Stellungnahme zur bisherigen Praxis bei NKU Verfahren (»Standardisierte Bewertung«)

Prof. Dr. Heiner Monheim – Verkehrsberatung

Vorbemerkung

In der Debatte um Schienenverkehrsprojekte spielen Nutzen-Kosten-Analyse nach der Methodik der Standardisierten Bewertung eine zentrale Rolle. Von potenziellen Zuschussgebern (Bund und/oder Land) werden entsprechende Analysen gefordert, die anhand von Indikatoren und Modellrechnungen den verkehrlichen und gesamtgesellschaftlichen Nutzen projektierter Neu- und Ausbaumaßnahmen ermitteln und in Relation zu den prognostizierten Investitionskosten setzen.

Voraussetzung für die Förderfähigkeit einer Projekts ist ein positiver Nutzen-Kosten-Faktor von größer 1, sprich: der berechnete monetarisierte Nutzen übersteigt die Kosten.

Dabei wird das Projekt (die Maßnahme) in einem Mit-Ohne-Vergleich auf seine intendierten und erreichbaren direkten Wirkungen (Verkehrsverlagerungseffekte) und indirekten Wirkungen (Umwelt- und Klimaeffekte, Unfalleffekte, unter Umständen auch städtebauliche Effekte) untersucht.

In der Regel werden die Analysen primär bezogen auf ein bestimmtes Projekt und beinhalten nur manchmal auch mehrere System- und Netzoptionen. Also beispielsweise im kommunalen und regionalen Schienenverkehr unterirdische Tunnellösungen im Vergleich zum oberirdischen Netzausbau. Die gleiche Frage stellt sich auch bei Eisenbahnprojekten, bei den auch System- und Trassenführungsoptionen auf ihre Wirkungen verglichen werden.

Fragen der System- und Netzentwicklung

Diese enge Fragestellung bezogen auf ein konkretes Projekt spart die weitergehende Grundsatzfrage der künftigen System- und Netzentwicklung der betroffenen Schienenverkehrssysteme aus – also zjum Beispiel Straßenbahn versus Stadtbahn versus U-Bahn versus Seilbahn.

Die grundlegende Frage, mit welchem System und daraus abgeleitetem Netz der größte Effekt erzielt werden kann und welche alternativen Möglichkeiten für andere Projekte und Netze es mit den prognostizierten Investitionen generell und konkret in der Untersuchungsregion gäbe, wird nicht untersucht.

Eine solche vergleichende Betrachtung von unterschiedlichen Systemen und Netzen (als sogenannte »Planfälle«) wird in der Regel nicht angestellt, weil es meist nur um konkrete Projekte und nicht um ganze Systeme und Netze geht.

Ein solcher breiterer Untersuchungsansatz wäre aber angesichts der regelmäßig gewaltigen Kosten von Schienenverkehrsprojekten und der extremen Investitionskostenunterschiede zwischen den verschiedenen Systemen und ihren Details (zum Beispiel mit oder ohne Tunnel, mit vielen oder weniger Haltestellen, mit selektivem Korridornetz oder dichtem Netz) dringend erforderlich. Aber auf dieser generellen Systemebene werden selten vergleichbare NKU-Analysen durchgeführt.

Der räumliche Rahmen für NKU-Studien

Die bislang übliche Praxis bei der Erstellung von NKU-Studien hat das Problem, dass meist relativ enge Untersuchungsgebiete festgelegt werden, in denen die untersuchten Strecken oder Streckenabschnitte liegen. Dieser isolierte Ansatz blendet die grundlegenden Systemvergleichsfragen aus.

Solche generellen Systemvergleiche werden allenfalls im Rahmen der Erstellung von kommunalen oder regionalen Nahverkehrsplänen oder landesweiten oder bundesweiten Bedarfs- und Ausbauplänen vorgenommen, mit weit weniger konkreten Annahmen. Und dafür gibt es keine definierten Regeln zur Ermittlung des Nutzens und der Kosten von kompletten Netzen oder Systemen und ihren Entwicklungsperspektiven.

Der zeitliche Rahmen für NKU-Studien

Bei solchen Systemvergleichen müssten die Zeitfaktoren (in welcher Zeit können wie viele km Streckennetz erstellt werden und wie positiv sind Zeitvorteile wegen der früher möglichen Nutzenabgabe durch frühere Inbetriebnahme mit den damit früheren Verlagerungseffekten vom MIV auf den ÖV zu bewerten) viel höher gewichtet werden. Da es sich ja meist um sehr teure, zeitaufwändige Projekt handelt, deren Umsetzung oft 10-15 Jahre dauert, manchmal auch deutlich mehr, sind alle Prognosen und Modellrechnungen mit großen Unsicherheiten behaftet; das gilt für die verkehrlichen Entwicklungen ebenso wie für die Kostenentwicklung und Entwicklungen des relevanten Finanzsystems.

