1. Die Rolle der Kirchen für eine umweltorientierte Mobilitätspolitik

Die Rolle der Kirchen in der Verkehrspolitik

Dieser Text ist wegen seiner Länge in fünf Beiträge aufgeteilt, die in den nächsten Wochen publiziert werden.

Kirchliche Macht der »großen Zahlen«: In der Verkehrspolitik spielen große Mitgliederorganisationen eine wichtige Rolle. Man denke nur an die großen Automobilverbände und Umweltverbände oder die verschiedenen Gewerkschaften. Die größten deutschen Mitgliederorganisationen sind aber immer noch die zwei christlichen Kirchen mit 22,3 Mio. protestantischen und 23,3 Mio. katholischen Mitgliedern. Unter allen Massenorganisationen haben sie die längste Tradition. Und mit ihren moralischen Botschaften hatten sie lange eine große Macht über das alltägliche Handeln der Menschen. Diese Macht wurde formal durch die Säkularisierung aufgehoben. Trotzdem bleiben die Kirchen in ethischen und moralischen Fragen eine wichtige Instanz.

Ökonomische Potenz der Kirchen: Hinzu kommt die herausragende ökonomische Potenz der Kirchen als Deutschlands größte Arbeitgeber mit dem höchsten Umsatzvolumen. Sie beschäftigen zusammen ca. 330.000 hauptamtliche und 1,2 Mio. ehrenamtliche Mitarbeiter. Hinzukommen bei der katholischen Caritas noch mal 600.000 und bei der evangelischen Diakonie noch mal 460.000 Mitarbeiter. Der jährliche Umsatz beider deutscher christlicher Kirchen beträgt ca. 129 Mrd. €, also mehr als der gesamte Inlandsumsatz der deutschen Autoindustrie. 3,6 Mio. wöchentliche Kirchgänger erzeugen 7,2 Mio. Fahrten und Wege. Die kirchlichen Mitarbeiter produzieren ein tägliches Pendelvolumen von 2,12 Mio. Fahrten und Wegen. Kirchen und ihre Folgeorganisationen haben einen riesigen Fuhrpark. Die Kirchen sind im publizistischen Bereich aktiv mit eigenen Zeitschriften, und natürlich tragen auch die Predigten zur Meinungsbildung bei.

Die Bibel als Quelle kirchlicher Mobilitätspostulate: Die Bibel bietet auf den ersten Blick nur wenige strategische Anhaltspunkte für eine bestimmte Mobilitätspolitik. Denn In biblischen Zeiten wurde Mobilität überwiegend zu Fuß, mit Reit- und Lasttieren und mit Schiffen bewältigt. Alle späteren Mobilitätssysteme sind Produkte der Neuzeit. Trotzdem lassen sich natürlich einige ethische Grundsätze aus den 10 Geboten ableiten, die durchaus zu verkehrspolitischen Postulaten taugen: das Gebot »Du sollst nicht töten« würde angesichts der derzeit weltweit ca. 1,3 Mio. jährlich direkt vom Autoverkehr Getöteten und der 4 Mio. durch Autoemissionen (Lärm, Abgase, Feinstaub) Getöteten kirchliche Intervention nahelegen. Von den viel mehr durch Autos getöteten Tieren ganz zu schweigen. Das Gebot der Nächstenliebe würde alle aggressiven Verhaltensweisen im Verkehr, das Konkurrenzdenken und die Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern, zumal dem Fuß- und Radverkehr verbieten. Das Bild vom barmherzigen Teilen würde alle Optionen einer Share Economy mit Car- und Ride-Sharing und Bike-Sharing nahelegen.

Trotzdem waren Kirchen Wegbereiter der Massenmotorisierung: Trotzdemhaben sich die Kirchen in ihrer verkehrspolitischen Positionierung zunächst wenig an solchen ethischen Grundsätzen orientiert. Vielmehr haben sie aus pragmatischen Erwägungen in der stürmischen Entwicklung der Autogesellschaft eine treibende Rolle gespielt und die Trends der Massenmobilisierung und Automobilisierung gern und demonstrativ unterstützt.

