Jährige trägt die dänische Fahne. „Ich liebe mehr die Party, sie mehr den Fußball“, sagt er und lacht. … In aller Herrgottsfrühe haben sie einen Zug genommen, am selben Abend fahren sie mit einem Nachtzug zurück.
Das ging wunderbar, weil das Spiel um 18 Uhr angepfiffen wurde und der Zug gegen Mitternacht in Frankfurt hält. Ebenfalls in Frankfurt trifft man einen Schweizer mit deutscher Ehefrau und den Kindern:
Er hat schon einige andere EM-Spiele gesehen, aber die Partie Serbien gegen Slowakei in München verpasst, „weil ein Zug aus Berlin stehengeblieben ist“. Das Ticket konnte er noch schnell vom Handy übertragen, „ein Kollege hat sich gefreut“. Glück im Unglück.
Da hat die Digitalisierung – der EM, nicht der Bahn – auch mal eine gute Seite gehabt. Und dann trifft die Frankfurter Rundschau auf ein Ehepaar aus Schottland:
Stephen und Janet aus Schottland sind seit EM-Beginn unterwegs und genießen jeden Tag, weil beeindruckt von Land und Leuten. Wo sie überall waren? Zu Spielen in München, Stuttgart, Köln und Leipzig. Natürlich haben sie alle Schottland-Partien gesehen („Nicht so schön“), zwischendrin Starnberger See, Konstanz, Salzburg und Bacharach, eine romantische Stadt am Rhein („Sehr schön“) angeschaut. Alle Strecken sind sie mit der Deutschen Bahn gefahren, die sie besser verteidigen als jeder Anwalt. Die deutsche Infrastruktur finden sie „richtig toll“. Sie wollen sich nicht ausmalen, wenn ähnliche Fanmassen in vier Jahren auf der Insel Zug fahren sollen. Es gebe gar kein Fernverkehrsnetz, um von London nach Manchester und in seine Heimatstadt Edinburgh zu kommen. Dorthin fährt das Ehepaar übrigens gerade im Zug zurück. Umsteigen muss es noch in Frankfurt, Brüssel und London – dann ist ihr Turnier zu Ende.
Die Vergleichsbasis macht den Unterschied. Auch US-Touristen loben ja häufig die German Railway.
Deutlich kritischer fällt die Bilanz im »Spiegel« aus:
https://www.spiegel.de/auto/deutsche-bahn-pannenserie-waehrend-der-em-gestrandete-fans-und-verspaeteter-philipp-lahm-a-04effeda-1b0b-41e5-8bb3-35f0ac9820d1
Die deutsche Nationalmannschaft lässt sich bezwingen, an der Deutschen Bahn hingegen scheitern alle: Fans und Spieler aus vielen Ländern haben den Staatskonzern bei der EM verflucht. Eine Chronologie des Grauens.
14. Juni 2024: Tausende freuen sich aufs erste Spiel, Deutschland gegen Schottland, als sich plötzlich keine Bahntickets mehr buchen lassen. Das Wochenende steht vor der Tür, das Land ist in EM-Stimmung, und überall fahren Fußballfans mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu Public Viewings oder zu Freunden. Während die DB-Navigator-App und die Website bahn.de am Vormittag in die Knie gehen. Nicht mal Verbindungen lassen sich suchen.
Wenn man seiner Kundschaft die Digitalisierung aufzwingen will, sollte man sie schon beherrschen.
21. Juni: Vor der Deutschen Bahn sind alle gleich – gegen Verspätungen und Zugausfälle hilft nicht mal Promi-Status. Vielleicht ein kleiner Trost für leidgeprüfte Bahnreisende. Am zweiten Freitag des Turniers trifft es jedenfalls auch Philipp Lahm, seines Zeichens Ex-Nationalspieler, Weltmeister und bei dieser EM Turnierdirektor.
