Artikel von Johannes Ritter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 22.7.23
Spektakulär und zuverlässig: ein Zug der Rhätischen Bahn auf dem Soliser Viadukt in Graubünden© Berthold Steinhilber/Laif
Herr Füglistaler, die Schweizer Bahn hat eine Pünktlichkeit von mehr als 90 Prozent, die Deutsche Bahn kam zuletzt nur noch auf 64 Prozent. Was machen Sie besser?
Das ist wie in einer Fabrik: Um ein gutes Produkt namens Bahn herzustellen, braucht man eine gute Planung, etablierte Prozesse und genügend Ressourcen.
Also liegt es vor allem am Geld?
Ja, es liegt auch viel am Geld. Das definiert die maximal erreichbare Qualität. Aber das Geld muss dann auch noch möglichst effizient eingesetzt werden.
Die Schweiz investiert in die Bahn pro Kopf viermal so viel wie Deutschland.
Wir stecken jedes Jahr fünf Milliarden Franken in den Betrieb, den Unterhalt und den Ausbau des Bahnnetzes.
Das deutsche Netz ist siebenmal so groß. Deutschland müsste also jährlich etwa 36 Milliarden Euro in das Netz pumpen, um die gleiche Qualität wie in der Schweiz zu erreichen. Tatsächlich ist es 2023 zusammen mit dem Eigenanteil der Deutschen Bahn nicht einmal die Hälfte davon.
Ihre Rechnung haut ungefähr hin, lässt man die teure Topographie der Schweiz mit den vielen Tunneln außen vor. Das Tückische ist: Wenn Sie zu wenig investieren, wie es die Deutschen lange gemacht haben, merken Sie jahrelang noch keine negativen Folgen. Wenn Sie es dann spüren, wie derzeit in Deutschland, ist es zu spät. Dann dauert es wieder einige Jahre, bis sich die Lage bessern kann. Ich denke, in zwei oder drei Jahren werden sich erste Fortschritte zeigen. Seit ein paar Jahren wandelt sich die Einstellung zu Ihrer Bahn. Man spürt, dass die Ampelkoalition wirklich etwas verbessern will.
Die Regierung will einen Bahnfonds auflegen, aus dem die Investitionen bezahlt werden sollen. Ist das aus Schweizer Sicht eine gute Idee?
Ja, es ist immer gut, wenn die Deutschen uns kopieren(lacht). Wir haben einen Fonds für den Bau der großen Alpentunnel eingeführt und positive Erfahrungen damit gemacht. Für einen längeren Zeitraum ist dann klar, wie viel Geld zur Verfügung steht. Heute haben wir einen Fonds für die gesamte Bahninfrastruktur. Bei uns wird die Infrastruktur komplett mit Staatsmitteln bezahlt, ohne Eigenanteil der Bahn wie in Deutschland. Das macht es auch für die Schweizer Bahnen leichter.
Aber wenn der Staat sparen muss, wird der Bahnfonds doch auch zusammengestrichen.
Der Fonds ist weitgehend geschützt. Streichungen sind nur in kleinem Maß möglich, nämlich bei der Höhe des Anteils aus der Schwerverkehrsabgabe der Lastwagen, der in den Fonds fließt. Der Zustupf, also der Zufluss, aus dem Bundeshaushalt, aus der Mehrwertsteuer und aus anderen Abgaben ist hingegen gesetzlich fixiert.
Peter Füglistaler ist Direktor des Schweizer Bundesamtes für Verkehr. Es steuert und überwacht den Bahnausbau.© Béatrice Devènes/BVA
Trotz hoher öffentlicher Gelder und einer Entschuldung 1999 häuft die Schweizer Bahn jetzt schon wieder viele neue Schulden an.
Das kam durch den massiven Ausbau des Bahnverkehrs und große Investitionen in die Bahnhöfe zustande. Das sind gut investierte Schulden, die auch noch weiter steigen werden. Aber damit sind wir einverstanden.
Genügend Geld ist aber nicht die einzige Stellschraube für mehr Pünktlichkeit. Deutschland will im kommenden Jahr erstmals komplette Fernstrecken für Monate sperren, um sie umfassend zu sanieren.
Eine sehr gute Idee. Das geht schneller, erzeugt weniger Verspätungen und ist auch billiger, als während des laufenden Betriebs und nachts zu arbeiten.
Was macht die Schweiz noch für mehr Pünktlichkeit?
