rail blog 312 / Joachim Holstein

Die Stimmen der Finalisten

Zu den internationalen Medien, die sich mit der Performance der öffentlichen Verkehrsmittel während der Fußball-Europameisterschaft auseinandersetzten, gehören der Londoner »Telegraph« und »El País« aus Madrid.

Geben wir das Wort zunächst an den Zweitplatzierten, der es immerhin geschafft hat, seine Performance während der vier Turnierwochen zu verbessern:

https://www.telegraph.co.uk/football/2024/06/20/germany-trains-euro-2024-chaos-decline-england-fans

Der Korrespondent berichtet zunächst aus Gelsenkirchen und Essen, wo offenbar niemand vorausgesehen hatte, dass die meisten der 48.953 Zuschauer nicht etwa in Gelsenkirchen-Nord übernachten wollten, sondern nach Essen, Düsseldorf, Köln, Wuppertal oder sonstwohin würden fahren wollen:

Die Fans, die mit überfüllten Straßenbahnen vom Stadion zurück zum Bahnhof gefahren waren, schauten entsetzt, als sie feststellten, dass es keine zusätzlichen Zugkapazitäten gab, um den höchst vorhersehbaren Anstieg der Nachfrage zu bewältigen.

Die Stadt ist so klein, dass die meisten Menschen woanders übernachten, aber es gab nur alle halbe Stunde einen Zug nach Düsseldorf. Die Stimmung wurde nicht besser, als eine Durchsage die Menschenmenge an das eine Ende des Bahnsteigs beorderte, woraufhin der nächste Zug an diesem Abschnitt vorbeifuhr, um dort zu halten, wo die Leute gerade hergekommen waren. Das ist typisch für die Erfahrungen in deutschen Zügen: eine Reihe von kleinen Ärgernissen, die so häufig vorkommen, dass man beginnt, Böswilligkeit zu vermuten.

Außerdem hatte der in Düsseldorf logierende Korrespondent die Idee, am 19. Juni vormittags nach Köln zu fahren, um schottische Fanatmosphäre vor deren Spiel gegen die Schweiz aufzusaugen, und rechtzeitig zum Spiel Kroatien – Albanien wieder »zuhause« vor dem Fernseher zu sein:

Ich nehme den 11:40-Uhr-Nahverkehrszug, da dieser für akkreditierte Journalisten kostenlos ist, die Hochgeschwindigkeitszüge dagegen nicht. Ich stelle neidvoll fest, dass der Hochgeschwindigkeitszug acht Minuten vorher pünktlich abgefahren ist. Mein Zug fährt wundersamerweise mit nur zwei Minuten Verspätung ab. Die Fahrt sollte 32 Minuten dauern, und alles läuft gut, bis wir um 11:57 Uhr vor Leverkusen zum Stehen kommen.

Erste Durchsage nach 10 Minuten: ein vorausfahrender Zug blockiere die Strecke. Zweite Durchsage weitere 10 Minuten später: Personen im Gleis. Da der Lokführer kein Englisch kann, übersetzen Reisende die weiteren Ansagen:

„Er weiß nicht, was los ist, hofft aber, dass wir bald weiterfahren können“. Endlich ruckeln wir um 13:08 Uhr los, eine Stunde und 11 Minuten, seit wir angehalten haben. Schließlich erreichen wir Köln um 13:30 Uhr, fast 80 Minuten zu spät. Und natürlich ist es wunderschön.

Die Türen des Hauptbahnhofs öffnen sich unterhalb des unglaublichen Doms, der dritthöchsten Kirche der Welt. Unter den Zwillingstürmen singen die schottischen Fans über John McGinn und Do-Re-Mi aus The Sound of Music. Keiner denkt an seine Reise, obwohl mir zwei Fans erzählen, dass ihr geplanter Nachtzug aus Frankfurt gestrichen wurde. Das stört sie nicht, sie haben Bars gefunden, die bis spät geöffnet waren.

