rail blog 376 / Michael Jung

Wie Verspätungen produziert werden


Die Fahrt ging am 1.10.2025 mit ICE 90 von Wien Hbf nach Hamburg-Altona. Ein wunderbarer
durchgehender Zug, der aber mit dem Fahrplanwechsel im Dezember eingestellt wird. Gefahren
wurde mit einer älteren ICE3-Garnitur, die mittlerweile auch schon so 25 Dienstjahre auf dem Buckel
haben dürfte.


Ab Wien war der Zug rappelvoll, ohne Platzreservierung hatte man kaum eine Chance, einen Sitzplatz
zu ergattern, wenn man nicht dauerndes Sitzplatzhopping von einem auf den anderen auf
Teilstrecken freien Sitzplatz praktizieren wollte.


Die Abfahrt in Wien erfolgte pünktlich. Aber schon kurz danach ploppte eine Mail auf: Ankunft in
Hamburg-Altona 5 Minuten später. Welch ein Unsinn, zum einem liegen 5 Minuten noch innerhalb
der Zeitspanne, die die DB als pünktlich ansieht, zum anderen halte ich es für gewagt, für eine
zehneinhalbstündige Zugfahrt quer durch Österreich und Deutschland schon am Anfang eine so
genaue Ankunftszeit bzw. minimale Verspätung zu prognostizieren. Das soll wohl eine besorgte und
pünktliche Bahn vorgaukeln.


Die Fahrt war bis Passau unter der Regie der ÖBB pünktlich, auch sorgten interessanterweise die
Grenzkontrollen nicht für weitere Verspätungen. Aber nach Regensburg auf der Fahrt durch die
landschaftlich schöne Strecke durch die Fränkische Alb gab es eine Zwangsbremsung. Der Zug kam
vollständig zum Stehen. Ansage des Zugführers: Oberleitungsschaden in Feucht (bei Nürnberg),
Genaues wisse man nicht. Keine fünf Minuten später ploppte die nächste Meldung auf:
Ankunftsverspätung in Hamburg-Altona 12 Minuten. Na ja, das lässt sich noch einfahren. Aber
irgendwie ließ sich die Oberleitung nicht so schnell reparieren – oder es war eine andere
Schadensursache, weil bei der späteren Durchfahrt durch Feucht keinerlei Arbeiten und
oberleitungsspezifische Gerätschaften zu sehen waren. Zumindest wurde die Verspätungsanzeige in
zwei weiteren Mails über 22 dann auf 26 Minuten erhöht. Das war für mich eigentlich irrelevant, da
ich am Zielbahnhof weder einen Anschlusszug brauchte, noch mich eine Verspätung von um die 20
Minuten sonderlich beindruckt hätte. Verspätungen in dieser Größenordnung stellen sich auf nahezu
jeder Autofahrt über 150-200 Kilometer ein. Hier aber geht es um eine Strecke von über 1.000 km.
Die Weiterfahrt des Zuges, der sich ab Nürnberg etwas leerte, über Würzburg – Fulda nach Kassel
und dann weiter bis Hannover erfolgte ohne Besonderheiten. Nach Hannover war ich leicht irritiert,
weil sich das Fahrgeräusch etwas anders anhörte und die Gleislage schlechter war als auf der
Standardstrecke Hannover – Celle – Uelzen – Lüneburg – Hamburg. Da es zwischenzeitlich
stockfinster war, konnte ich auch nicht so leicht verifizieren, wo wir uns befanden, bis der Zug
plötzlich im Bahnhof von Verden/Aller abrupt zum Stehen kam. Irritiert über diese Streckenführung
befragte ich das Zugpersonal, das mir erläuterte, wir müssten die Umleitung über Verden –
Rotenburg/Wümme fahren, da es einen Oberleitungsschaden in Uelzen gebe. Das liege daran, dass
jetzt auch die Züge von Hamburg nach Berlin über Uelzen führen. Das ist natürlich blanker Unsinn,
aber offensichtlich war die Reparatur des großflächigen Oberleitungsschadens (mit 300 m
heruntergerissener Fahrleitung) in Uelzen knapp 10 Tage zuvor so schlampig ausgeführt worden,
dass ein erneuter Schaden auftrat. Seltsam auch, dass bis zu diesem Zeitpunkt keine Meldung im
Handy aufgeploppt war. Natürlich kostet der Umweg über Verden Zeit, nun endlich wurde die
Ankunftsverspätung auf 37 Minuten erhöht. Aber trotzdem fuhr der Zug nicht weiter. Ein Geraune
ging durch den Zug: Wir müssten über Bremen fahren. Wieso das? Das würde die Verspätung weiter
erhöhen. Reisende mit Anschlusszügen in Hamburg Hauptbahnhof wurden langsam unruhig.