Das sind viele kleine Maßnahmen. Zum Beispiel stoppen wir lieber einen verspäteten Zug vor seinem geplanten Endhaltepunkt, als ihn ewig weiterfahren und die Verspätung sich fortpflanzen zu lassen. Bei uns sind die Laufwege der Züge auch allgemein viel kürzer. Das erlaubt uns, flexibler zu sein. Weil in der Regel sofort ein Anschlusszug kommt, akzeptieren die Fahrgäste das Umsteigen. Man kommt von jedem Ort zu jedem anderen Ort im Halbstundentakt. Unsere Anschlusspünktlichkeit liegt bei 98,7 Prozent; niemand muss also lange warten. In Deutschland fahren die Züge hingegen durchs ganze Land und schleppen im Zweifel stundenlang eine Verspätung mit sich herum.
Welche kleinen Maßnahmen helfen noch?
Breitere Türen an den Waggons verkürzen die Zeit für den Einstieg der Passagiere. Kürzere Abstände zwischen den Signalen ermöglichen alle zwei Minuten einen Zug und erhöhen damit die Kapazität, es staut sich weniger. Wir haben auch keine Hochgeschwindigkeitszüge wie den ICE und damit nicht so große Geschwindigkeitsunterschiede auf den Strecken, der Verkehr fließt flüssiger.
Dafür braucht der Passagier aber auch unnötig lange für seine Bahnfahrt.
Wir sind trotzdem schneller als das Auto. Unser Vorteil ist: Innerhalb von höchstens zehn Minuten bekommt man in den Knotenbahnhöfen einen Anschluss. Hier verlieren Fahrgäste in Deutschland oft viel Zeit, die sie vorher mit dem ICE gewonnen haben. Uns geht es nicht um Hochgeschwindigkeit. Wir versuchen, möglichst viele Menschen zu transportieren.
Was ist dabei Ihr Ziel?
Wir wollen den Bahnanteil gemessen an den Personenkilometern bis 2050 auf rund 50 Prozent verdoppeln. Aber ich warne auch: Das ist nicht zwingend ökologisch. Nämlich dann nicht, wenn Sie 10 Prozent mehr Passagiere befördern, die vorher gar nicht gefahren wären. Wir wollen nicht mehr Mobilität produzieren, sondern die Autofahrten reduzieren. Deswegen halte ich auch nichts davon, die Fahrpreise zu günstig zu machen. Damit erzeugen Sie Verkehr, der sonst gar nicht stattgefunden hätte.
Dann ist das 49-Euro-Ticket in Deutschland keine gute Idee?
Wir hätten das in der Schweiz nicht eingeführt, weil es eben zusätzlichen Verkehr produziert. Einmal bezahlt, erlaubt es endlos viele kostenlose Fahrten. Die Schweiz hat im Zuge der Debatte ums Waldsterben 1987 das Halbtax-Abonnement, also das Pendant zur deutschen Bahncard 50, massiv auf damals nur noch 100 Franken verbilligt. Auch wenn diese Karte inzwischen 185 Franken kostet: Das hat viele neue Kunden angelockt. Deutschland musste jetzt etwas präsentieren, um die Menschen stärker für die Bahn zu interessieren. Daher macht das 49-Euro-Ticket für den Nahverkehr Sinn. Vielleicht kann man als Ergänzung für den Fernverkehr noch den Preis der Bahncard senken.
Seit einiger Zeit stoppt die Schweizer Bahn internationale Fernzüge im Grenzbahnhof, wenn sie zu spät sind. Wer aus Deutschland mit dem ICE ohne Umsteigen nach Zürich oder Bern fahren wollte, wird in Basel aus dem Zug geworfen. Das ist nicht sehr gastfreundlich.
Den Ärger kann ich verstehen. Aber die Fahrgäste haben innerhalb einer halben Stunde eine Weiterfahrmöglichkeit.
Warum macht die Bahn das?
Wir sind dazu gezwungen. In Basel ist die Hälfte der internationalen Züge aus Deutschland verspätet. Wenn wir sie weiterfahren lassen würden, brächte es den Schweizer Fahrplan durcheinander. Unsere Strecken sind so dicht belegt, dass Regional- und Güterzüge warten müssten, die Anschlüsse würden nicht mehr klappen. Davon wären viel mehr Passagiere betroffen, als in den wenigen internationalen Zügen sitzen. Ich bin sehr für die Einbindung internationaler Züge, aber die müssen auch pünktlich sein. Wenn sie das nicht sind, priorisieren wir den nationalen Verkehr. Ab einer Verspätung von zehn Minuten ist in Basel Endstation. Für die nächsten Jahre überlegen wir sogar, mehr internationale Züge dort enden zu lassen. Diese Ankündigung soll ein Weckruf sein.
