rail blog 346 / Joachim Holstein

9.000 Einwohner, 2 Bahnhöfe, 1 Ortsbus

Im östlichen Speckgürtel Nürnbergs liegt Schwaig – rund 9.000 Einwohner, von denen die meisten im Kernbereich südlich des Flüsschens Pegnitz leben, während auf der nördlichen Talseite der Ortsteil Behringersdorf liegt. Dadurch gibt es gleich zwei Bahnhöfe im nur 5,9 Quadratkilometer messenden Ort: Schwaig wird von der S-Bahnlinie 2 unter der Woche alle 20 Minuten bedient, am Wochenende fällt eine der drei stündlichen Bahnen weg, sodass eine Taktung von annähernd 20/40 Minuten entsteht. In Behringersdorf hält die RB 30 im Stundentakt. Hinzu kommt ein Nürnberger Stadtbus, der so selten nach Schwaig verlängert wird, dass er im Grunde dort kaum zu gebrauchen ist.

https://www.schwaig.de/seite/de/gemeinde/031:594/-/Verkehrsanbindungen.html

Wie bewegt man sich also im Ort, wenn man nicht ein bis drei Autos (wie gesagt: Speckgürtel!) zur Verfügung hat? In den meisten Gemeinden dieser Größenordnung wäre die Antwort: »Dann lauft’s halt!«

Schwaig hat seit 2014 eine Alternative: einen Ortsbus. Der dreht montags bis freitags acht Mal und samstags vier Mal eine 49 Minuten lange Runde mit 27 Haltestellen, sodass ein auf die S-Bahn abgestimmter Stundentakt angeboten werden kann und Wohngebiete, das Einkaufszentrum und der nördliche Ortsteil in drei Schleifen miteinander verbunden werden.

Es ist ein kleines Fahrzeug – aber dank ausklappbarer Rampe und Niederflur-Stellfläche barrierefrei, und er kommt durch die kleinsten Wohnsträßchen.

Der Clou: eine Fahrt kostet 50 Cent, Kinder bis zum 6. Geburtstag fahren gratis. Angenehmer Nebeneffekt: Das System ist zu 100 Prozent analog. Fahrscheine gibt es nur im Bus, sie sind aus Papier – und ich möchte wetten, dass man auch später zahlen darf, wenn man sein Geld vergessen hat, schließlich kennt man sich.

https://www.schwaig.de/seite/de/gemeinde/5390/-/Schwaiger_Ortsbus.html

https://www.schwaig.de/eigene_dateien/ortsbus/Ortsbus_Flyer_2023.pdf

Aus der Zeit der Einführung stammen Artikel, in denen Zahlen genannt werden:

Mit rund 20 Personen pro Tag hatte man gerechnet, nun benutzen bereits über 40 Personen täglich den Schwaiger Ortsbus, der seit 1. Oktober 2014 im Stundentakt in der Gemeinde seine Runden dreht. Im Monat Juni 2015 wurden erstmals mehr als 1.000 Fahrgäste gezählt.

Für die Anschaffung des Busses zahlt die Gemeinde rund 85.000 Euro, das bisherige Modell war lediglich geleast. Diesen Service für die Bürger lässt sich Schwaig gerne etwas kosten, auch die jährlichen Ausgaben werden sich mit dem neuen Gefährt etwas erhöhen, von derzeit rund 100.000 Euro auf dann etwa 120.000 bis 125.000 Euro. Der Fahrpreis bleibt trotzdem unverändert bei 50 Cent pro Fahrt, Kinder unter sechs Jahren und Behinderte zahlen nichts.

Der Bus müsste 55 zahlende Fahrgäste pro Runde befördern, um kostendeckend zu sein. Völlig illusorisch – aber das war auch nicht das Ziel, sondern:

Höchst zufrieden zeigte sich die Schwaiger Bürgermeisterin Ruth Thurner mit der anhaltend starken Nachfrage der Bevölkerung bei der Nutzung des Ortsbusses. Überwiegend Senioren benötigen diese Einrichtung, um in der Gemeinde herumzukommen. „Das war auch so gewollt, denn wir haben bewusst die Zeiten ausgeklammert, in denen die Schüler fahren“, bestätigt die Bürgermeisterin.

Dem Gemeinderat war es ein Anliegen, vor allem für die Senioren der Gemeinde, denen es schwerfiel, weite Wege zu gehen, eine Einrichtung zu schaffen, die ihnen mehr Mobilität schenkt. Die beiden am stärksten nachgefragten Ziele sind die beiden Einkaufszentren und die Friedhöfe. Bedeutsam ist für viele Senioren dabei auch der persönliche Kontakt zu dem freundlichen Busfahrer, etliche Fahrgäste freuen sich auf einen kleinen Plausch in den Fahrpausen.

Schwaig kann sich das leisten, denn bei der Einführung des Busses betrug die Verschuldung 8.550 Euro. Wohlgemerkt: des gesamten Orts. Pro Kopf also 95 Cent.

Und was sagt der Landkreis dazu?

Auch der Landrat kam zu dem kleinen Festakt ins Rathaus – mit leeren Taschen. Armin Kroder lobte die Gemeinde für ihr Nahverkehrsangebot, das allerdings vom Landkreis nicht finanziell unterstützt werden könne, da es nicht zur Grundversorgung gehöre.

Vielleicht sollte man mal über das Konzept der Grundversorgung diskutieren: mit älteren Menschen, mit gehbehinderten Menschen, mit denen, die mit ein bis zwei Kindern an der Hand oder im Buggy einkaufen wollen … oder mit denen, die ein Mal pro Woche vier Stationen hin und wieder zurück fahren müssen.

Das ist genau der Verkehr, der von den Verkehrsplanern (m) und Politikern (m) normalerweise »vergessen« wird, denn er ist kein Pendlerverkehr, sondern vorwiegend Freizeitverkehr

Und: es gibt auch Gegenden in Hamburg (und anderen Großstädten), in denen ein Bus dieser Größe das passende Gefährt wäre. Und zwar verlässlich, mit Fahrplan – dann allerdings eher alle 10 bis 20 Minuten. Nicht irgendwelche Rufbusse oder Sammeltaxen, bei denen man nie wissen kann, ob zur passenden Zeit was fährt. ÖPNV ist dann am besten, wenn er »einfach da« ist und nicht allzu lange Wartezeiten und allzu weite Wege zur Haltestelle die erste – und oft entscheidende – Hürde bei der Entscheidung zwischen Auto und ÖPNV sind.

Über Joachim Holstein

(*1960) arbeitete von 1996 bis 2017 als Steward in Nacht- und Autozügen der DB, war von 2006 bis zur Einstellung dieser Verkehre Betriebsrat der DB European Railservice GmbH und zuletzt Sprecher des Wirtschaftsausschusses. Mitbegründer der Initiative zur Rettung des Nachtzuges Hamburg-Paris (2008; »Wir wollen nach Paris und nicht an die Börse«) und des europäischen Netzwerks für Nachtzüge »Back on Track« (2015; https://back-on-track.eu/de/); Weiteres unter www.nachtzug-bleibt.eu

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