Fehlende grundlegende Systemvergleiche

Deswegen ist ärgerlich, dass im Rahmen der übergeordneten Verkehrspolitik des Bundes und der Länder sowie der Regionen und Kommunen keine generellen Systemvergleiche (beispielhafte Fragestellung: wie kann ein Tramnetz im Vergleich zu einem U-Bahnnetz sinnvoll entwickelt werden und welche Netzdichten und -Erweiterungen und Haltestellendichten von Tramnetzen wären möglich, wenn die sehr hohen Investitionen von U-Bahnnetzen in einen weiteren und schnelleren Tramnetzausbau verlagert würden) angestellt werden. Die gleichen Fragen müßte man für generell andere Systeme (beispielsweise urbane Seilbahnen oder BRT-Bussysteme) stellen.

Umgang mit dem Zeitfaktor

Neben dem sicher sehr wichtigen Kostenfaktor (Ermittlung der Kosten für Investition und Betrieb) ist der Faktor der benötigten Planungs- und Bauzeit bis zur Inbetriebnahme zu beachten und mit den früher oder später eintretenden Verkehrsverlagerungen vom MIV zum ÖV zu gewichten. Angesichts der zugespitzten Dramatik der Klimakrise ist der Zeitfaktor besonders hoch zu gewichten. Lösungen, die die schnelle Verlagerung vom MIV auf den ÖV verzögern, müssen mit einem deutlichen Malus belastet werden, Lösungen, die schnell umsetzbar sind, brauchen einen hoch zu gewichtenden Bonus.

Faktor Betrachtungsmaßstab/Untersuchungsgebiet

Angesichts der generell hohen Kosten vieler Schienenverkehrsprojekte und der exponentiellen Kostensteigerungen für Tunnelprojekte sind diese Fragen nicht nur längs eines eng abgegrenzten Korridors definierter Untersuchungsgebiete zu bearbeiten. Stattdessen müssen potenzielle System- und Netzentwicklungen bei kostengünstigeren Lösungen auch für deutlich erweiterte Untersuchungsgebiete betrachtet werden, um die alternative Option eines schnellen, erweiterten Netzausbaus auch jenseits des engeren Korridors und außerhalb des Untersuchungsgebiets angemessen zu berücksichtigen.

Reisezeitaspekte

Bei der Nutzenberechnung in NKU-Verfahren spielen die unterstellten Reisezeitvorteile der jeweils betrachteten Infrastrukturmaßnahmen im Mit-Ohne-Vergleich eine entscheidende Rolle. Dabei wird unterstellt, dass die Umsteigebereitschaft vom MIV auf den ÖV maßgeblich von der Reisezeit abhängt. Die berechneten Zeitwerte werden mit entsprechenden Kostenannahmen monetarisiert.

Dabei werden traditionell unterirdische Lösungen wegen der angeblichen Störungsfreiheit des Betriebs aufgrund fehlender Flächenkonflikte und Kreuzungskonflikte mit dem MIV (durch Stau oder Ampeln ungehinderte Fahrt) und der höher fahrbaren Geschwindigkeiten (bis 80 km/h statt bis 50 km/h) per se mit großen Reisezeitvorteilen bewertet. Das gleiche gilt für die Hochgeschwindigkeitsprojekte der Bahn. Auch hier werden vor allem Reisezeitfaktoren berechnet und entsprechend monetarisiert, was dann einen hohen Nutzen begründet. Daraus werden dann entsprechend große Verlagerungspotenziale vom MIV zum ÖV abgeleitet, die dann auch auf der Umweltseite und Unfallseite zu erhöhtem Nutzen führen. Daraus resultiert der finale Bonus für Tunnelprojekte im kommunalen und regionalen Schienenverkehr und für meist stark tunnellastige Hochgeschwindigkeitsprojekte der Bahn.

