Nachtzüge mit Extras – 1
Bei den Mitarbeiterbefragungen des DB-Konzerns vergaben meine Kolleginnen und Kollegen bei der DB European Railservice GmbH (DB ERS), einer Tochtergesellschaft von DB Autozug GmbH, die ihrerseits eine Tochtergesellschaft von DB Fernverkehr war, stets unterdurchschnittliche Noten bei der Frage, ob man stolz auf die Arbeit für die DB sei – kein Wunder, denn uns wurden Freifahrten vorenthalten, und beim Essen in einer DB-Kantine hätten wir »Besucherpreise« zahlen müssen. Wir trugen zwar dieselbe DB-Unternehmensbekleidung, waren aber sozusagen »Bahner dritter Klasse«.
Ganz anders waren die Umfragewerte bei den Themen Zufriedenheit mit der Arbeitszeit und Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das hatte zwei Gründe.
Erstens: unsere Dienstpläne wurden nicht im Computer nach Schema F von einer Software namens Carmen erstellt, sondern von Kollegen aus Fleisch und Blut, bei denen man vorab alle möglichen und unmöglichen Wünsche (»ich möchte am letzten Tag der Tour de France in Paris sein«) einreichen konnte; oft fuhren feste Teams, und diejenigen mit italienischen Wurzeln fuhren natürlich bevorzugt die Nacht- und Autozüge nach Bella Italia, während diejenigen aus dem Südosten nach Rijeka oder Maribor fuhren. Auch auf Wünsche wie »bitte keine Autozüge mit Speisewagen« wurde Rücksicht genommen.
Zweitens: pro Dienst kamen ziemlich viele Stunden zusammen. Während im Fernverkehr meist sechs Tage gebraucht wurden, um auf etwa 40 Wochenstunden zu kommen (mit den berühmten Personalwechseln in Kassel, wo man dann mitten in der Schicht auf einen anderen Zug wechseln musste), waren wir pro Strecke zwischen 10 und 22 Stunden unterwegs, sodass manche mit fünf Diensten = zehn Nächten das Monatssoll zusammenbekamen. Mein persönlicher Rekord waren 48 Stunden für einen Dienst nach Venedig und zurück, bei dem alles durchbezahlt wurde: die lange Ruhezeit an Bord ebenso wie die vier Stunden Aufenthalt in der Lagunenstadt, denn bei den ersten Abfahrten hatte man uns für diese kurze Zeit keine Tageszimmer besorgt. Der andere Rekord: über 70 bezahlte Stunden für einen viernächtigen Umlauf – zweimal von Binz auf Rügen nach Stuttgart und zurück, mit An- und Rückreise aus bzw. nach Hamburg.
Auch die Arbeitsverträge waren oft maßgeschneidert, wir hatten eine hohe Teilzeitquote und großzügige Arbeitszeitkonten auf der Grundlage von Tarifverträgen mit der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten. Dass die NGG – und nicht die GdED/Transnet/EVG – die Tarife machte, lag daran, dass bei den drei Müttern der DB ERS (DSG, Mitropa und »Ur-ERS«) die Gastronomie/Hotellerie dominierte. Manche hatten 75 %, 50 % oder 25 % Teilzeit, manche hatten im Sommer Vollzeit und im Winter 80 oder 100 Stunden im Monat – wie gesagt: die Zufriedenheit bei der Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf war überdurchschnittlich.
Und wir hatten noch zwei psychologische Vorteile auf unserer Seite: zum einen ist es schöner, Fahrgäste vom Anfang bis zum Ende ihrer Reise begleiten zu können, als sich auf »noch jemand zugestiegen?« bzw. »Personalwechsel, die Fahrkarten bitte!« beschränken zu müssen, und der andere unbezahlbare Vorteil war für mich bei jeder Fahrt nach Brig sichtbar, wo wir im selben Hotel logierten wie das DB-Team aus dem Eurocity, das wir immer auf dem Weg zwischen Hotel und Bahnhof trafen. Das Eurocity-Team kam abends gegen 20 Uhr an und fuhr morgens gegen 10 Uhr zurück, sah in seiner Ruhezeit also fast nur schwarze Nacht, während wir von kurz vor 10 Uhr bis gegen 19 Uhr Aufenthalt hatten. Und diese Zeit nutzten wir natürlich.