Dann möchte er zurück:

Ein Unentschieden zwischen Albanien und Kroatien zu sehen, liegt in weiter Ferne, aber die 15:56-Uhr-Verbindung nach Düsseldorf bietet eine unkomplizierte 27-minütige Heimreise von Gleis 5. Eine Minute vor der erwarteten Einfahrt verschwindet er von den Abfahrtstafeln. Auf der offiziellen DB-App heißt es, er habe den Bahnhof bereits verlassen. Als er wieder auf der Anzeigetafel erscheint, hat er 15 Minuten Verspätung und ein paar Wagen verloren. Die App warnt vor einer »außergewöhnlich hohen Anzahl von Fahrgästen«.

Macht nichts, der Zug um 16:07 Uhr ist drüben auf Gleis 9 und braucht nur 10 Minuten länger. Ich treffe um 16:08 Uhr ein, mache mir aber keine Sorgen, ihn verpasst zu haben. Er kommt nur sieben Minuten später als versprochen an und fährt glücklicherweise ohne Probleme über zwei Stationen nach Düsseldorf.

Da ich die meiste Zeit meines Lebens im Süden Londons verbracht habe, sind mir die Tücken des öffentlichen Nahverkehrs nicht fremd. Die gelegentlichen Gleisänderungen und Zugausfälle stören mich nicht. Aber ich kam viel später als erhofft in Köln an und verließ es auch wieder viel später, und zwar ausgesprochen mürrisch. Niemandem wird sich das Erlebnis Euro 2024 durch die Züge ruinieren lassen, aber sie sind ein ermüdendes Durcheinander. Eine Schande, in einem ansonsten für Fußball perfekten Land.

»Nuff said« – soweit es die Schilderung der Symptome betrifft, über die ja ganze Bücher geschrieben wurden; »senk ju vor träwelling« dürfte das bekannteste sein.

Der spanische Kollege von »El País« bleibt aber nicht bei den Symptomen und dem Ausruf »Schande« stehen, sondern nennt die Gründe:

https://elpais.com/deportes/eurocopa-futbol/2024-06-28/la-eurocopa-desmonta-otra-vez-el-mito-de-la-eficiencia-alemana.html

Was die europäischen Fans jetzt fassungslos mitbekommen, ist das Ergebnis des deutschen Spardogmas. Schätzungsweise 5.000 Brücken sind dringend sanierungs- oder renovierungsbedürftig. Straßen und Autobahnen leiden unter jahrzehntelanger Vernachlässigung der Instandhaltung, was zu Flickschusterei hier und da und zu ständigen Staus führt, die den Autofahrern auf die Nerven gehen.

Und jetzt weiß der Staat, eingeschränkt durch die »Schuldenbremse«, die Schuldenobergrenze im Grundgesetz, nicht mehr, woher er das Geld nehmen soll, um das marode Schienen- und Straßennetz auf den Stand der Technik zu bringen. Allein die Bahn braucht schätzungsweise 88 Milliarden Euro, um wieder den guten Service zu bieten, den sie vor Jahrzehnten geleistet hat. Es wird noch weitere Jahrzehnte dauern, bis das Problem gelöst ist, warnen die Verbände der Benutzer der öffentlichen Verkehrsmittel.

Und anstatt klug ins Schienennetz und in Fahrzeuge zu investieren und zu reparieren, verschwendet Deutschland das Geld für desaströse Prestigeprojekte und für völlig kontraproduktive Straßenausbauten.

Über Joachim Holstein

(*1960) arbeitete von 1996 bis 2017 als Steward in Nacht- und Autozügen der DB, war von 2006 bis zur Einstellung dieser Verkehre Betriebsrat der DB European Railservice GmbH und zuletzt Sprecher des Wirtschaftsausschusses. Mitbegründer der Initiative zur Rettung des Nachtzuges Hamburg-Paris (2008; »Wir wollen nach Paris und nicht an die Börse«) und des europäischen Netzwerks für Nachtzüge »Back on Track« (2015; https://back-on-track.eu/de/); Weiteres unter www.nachtzug-bleibt.eu

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