Eigentlich sollte Lahm vor dem Spiel Slowakei gegen Ukraine bei Magenta und RTL als Experte auftreten. Doch er erreicht das Stadion in Düsseldorf nicht rechtzeitig – natürlich wegen der Bahn. »Er müsste irgendwo in der Nähe von Solingen hängen«, so der Kommentar der EM-Botschafterin Célia Šašic, die dann ohne ihn im Studio steht.
Lahm nimmt es später gelassen: Er sei »insgesamt zu den meisten Dingen sehr pünktlich gekommen«, sagt er bei einem Pressetermin in Leipzig. Sein Seitenhieb trifft die Politik, die Investitionen in die Infrastruktur versäumt habe – für die Bahn selbst gab’s vor allem Liebe. Er bleibe ihr weiterhin treu: wegen der ganzen singenden Fans und der tollen Stimmung in den Zügen.
Was wäre die DB ohne ihre Kunden?
23. Juni: Nach den ersten Spieltagen berichten die ersten ausländischen Medien über das Chaos. Ihre Berichte schwanken zwischen belustigter Häme und desillusioniertem Erstaunen – was ist nur aus der deutschen Zuverlässigkeit geworden?
Die »New York Times« schreibt an diesem Tag, das ruckelnde deutsche Eisenbahnsystem erweise sich als harter Gegner bei der EM.
Im britischen »Telegraph« berichtet ein Journalist: »Ich verbrachte den Tag damit, in Deutschland Zug zu fahren – und es war ein Albtraum«. Knappe Umstiege zu bewältigen sei noch stressiger, als Schottland bei der Verteidigung zuzuschauen.
Und die spanische Zeitung »El País« konstatiert: »Die Europameisterschaft demontiert (erneut) den Mythos der deutschen Effizienz«. Das Turnier habe mehr dazu beigetragen, dieses Bild zu zerstören, als dies jahrelange Nachrichten über die Infrastrukturmängel hätten tun können.
Ich werde auf diese beiden Artikel in meinem nächsten Blog eingehen.
Für Deutsche sind diese Probleme sicherlich nichts Neues. Doch manchmal macht der Blick von außen umso deutlicher, wie weit es inzwischen gekommen ist. Der britische Sportkorrespondent von »The Telegraph« erinnert sich noch an die WM 2006, als akkreditierte Journalisten kostenlos in der ersten Klasse Bahn gefahren seien. »18 Jahre später ist der Glanz verblasst.«
Im Gegensatz zu 2006 nicht mehr kostenlos Fernzüge benutzen zu dürfen, ist ein hochinteressantes Detail – für die allgemeine Kundschaft belanglos, aber bezeichnend für den Umgang des DB-Managements mit Multiplikatoren, aber auch für den Blick auf ihr eigenes Produkt. 2006: »Hoffentlich fährt die Presse möglichst viel mit unseren Zügen und berichtet über das tolle Erlebnis!« – 2024: »Hoffentlich bekommt die Presse möglichst wenig vom Zustand der Bahn mit!«
25. Juni: Mal eben zu Mama und Papa hochwinken? Dank DB ist das leider nicht für alle Spieler möglich. Zum letzten Vorrundenspiel der Österreicher versuchte Berndt Querfeld, der Vater des Abwehrkickers Leopold Querfeld, von Hamburg nach Berlin zu kommen. Sein Zug sei allerdings auf der Strecke geblieben, wie der Wiener Kaffeehausbesitzer dem österreichischen Newsportal Newsflix erzählte. So kamen die Fans wohl gerade aus dem Stadion, als sein Taxi schließlich ankam – er habe das komplette Spiel verpasst.
Und damit den historischen 3:2-Sieg gegen die Niederlande, durch den Österreich die Gruppe gewann. Ich hoffe, dass sich irgendjemand bei der DB dafür in Grund und Boden schämt.