  • Pfarrer als frühmotorisierte Berufsgruppe: Während noch in den 1950er Jahre in Italien der radfahrende Priester Don Camillo literarisch verewigt wurde, waren in der Realität Pfarrer neben Ärzten eine der ersten Berufsgruppen, die sich aus »beruflichen Gründen« intensiv der neuen Autos bedienten.
  • Rituale der Autosegnung: Kirchen haben früh Rituale der »Autosegnung« entwickelt, mit denen sich das Kirchenvolk im guten Glauben wiegen durfte, die Autowelt werde kirchlich unterstützt.
  • Kirchen als Kämpfer für gute Autoerreichbarkeit: Kirchen haben vielfach zur Verbesserung der bequemen Autoerreichbarkeit ihrer Kirchen und Gemeindehäuser Parkplätze geschaffen, oft zu Lasten alter Grünflächen und Baumbestände im »Kirchhof«. Beim Planungsdiskurs um Verkehrsberuhigung und Konzepte für autofreie Quartiere haben Kirchen noch vor wenigen Jahren vehement für eine gute Autoerreichbarkeit gestritten.
  • Autobahnkirchen: Autobahnkirchen sollen dem Autovolk innere Einkehr bieten. Das erinnert an die vielen Kapellen und Kirchen, mit denen die früheren Pilgerwege der Fußpilger begleitet wurden. Aber »Drive-in-Kirchen« sind schon sehr speziell und vielen kritischen Kirchenmitgliedern ein Dorn im Auge.
  • Kirchen als Autobesitzer: Kirchen und kirchennahe Sozialwerke und Wirtschaftsbetriebe haben sich im Laufe der Jahrzehnte aufgrund ihrer vielfältigen Aufgabenstellungen große Fahrzeugflotten von PKW und Nutzfahrzeugen zugelegt. Das hat ihnen nahegelegt, sich für eine »angemessen autofreundliche« Verkehrspolitik und –Planung einzusetzen.
  • Staatstragende Kirchen: Kirchenwaren im Politik- und Planungsdiskurs meist »staatstragend« und »obrigkeitsfixiert«. Und da fast überall in der Welt die Obrigkeiten dank ihrer Fixierung auf »Staatskarossen« eine klare Autoorientierung hatten, gaben sich auch die Kirchen lange Zeit ausgesprochen autofreundlich und indifferent gegenüber den Autoproblemen.

Autokritik erreicht die Kirchen spät: Also war lange Zeit wenig von kirchlicher Autokritik zu merken. Die Autokritik erreicht die Kirchen spät.