Diese Grundannahme berücksichtigt verschiedene Reisezeitfaktoren unzureichend:

Verlängerte Zu- und Abgangszeiten bei Tunnellösungen und Hochgeschwindigkeitssystemen

Die Zu- und Abgangszeiten bei tunnellastigen Systemen sind stark geprägt durch längere Zu- und Abgangswege wegen der größeren Haltestellenabstände (weil Tunnelhaltestellen sehr teuer sind). Insoweit resultieren aus tunnellastigen Lösungen immer starke Konzentrationseffekte mit der Folge relativ kleiner Netzdichten. Das gilt auch für den Eisenbahnbereich, wo Hochgeschwindigkeit immer zum Rückzug aus der Fläche geführt hat, am drastischsten am Beispiel Frankreich, aber auch in Deutschland ist das Bahnnetz nach Beginn der Hochgeschwindigkeitsphilosophie stark geschrumpft.

Im kommunalen und regionalen Schienenverkehr führen Tunnellösungen zu längeren Zu- und Abgangswegen wegen der großen Niveauunterschiede zwischen oben und unten und der großen Umwege in Tunnelsystemen beim Umsteigen. Zur Abschätzung dieses Effekts dürfen nicht nur Rolltreppen und Aufzüge gerechnet werden, weil diese äußerst störanfällig sind. Es müssten also auch die Treppennutzungszeiten berechnet werden.

Im Bahnbereich müssen in diesem Zusammenhang immer die langen Umstiegszeiten wegen fehlender integraler Taktfahrpläne und wachsender Unpünktlichkeit betrachtet werden.

Hinzu kommt im kommunalen und regionalen Schienenverkehr die starke Bündelung der Fußverkehrsströme in unterirdischen Systemen, die an kritischen Engstellen zu großem Gedränge und daraus resultierenden Zeitverlusten führt. Oberirdisch können sich die Fahrgastströme flächig verteilen.

Im Eisenbahnverkehr erzwingen die hohen Investitionskosten eine andere Art von Bündelung wegen des allmählichen Umbaus von früheren Flächenbahnsystemen zu heutigen Korridorsystemen. Dies Bündelung führt auf den Hauptachsen zu massiven Kapazitätsproblemen und sinkender Netzflexibilität; daraus resultiert, dass die theoretischen Zeitvorteile durch den zunehmenden Stau im Netz wieder aufgezehrt werden.

Raumstrukturelle Effekte der Zeitfaktoren

Zeitvergleichsstudien dürfen nicht nur die fixen Status-Quo-Zeiten zu einem Zeitpunkt »t 1« betrachten, sondern müssen die raumzeitliche Dynamik einbeziehen, die im Laufe der Zeit zu gravierenden Änderungen im distanziellen Verkehrsverhalten führen. Heinze, Würdemann und Knoflacher haben diesen Zusammenhang mehrfach empirisch untersucht. Sie haben festgestellt, dass die theoretisch einsparbaren Zeiten sehr bald durch Verlängerung der Aktionsradien der Mobilität (sowohl im alltäglichen Mobilitätsverhalten als auch in der langfristigen Standortwahl) verzehrt und überkompensiert werden. Deswegen kommt es ja im Zeitvergleich der MID-Ergebnisse zu einem stetig wachsenden Zeitaufwand für Mobilität. Theoretisch müssten dagegen die Schnellverkehrsinvestitionen zu sinkenden Mobilitätszeiten führen, Stattdessen führen die weiteren Fahrten zu einem höherem Verkehrsaufwand und zu einer Vermehrung der negativen Umwelt- und Klimafolgen der Mobilität. Deswegen müßten die theoretischen Zeiteffekte der Neu- und Ausbauinvestitionen auf der Kostenseite und Nutzenseite als Malus berechnet werden muss.

Bewertung der verlängerten Planungs- und Bauzeit

Im Systemvergleich müssen die Länge der Planungs- und Bauzeit als wichtiger Faktor bewertet werden, dessen Relevanz angesichts der Klimakrise immer größer wird. Maßnahmen, die schnell umsetzbar sind, brauchen einen Bonus mit höherem Gewicht auf der Nutzenseite. Maßnahmen, die sehr lange Planungs- und Bauzeiten haben, brauchen einen größeren Malus auf der Kostenseite.

Zudem können die Bonus-Nutzen und Malus-Kosten auch konkret berechnet werden, indem die durch schnelle Lösung erzielbaren Verlagerungseffekte über die Jahre aufsummiert werden und mit den durch sie spätere Lösung vergrößerten Emissionen und Unfällen und nicht realisierten Zeitgrößen verglichen werden.

Netz- und Zugangsstellendichte als entscheidende Attraktionsfaktoren

Die wichtigsten Faktoren für die Verkehrsentwicklung auf allen Maßstabsebenen sind die Netz- und die Haltestellendichte. Die Chancen für dichte Haltestellenfolgen und dichte Netze sinken mit den immer höheren Kosten für Schnellverkehrsnetze und tunnellastige Netze. Gute Erreichbarkeit setzt dichte Netze voraus. Dichte Netze bieten viele verschieden Routenoptionen und eine hohe Flexibilität im Betrieb. Dieser zunächst raum- und netzgeometrische Faktor wird noch potenziert durch die psychologische Distanz, die die metrische Distanz in ihrer Relevanz noch steigert. Einen wichtigen Bonus brauchen also Systeme, die eine hohe metrische und psychologische Kundennähe bieten.

Offenheit für Verkehrswendeoptionen

Die NKU-Analysen halten in der Regel die sonstigen Randbedingungen der weiteren Verkehrsentwicklung konstant. Das betrifft den ordnungspolitischen Rahmen (Verkehrsrecht, Bau- und Planungsrecht, Umweltrecht). Diese wurde in den letzten Jahrzehnten leider in der Tat auch wenig verkehrswendeorientiert verändert. Angesichts der drohenden Klimakrise muss aber wegen der typischen langen Planungs- und Bauzeiten mit einer schrittweisen Transformation des bisherigen Verkehrssystems gerechnet werden. Daher müssen die Modellrechnungen und Prognosen offener für grundlegende Änderungen der Rahmenbedingungen (im Rahmen von Szenarien) gestaltet werden, in einer Art Sensitivitätsanalyse mit Abschätzung möglicher Entwicklungspfade der Verkehrspolitik und Ordnungspolitik. Das betrifft auch die weitere Entwicklung wichtiger Trends wie die zunehmende Intermodalität im Verkehrsverhalten sowie die Zunahme neuer, mehr Flatrate-basierter Tarif- und Preissysteme. Daher müssen Projekte, für die NKU-Analysen angestellt werden, zu Beginn und am Ende auch in solche Überlegungen eingebettet werden und das jeweilige Ergebnis entsprechend relativiert werden, gerade angesichts der langen Planungs- und Bauzeiten.

Selektivität der Datengrundlagen führt zur Selektivität des Lösungsspektrums

In der Regel basieren Verkehrsprognosen auf Mobilitätsdaten, die räumlich differenzierbar sind und für die gesicherte Zeitreihen verfügbar sind. NKU-Analysen basieren immer auf Prognosen zur weiteren Verkehrsentwicklung im Untersuchungsgebiet.

Die entsprechenden Prognosen basieren in Deutschland vor allem auf Pendlerdaten, weil es dazu eine regelmäßige, amtliche und gemeindeweise Datengrundlage gibt. Allerdings bilden vor dem Hintergrund der MID-Befunde die Pendlerdaten nur einen kleinen Teil des Mobilitätsgeschehens ab. Darin fehlen die wichtigen Teilsektoren des Freizeitverkehrs, Einkaufsverkehrs und Urlaubsverkehrs, die zusammen über 80 % des gesamten Verkehrsaufkommens ausmachen. Weil aber die Pendelverkehre räumlich und zeitlich stark gebündelt auflaufen, führt die Fixierung auf diesen Sektor immer wieder zu gravierenden Verzerrungen in der verkehrspolitischen Entscheidungsfindung und Priorisierung. Priorisiert werden die langen Distanzen. Bei diesen spielen in der politischen Wahrnehmung die Geschwindigkeiten eine große Rolle. Daraus resultiert die chronische Priorisierung des Schnellverkehrs (im Eisenbahnbereich die Priorisierung der Hochgeschwindigkeitslösungen, im Nahverkehr die Priorisierung der U-Bahn- und Stadtbahnlösungen). Die Nahmobilität und vor allem der Fuß- und Radverkehr werden ignoriert oder nachrangig behandelt. Und die tendenziell langsameren Verkehrssysteme (Fuß- und Radverkehr, Straßenbahn, feinerschließende Bussysteme, urbane Seilbahnsysteme) werden in den Budgets und beim Netzausbau nachrangig behandelt.

Über Prof. Dr. Heiner Monheim

(*1946), Geograf, Verkehrs- und Stadtplaner, seit den 1960er Jahren befasst mit den Themen Flächenbahn, Schienenreaktivierungen, Erhalt des IR, S-Bahnausbau und kleine S-Bahnsysteme, Stadt- Umland-Bahnen, neue Haltepunkte, Güter-Regionalbahnen, Bahnreform 2.0, Kritik der Großprojekte der Hochgeschwindigkeit und Bahnhofsspekulation. Details: www.heinermonheim.de

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