28. Juni: Verfrüht wird ein Bahnfahr-Europameister ausgerufen: die Schweiz. Keine Nationalmannschaft fährt so viel wie die Schweizer, teilt die DB zur EM-Halbzeit mit – okay, anders hätte man es von den Bahn-Strebern auch nicht erwartet. Die Schweizer Mannschaft ist mit der SBB zu Hause schließlich vorbildlich pünktlichen Bahnverkehr gewohnt. Fünf Fahrten hat das Team nach den ersten beiden Wochen hinter sich, insgesamt 1300 Zugkilometer. »Ich find das gemütlich, man kann rumlaufen«, sagt Nationalspieler Michel Aebischer dem Schweizer Fernsehen. Zum Achtelfinale nach Berlin flogen sie aber – zur Sicherheit.
Die Schweiz hatte ihre ersten beiden Vorrundenspiele in Köln und das dritte in Frankfurt zu bestreiten. Als Gruppenzweiter – was sie realistischerweise erwarten durften – standen Berlin und dann Düsseldorf auf dem Reiseplan, als Gruppensieger wären es Dortmund und Stuttgart gewesen. Als Quartier wählte man: Stuttgart. Da sind zwar Frankfurt, Köln und Düsseldorf einfach, aber Berlin wäre in der Tat eine »Hochrisikofahrt« geworden.
29. Juni: Es dauerte nur bis zum Ende der Vorrunde, da schlich sich die deutsche Mannschaft aus dem Vorsatz, nicht zu fliegen, schon wieder heraus. Zum Viertelfinale jettete sie von Nürnberg ins ferne Dortmund. Mit dem Flieger namens »Bravo Echo«, ein 14-jähriges Flugzeug der Lufthansa. Um nach dem Spiel mit der Maschine von Dortmund nach Herzogenaurach ins Trainingslager zu kommen, musste dann sogar das Nachtflugverbot von der Bezirksregierung Münster freundlichst ausgehebelt werden.
Es war das Achtelfinale, da irrt der Spiegel. Ansonsten gilt: Für 340 km Luftlinie brauchten die durchgehenden ICE via Frankfurt und Köln Ende Juni fast 5 Stunden, weil es dank der deutschen Topographie nun mal keine direkte Rennstrecke gibt. Aber interessanterweise gibt es eine Verbindung, die prinzipiell schneller ist: über Kassel und Paderborn. Nürnberg – Kassel dauert im ICE 2:12 Stunden, Kassel – Dortmund im Intercity (der im Grunde ein Interregio ist, weil er auch in Kleinstädten hält) ebenfalls 2:12 Stunden. Es gab übrigens Zeiten, da fuhr hier ein direkter ICE: Dortmund – Paderborn – Kassel – Würzburg – München. Eine der sträflich vernachlässigten Querverbindungen. Die Umsteigeverbindung wird immerhin im DB-Navigator angezeigt.
3. Juli: Eine Entschuldigung ist also fällig. An enttäuschte Fans, die die erste Halbzeit verpassten, an ausländische Besucher, die nachts keinen Zug mehr zum Hotel erwischten. Diese Entschuldigung spricht Bahnsprecherin Anja Bröker an diesem Tag im Morgenmagazin der ARD aus. »Wir sind in der Tat nicht ganz auf der Höhe gewesen, unsere Verkehre bei der Europameisterschaft fuhren nicht rund.« Die Verwaltung in Gelsenkirchen sah das zu den Vorfällen am 16. Juni in ihrer Stadt völlig anders: Alles sei doch perfekt gelaufen.
Bisher sechs Millionen Fernreisende während der EM seien nun mal ein riesiger Ansturm, sagt Bröker. »Aber die Infrastruktur in Deutschland ist alt und in die Jahre gekommen und nicht zuverlässig, das war auch für uns eine Herausforderung.«
Diese Aussage der Bahnsprecherin ist deutlich realitätsnäher als die spätere »Bilanz« der DB, die ich im Railblog 308 kommentierte.
9. Juli: Wolfsburg ist von Dortmund nur zwei Stunden und 17 Minuten Zugfahrt entfernt – eigentlich. Doch für die niederländische Nationalmannschaft war die Distanz auf Schienen nicht zu überwinden: Streckensperrung, es hatte einen Tierunfall gegeben. Das Team musste deshalb eine Pressekonferenz am Dienstagabend in Dortmund absagen. Zum Spiel kamen sie dennoch rechtzeitig, und – leider, leider – dann doch mit dem Flieger.