  • Singuläre und seltene Autokritik: Insbesondere die massive Einschränkung kindlicher Bewegungsfreiheit und der hohe Blutzoll, den vor allem Kinder angesichts fortschreitender autogerechter Umweltgestaltung erleiden mussten, hätte eigentlich schon sehr früh engagierte Autokritik und Unterstützung autokritischer Bürgerinitiativen bewirken müssen. Aber bis in die 1980er Jahre blieben solche Einwände wenigen, meist jungen, engagierten Theologen vorbehalten.
  • Beginnender Paradigmenwechsel durch Kritik der kirchlichen Akademien: Erst die 1980er Jahre brachten bei den kirchlichen Akademien einen spürbaren Paradigmenwechsel. Sie spielen im gesellschaftlichen Diskurs eine große Rolle. Und organisierten immer häufiger Veranstaltungen zur Energiepolitik, Umweltpolitik, Landwirtschaftspolitik und Verkehrspolitik, mit dem Ziel der Identifizierung möglicher Alternativen zur gängigen Politik in diesen Bereichen.
  • Bewahrung der Schöpfung als kirchliches Ziel: Das geschieht vor dem Hintergrund einer mittlerweile wachsenden Umweltsensibilität der Kirchen, die endlich das Thema »Bewahrung der Schöpfung« und »Nachhaltigkeit« ernst nehmen. Die letzten Kirchentage beider Konfessionen haben sich in mehreren Veranstaltungsformaten dieser Themen angenommen.
  • Engagement in der Energiepolitik: In der Energiepolitik ging es um die Angst vor nicht beherrschbaren Risiken der damals von vielen Staaten forcierten Atomtechnik. Dem setzten die Kirchen sehr früh das Engagement für erneuerbare Energien und vor allem die Solartechnik und die Bioenergie entgegen. Viele Kirchendächer und Dächer von Gemeindehäusern bekamen Solaranlagen und zeigten auf entsprechenden Anzeigetafeln, wie viel Energie die Sonne schickt. Viele klösterliche Landwirtschaftsbetriebe etablierten neben der Solartechnik auch Windkraftanlagen, Biogasanlagen, Blockheizkraftwerke und Nahwärmekonzepte, meist in Verbindung mit ihrem Engagement für ökologische Landwirtschaft. Manche dieser Konzepte wurden über kirchliche Entwicklungspolitik auch bald durch entsprechende Partnerschaften in die sog. »Entwicklungsländer des Südens« transferiert.
  • Aktion Autofasten: In der Verkehrspolitikbeteiligten sich immer mehr Kirchengemeinden und Bistümer an Aktionen für das Autofasten mit Veranstaltungen zu aktuellen Verkehrsproblemen und neuen Lösungsstrategien im öffentlichen Verkehr, Fußverkehr und Radverkehr. Mehrfach wurde das Autofasten sozialwissenschaftlich untersucht mit dem erfreulichen Ergebnis, dass viele Teilnehmer ihr Verkehrsverhalten grundlegend verändert haben, hin zur stärkeren Nutzung des Umweltverbundes und teilweise auch zur völligen Entmotorisierung für ein Leben ohne Auto.
  • Zunehmende Einmischung in die aktuelle Verkehrspolitik: Seit Mitte der 1980er Jahre begannen immer mehr Kirchengemeinden mit eigenen kleinen Aktionen, beispielsweise der Bildung von Fahrgemeinschaften oder gemeinsamen Radtouren oder Wanderungen als bewusste Kontrasterlebnisse zur regelmäßigen Autonutzung. Solche Aktionen wurden oft in Verbindung mit den beschriebenen Aktionen zum Autofasten durchgeführt. Kirchentage boten ein prominentes Forum für verkehrskritische Debatten. Hier gelang es oft, etablierte Verkehrspolitiker des Bundes, der Länder oder der ausrichtenden Städte oder auch ÖPNV-Manager auf Podien in Diskussionen mit Verkehrskritikern zu konfrontieren. Zudem wurde von den Veranstaltern versucht, das Verkehrsverhalten der Besucher positiv zu beeinflussen, durch eigene Kongresstickets, Vermittlung von Fahrgemeinschaften und Bereitstellung von Leihfahrrädern.
  • Kirchliches Flottenmanagement und betriebliches Mobilitätsmanagement: Ab den 1990er Jahren begannen die Kirchen und ihre Laienbewegungen- ihre Marktmacht zu thematisieren und ein ökologisch sensibles Marktverhalten im Bereich der Gebäude, Fuhrparks und Verbrauchsmaterialien zu fordern. Die Fahrzeugflotten sollten umweltsensibel beschafft und betrieben werden, Eco-Drive-Kurse sollten das Personal sensibilisieren. Ziel waren weniger, effizientere, emissions- und verbrauchsärmere Fahrzeuge sowie mehr Mitarbeiterfahrräder und Lastfahrräder sowie Jobtickets. Gefordert wurde ein engagiertes betriebliches Mobilitätsmanagement.
  • BUND/Misereor und Enzyklika »Laudato si« als kirchlicher Weckruf: Zwei kirchliche Standortbestimmungen haben eine fundierte Kritik an der zerstörerischen Wirtschafts- und Verkehrsform der reichen westlichen Länder formuliert. 1996 brachte aufbauend auf Vorarbeiten des Wuppertalinstituts für Klima, Umwelt und Energie Misereor zusammen mit dem großen Umweltverband BUND seinen Weckruf »Zukunftsfähiges Deutschland“ heraus, dem zahlreiche weitere kritische kirchliche Publikationen folgten, alle getrieben vom Frust über das Fehlen nachhaltiger Perspektiven in der amtlichen Wirtschafts- und Verkehrspolitik. 2015 formulierte dann Papst Franziskus in seiner Enzyklika »Laudato si‘« eine massive Kritik an der westlichen Wirtschafts-, Technologie- und Verkehrspolitik und dem ihr zugrunde liegenden zerstörerischen Lebensstil.

Nächster Teil: Kirchen als historische Mobilitätstreiber

Über Prof. Dr. Heiner Monheim

(*1946), Geograf, Verkehrs- und Stadtplaner, seit den 1960er Jahren befasst mit den Themen Flächenbahn, Schienenreaktivierungen, Erhalt des IR, S-Bahnausbau und kleine S-Bahnsysteme, Stadt- Umland-Bahnen, neue Haltepunkte, Güter-Regionalbahnen, Bahnreform 2.0, Kritik der Großprojekte der Hochgeschwindigkeit und Bahnhofsspekulation. Details: www.heinermonheim.de

Zeige alle Beiträge von Prof. Dr. Heiner Monheim →

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert