Vorfahrt für die Autobahn – Beobachtungen auf einer Westbalkanreise
Fast fünfunddreißig Jahre nach dem Zerfall Jugoslawiens und dem Umsturz in Albanien sowie nach den nachfolgenden Kriegen zwischen den neu entstandenen Staaten rücken die relativ nahe an Mitteleuropa gelegenen Länder verstärkt in den Fokus der EU und der Tourismuswirtschaft. Im Rahmen der durch den Ukrainekrieg beschleunigten Überlegungen zur strategischen Arrondierung der EU haben drei der fünf Westbalkanstaaten (Albanien, Nordmazedonien und Montenegro) überraschend schnell den Status als EU-Beitrittskandidaten erlangt. Das vierte dieser Länder – Kosovo – steht ja ohnehin de facto unter EU-Verwaltung und genießt den Status als „potentieller Beitrittskandidat“. Mit dem Status als Beitrittskandidat und auch als potentieller Beitrittskandidat fließen nun auch befreit EU-Milliarden, die in den Infrastrukturausbau gesteckt werden sollen. Damit soll nicht nur das durch den aufkeimenden Tourismus gestiegene Verkehrsaufkommen bewältigt werden, sondern es werden hier auch klar strategische Ziele verfolgt, um Russland und dem vom ihm unterstützten Serbien keinen Zugang zum Mittelmeer zu ermöglichen. Denn das an das Binnenland Serbien grenzende Montenegro hatte bislang eine eher Russland-freundliche Politik betrieben.
Nun – gegen die Instandhaltung, Erneuerung und Erweiterung von Verkehrswegen auch angesichts des enorm gestiegenen Autoverkehr (Albanien gilt als das Land mit der höchsten [Gebraucht-]Mercedes-Dichte der Welt) ist prinzipiell nichts einzuwenden, wenn die Verkehrsträger Straße und Schiene gleichwertig betrachtet werden. Aber das genau ist in diesen Ländern nicht der Fall. Vor 1990 hatten diese Länder aufgrund der topographischen Gegebenheiten ohnehin nur ein sehr weitmaschiges und wenig leistungsfähiges Eisenbahnnetz, dessen erste Linien aber schon 1873/74 errichtet wurden. Zu jugoslawischen Zeiten wurde durchaus in die Bahn investiert, auch mit Unterstützung der Weltbank: siehe den Bau der 1976 fertiggestellten Bahnstrecke von Belgrad nach Bar ans Mittelmeer durch extrem schwieriges Gelände mit vielen Kunstbauten, es wurden Strecken elektrifiziert und westliches Equipment eingekauft. Nach 1990 ging wie in allen osteuropäischen Ländern die Nachfrage im Personen- wie im Güterverkehr drastisch zurück. Die kriegerischen Auseinandersetzungen taten ihr Übriges. Seitdem gibt es auch keine Bahnverbindung mehr zwischen dem kontinentaleuropäischen Bahnnetz und Griechenland. Noch in den 1970er Jahren gab es durchlaufende Züge von München bis nach Athen, vor allem für den Gastarbeitertransport. Heute kommt man mit Anstrengungen per Bahn nur noch nach Skopje, der Hauptstadt Nordmazedoniens. Die Bahnverbindung von dort nach Thessaloniki, die zweitgrößte Stadt Griechenlands mit einem Ballungsraum von knapp einer Million Einwohner, wird nicht mehr bedient, die Gleise allerdings liegen noch. Und noch in den achtziger Jahren gab es brauchbare Bahnverbindungen per Schlafwagen von Wien nach Belgrad, von wo aus die anderen jugoslawischen Teilrepubliken und auch Griechenland gut zu erreichen waren. Heute ist Serbien aus politischen Gründen de facto vom europäischen Bahnverkehr abgekoppelt worden.
Durch den wirtschaftlichen Niedergang nach dem Zerfall Jugoslawiens und die verbreitete Verfügbarkeit von preiswerten Gebrauchtautos (vor allem deutscher Provenienz) fielen die Bahnen aus dem Fokus der Politik. Der Zerfall Jugoslawiens führte auch zur Aufspaltung der einstmals einheitlichen jugoslawischen Staatsbahn JZ in Bahngesellschaften der neu entstandenen Staaten. Die neu entstandenen Bahngesellschaften waren im Vorgriff auf einen möglichen EU-Beitritt EU-konform in Infrastruktur- und Transportgesellschaften aufgeteilt worden, inklusive der weiteren Aufspaltung in Personen- und Güterverkehrsgesellschaften und teilweise missglückter und zurückgenommener Privatisierungsversuche. Hier kapselte sich ein für das aktuelle Transportvolumen überdimensionierter Verwaltungsapparat ein und versuchte am Rande der Pleite (ging aber nicht, weil staatlich) irgendwie zu überleben. Für die Politiker dieser Länder gab es andere Prioritäten, aber keine Investitionsmittel für die immer knapp vor der Insolvenz stehenden Bahngesellschaften. Diese versuchten nach den untauglichen Rezepten, die auch hierzulande nicht unbekannt sind wie Angebotskürzungen, Streckenstilllegungen und Personalabbau, zu überleben. Ein Weg aus dieser Abwärtsspirale zeichnet sich bisher noch nicht ab. Die EU guckt tatenlos und die Autoindustrie eher wohlwollend dem Zerfallsprozess zu. Nach bekannter EU-Logik wurde jetzt auf den Straßenbau zur Stärkung der wirtschaftlichen Entwicklung gesetzt. Die Mitteldotierung für den Straßenbau erfolgt natürlich mit den üblichen Lippenbekenntnissen, dass man auch die Bahn ausbauen wolle. Aber keiner guckt genau hin. Das Ergebnis dieser Politik kann man wunderbar in den Ländern beobachten. Gnadenlos werden unter Missachtung aller Umweltkriterien Autobahnen durch ökologisch sensible (Karst-)Berglandschaften geprügelt, teilweise unter Nutzung stillgelegter Bahntrassen (besonders in Albanien, siehe Fotostrecke dazu). Später nach Umweltschäden befragt, kann die EU immer sagen, das war vor dem Beitritt, da galten EU-Umweltstandards noch nicht. So werden für neue Autobahntrassen halbe Berge abgetragen und im 24/7-Tempo idyllische Täler autobahngerecht dem „Fortschritt“ erschlossen.