Nach etwa 20 Minuten Standzeit in Verden kam die Durchsage, der Lokführer warte auf einen neuen
Fahrplan. Nun ja … so etwas sollte heutzutage schneller gehen. Auf der (eingleisigen) Strecke
zwischen Verden und Rotenburg sei ein Güterzug liegengeblieben… Dann zuckelte der Zug langsam
weiter, und man konnte im Dunklen den Bahnhof Bremen-Sebaldsbrück ausmachen. Damit war klar,
der Zug konnte nicht die typische Umfahrung von Bremen über die Sagehorner Kurve nehmen, weil
es zwischen diesen beiden Strecken keine Überleitstelle gibt. Also wurde der Zug durch Bremen
Hauptbahnhof gezogen. Die Nahverkehrszüge mussten zur Freude der darin sitzenden Reisenden
warten. Jetzt war eine einstündige Verspätung und damit der Anspruch auf 25%
Fahrkostenerstattung – bei einem Ticket von Wien nach Hamburg ein ansehnlicher Betrag – in
Sichtweite.


Durch vorausfahrende Nahverkehrs- und Güterzüge auf der hochbelasteten Stecke Bremen Hbf –
Hamburg-Harburg konnte der ICE natürlich nicht seine Regelgeschwindigkeit auf dieser Strecke von
200 km/h ausfahren, sodass sich einschließlich einer Einfahrtverzögerung in den Bahnhof Hamburg-
Harburg die Gesamtverspätung bis zum Zielbahnhof auf 76 Minuten addierte und die
Fahrpreiserstattung von 25 % gesichert war. Angeschmiert waren die Reisenden, die noch den
Nachtzug von Hamburg nach Stockholm bekommen wollten. Die durften sich an den DB-Infopoint
wenden, mussten dann vermutlich in einem der ihnen von der DB zugewiesenen Hotels übernachten,
und dürften dann natürlich einen halben Tag später in Stockholm angekommen sein.


Fazit: Der Oberleitungsschaden in Feucht bei Nürnberg war vermutlich keiner, sondern es war die
übliche Verstopfung des Knotens Nürnberg zur Rushhour. Wieso der Oberleitungsschaden in Uelzen
nicht in Uelzen umfahren werden konnte, bleibt schleierhaft, denn ausreichend Gleise stehen dort
zur Verfügung. Ein liegengebliebener Güterzug kommt vor, hier ist die Verspätungsursache die seit
Jahrzenten kritisierte Eingleisigkeit des für den Güterverkehr wichtigen Streckenabschnittes von
Rotenburg/Wümme nach Verden, die ein Überholen des liegengebliebenen Güterzuges verhindert
hat. Der fehlende zweigleisige Ausbau dieser Strecke gehört nach der Einschätzung von Bürgerbahn
zu den Top-15 Engpassstellen im Netz der DB! Also alles hausgemachte Probleme und keine höhere
Gewalt!

Über Michael Jung

Jahrgang 1950, Dipl.-Volksw., arbeitete zuerst in einem Großkonzern der Mineralölwirtschaft und dann 28 Jahre bei einer deutschen Großbank, davon 10 Jahre lang im Bereich Finanzierung von Eisenbahn- und Nahverkehrsprojekten weltweit. Seit 8 Jahren ist er Sprecher der Bürgerinitiative Prellbock-Altona e.V., die sich für den Erhalt und Modernisierung des Fern- und Regionalbahnhofs Altona am jetzigen Standort einsetzt.

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