Daraus lässt sich lernen: Bei Terminen lieber 24 Stunden Pufferzeit einplanen. Oder, wie die Mannschaft, sicherheitshalber für An- und Abreise auf das Flugzeug umsteigen. So waren sie zwar pünktlich, vor dem Ausscheiden hat es sie leider nicht gerettet.
Der Zug aus Berlin, in dem man reserviert hatte, kam wegen eines Wildunfalls 2 Stunden und 14 Minuten später als geplant in Wolfsburg vorbei. Ich habe nicht recherchiert, ob die Fußballer sich die Zeit damit vertrieben, auf dem Bahnsteig rhythmisch naar links und naar rechts zu springen, aber ich habe tiefes Verständnis dafür, dass sie die Schnauze von der DB dermaßen voll hatten, dass sie auf dem Rückweg auch gleich von der DB auf den Privatjet umbuchten.
11. Juli: Am Ende hilft alle Liebe zur DB nichts, auch nicht die von Philipp Lahm. »Die EM hat gezeigt, dass wir am Limit sind« – dieses ernüchterte Fazit zieht der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen. Es sei alles gefahren, was Räder hatte, und alle Überstunden gemacht, die möglich waren. Aber wenn es nicht genug Gleise gibt, können auch alte Züge und überarbeitetes Personal nichts retten. Es sei sogar noch schlimmer geworden als zum erhofften Sommermärchen zur EM 2006, so der VDV.
Die Deutsche Bahn drückte es in ihrem Abschluss-Statement einen Tag später so aus: Sie ziehe ein »gemischtes Fazit« bezüglich der Pünktlichkeit des Fernverkehrs. Allseitiges Schulterzucken fasst es zusammen, schuld sei die Schiene, nicht der Zug. Aber wie die Fußmatten in den ICE zur EM-Zeit kann man da nur Fredi Bobic zitieren: Man soll jetzt nicht alles so schlechtreden, wie es war.
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass es 2006 »schlimm« gewesen sei. Wir als Nachtzug-Crews ärgerten uns, dass die DB uns nicht als Teil des Zugangebots für die Fans betrachtete, sondern so tat, als hätte der »offizielle Carrier« der WM nur ICE auf der Schiene. Die Bahn hatte noch mehr Substanz:
https://www.faz.net/aktuell/sport/fussball-wm-2006/deutschland-und-die-wm/verkehr-mit-der-bahn-zum-ball-1327626.html
Nicht von ungefähr fühlt sich Bahnchef Hartmut Mehdorn scharf beobachtet: „International wird erwartet, daß Deutschland ein Weltereignis perfekt organisiert“. Die Deutsche Bahn, der größte europäische Transport- und Logistikkonzern, will dazu als Anbieter von Verkehrsleistungen und als Sponsor beitragen.
Allein im Fernverkehr hat die Bahn 250 Sonderzüge vorgesehen, viele der planmäßigen (mit WM-Logo üppig verzierten) ICE-Hochgeschwindigkeitszüge sollen außerdem in doppelter Länge eingesetzt werden, um alle Fahrgäste zu befördern. Eine Woche vor dem Eröffnungsspiel am 9. Juni in München sind schon viele Züge gut gebucht – besonders an den Spieltagen und dort, wo die deutsche Mannschaft spielt. Aber auch aus Polen und der Schweiz kamen Anmeldungen für Charterzüge; auch die brasilianischen und die mexikanischen Fans haben Extrazüge bestellt, um von den Standorten Köln und Düsseldorf aus ungehindert zu den Spielen ihrer Nationalteams zu gelangen.
Sonderzüge! Charterzüge! Dinge aus vergangenen Zeiten, als die DB noch Reserven hatte. Man stelle sich vor, die DB hätte dem DFB einen ICE-Halbzug in Erlangen und den Niederländern einen in Wolfsburg an den Bahnhof gestellt …