Besonders interessant der Fall in Albanien: Dort wurde in den 1960 und 70er Jahren vor allem mit chinesischer Unterstützung, derer sich damals der albanische Herrscher Enver Hodscha versicherte, ein landesweites Bahnnetz in Normalspur aufgebaut, welches die wichtigsten Städte des Landes und auch wichtige Industrie- und Bergbaubetriebe miteinander verband. Fast alle Bahnstrecken in Albanien – obwohl sie ein touristisch großes Potential hätten, besonders die in geologisch herausforderndem Gelände verlaufende Strecke von der Hafenstadt Durres zum Ohrid-See entlang des alten Handelsweges Via Egnatia – sind mittlerweile stillgelegt. Die in chinesischer Eisenbahntechnik errichtete Strecke mit zahlreichen Brücken und Tunnels kann es durchaus, was die Trassierung angeht, mit den Schweizer Gebirgsbahnen aufnehmen. Was sonst von dem ehemals 447 km langen Netz noch betrieben wird, ist nicht der Rede wert und von einer als unterirdisch zu bezeichnenden Angebotsqualität (siehe Artikel aus der taz vom 30.11.2024).
https://taz.de/Eisenbahn-in-Albanien/!6040774
Im Kosovo gibt es heute de facto keinen Bahnverkehr mehr. In Montenegro ist einzig die Teilstrecke von der Hauptstadt Podgorica nach Bar von Interesse. Obwohl die Strecke von 2002 bis 2006 umfassend modernisiert wurde, ist das Verkehrsaufkommen bescheiden. In Nordmazedonien ist lediglich die frühere zweigleisig ausgebaute und mit 25kV 50 Hz elektrifizierte Magistrale von Belgrad bis nach Skopje von Interesse. Abgesehen von einigen unregelmäßig verkehrenden Regionalzügen ist der Bahnverkehr in diesem Land nur noch ein Schatten seiner früheren Bedeutung. Insgesamt liegt der Modal-Split-Anteil der Bahn im Personen und Güterverkehr jeweils unter 3%.
Eisenbahnen im Westbalkan | |||||||||
Land | Länge | davon | Strecken | Strecken | Anmerkungen | ||||
Streckennetz | elektrifiziert | mit Personen | nur mit | ||||||
Normalspur | verkehr | Güterverkehr | |||||||
Albanien | 447 | 0 | 150 | 297 | heute kein GV mehr, PV mit max. 2 Zugpaaren/Tag | ||||
Kosovo | 437 | k.A. | 333 | 104 | Betrieb weitgehen eingestellt | ||||
Montenegro | 250 | 225 | 190 | 60 | Strecke nach Bar 1976! eröffnet, Verbindung Belgrad-Mittelmeer | ||||
Nordmakedonien | 929 | 315 | 315 | ? | Nur Hauptverbindung Richtung Serbien noch in Betrieb | ||||
Summe | 2063 | 988 |
Fazit: Die Eisenbahn findet schwierige Bedingungen in den vier de-facto-EU-Beitrittsländern des Westbalkans vor. Die EU schaut weg und verschärft durch die großzügige Finanzierung von Straßen-/Autobahnprojekten das Problem enorm. In Kenntnis der bahnpolitischen EU-Regularien wird jetzt zwar das eine oder andere Bahnrehabilitierungs- und Neubau-Projekt verkündet, wie der Neubau (unter partieller Nutzung alter Trassenabschnitte) einer Bahnlinie vom albanischen Hafen Durres bis nach Varna in Bulgarien. Die Idee für diese Bahnstrecke entspringt eher militärstrategischen Überlegungen als einem realen Verkehrsbedürfnis. Aber getan hat sich bisher wenig bis nichts. Grenzüberschreitender Bahnverkehr scheint ein Fremdwort zu sein.
Fotostrecke: Bahnlinie von Durres – Elbasan nach Pogradec in den 1960/70er Jahren mit chinesischer Unterstützung gebaut. Heute stillgelegt und Trasse z.T. für den Autobahnneubau verwendet