Ein Grund für die Verspätung der deutschen Züge ist der langsame Ausbau der Strecke von Karlsruhe bis Basel, der erst 2041 fertig sein soll.
Die Deutschen sind mittlerweile unzuverlässiger als die Italiener, die die vereinbarten Projekte fristgerecht vorantreiben und viel strukturierter sind.
Das rüttelt an allen Klischees.
Italien weiß, dass ein guter Bahnanschluss nach Norden durch die Schweiz zum wichtigsten Handelspartner Deutschland nötig ist. Deswegen investiert es mit Nachdruck in diese Bahnstrecken, jetzt auch mit Mitteln des EU-Wiederaufbaufonds.
Der Ausbau der Rheintalbahn verzögert sich vor allem, weil Bürgerproteste kurz vor Baubeginn zu einer kompletten Neuplanung führten.
Ja, da ist einiges schiefgelaufen in der Kommunikation. Es darf nicht dazu kommen, dass man solche Projekte vor Gericht gegen die Bevölkerung durchdrücken muss. Man muss sich vorher einigen. Zudem gilt es, auch die regionalen Bedürfnisse abzudecken, zum Beispiel durch einen zusätzlichen Halt und damit eine bessere Anbindung. Im Rheintal hat man nur über den zusätzlichen Lärm durch mehr Güterzüge gesprochen, aber zu wenig über mehr Nahverkehr auf der ausgebauten Strecke. In der Schweiz haben wir lokale Proteste gegen den Gotthardtunnel besänftigt, indem nun Fernzüge alle zwei Stunden nicht weit vom Tunneleingang in Altdorf halten.
In der Schweiz wird die Bahn aber auch mehr geliebt.
Das stimmt. Wir haben eine positive Grundstimmung für Bahnprojekte in der Schweiz. Und sie sind durch Parlamentsentscheidungen und häufig durch eine Volksabstimmung politisch breit legitimiert.
Sind die Planungszeiten dadurch auch kürzer als in Deutschland?
Ja, denn wir binden die Bevölkerung früh ein, finden eine Lösung. Die Betroffenen klagen selten, auch wenn sie natürlich Nachteile haben. Aber sie wissen: Am Ende wird das Projekt an dieser Stelle gebaut, sie können es nur verzögern. Und es gibt eben eine Mehrheit der Bevölkerung dafür.
Aber ausländische Wettbewerber auf Ihren Schienen mögen Sie gar nicht. Das deutsche Unternehmen Flixtrain will nach Zürich fahren, bekommt aber keine Genehmigung dafür.
Ich bin für Wettbewerb, aber ich bin wohl der Einzige in der Schweiz. Die Gewerkschaften fürchten Lohndumping. Dabei hat Flixtrain akzeptiert, auf dem Schweizer Streckenabschnitt Schweizer Löhne zu zahlen. Ich hätte nichts dagegen.
In Deutschland will man den Wettbewerb ankurbeln, indem der Schienennetzbetreiber DB Netz von den anderen Bahngesellschaften stärker getrennt wird. Das Netz soll gemeinnützig sein. Finden Sie ein solches Modell gut?
Ja. Wir trennen zwar nicht, aber die Trassenvergabe erfolgt von einer unabhängigen Behörde. Gemeinnützigkeit ist wichtig. Das Netz soll betriebswirtschaftlich geführt sein, muss aber nicht Gewinn machen, weil das sonst zu hohen Trassenpreisen führen kann.
In Deutschland droht ein längerer Bahnstreik. In der Schweiz gibt es so etwas nie. Sind die Bahner dort immer mit ihren Löhnen zufrieden?
Streiks sind bei der Schweizer Bahn sehr verpönt. Schließlich fließen viele Steuermittel in die Bahn. Die Sozialpartnerschaft wird sehr gepflegt. Wenn ich mehr Geld von meinem Arbeitgeber will, und ich schädige ihn mit einem Streik, schade ich mir selbst. Am Schluss verlieren beide Seiten. Und den Bahnen wird hier viel Respekt entgegengebracht, da wollen sie es sich bei der Bevölkerung auch nicht verscherzen.