Von Jürgen Lessat (Gespiegelt aus KONTEXT-Wochenzeitung)
Bild: Herzstück des Albaufstiegs: eine 15 Kilometer lange Tunnel-Brücken-Kette. Hier die 485 Meter lange, 85 Meter hohe Filstalbrücke. Foto: Manfred Grohe
Datum: 07.12.2022
Am kommenden Sonntag nimmt die Deutsche Bahn die Neubaustrecke über die Schwäbische Alb in Betrieb. Vier Milliarden Euro wurden in Tunnel, Brücken und Fahrbahn betoniert, damit die notorisch verspäteten ICE eine Viertelstunde schneller sein können. Doch bei Tempo 250 fährt das Brandrisiko stets mit, warnen Kritiker.
„Bitte einsteigen, Türen schließen selbsttätig“ – und hoffen, heil am Ziel anzukommen? Nach Meinung der Gruppe „Ingenieure 22“ können sich Reisende auf der neuesten Hochgeschwindigkeitsstrecke der Deutschen Bahn nicht in absoluter Sicherheit wiegen. Wenn demnächst ICE mit Tempo 250 und Regionalexpress-Züge mit 200 Stundenkilometern über die Schwäbische Alb rasen, fährt das Risiko mit, sagt Ingenieure-22-Mitglied Roland Morlock. Das Risiko einer Brandkatastrophe.
Immer wieder kommt es auf den Strecken der Deutschen Bahn zu Zugbränden, auch in Tunneln. Jüngstes Beispiel: Am 10. November geriet der ICE 814 im Kölner Flughafenbahnhof in Brand. Beim Halt in der Station, die mitten im 4,2 Kilometer langen Flughafentunnel liegt, konnte der überfüllte Zug immerhin über den Bahnsteig evakuiert werden. Der Rauch zog durch die Öffnungen eines Glasdachs ab, das den Bahnhof teils überspannt. Dennoch benötigte die Feuerwehr 45 Minuten, bis der Brand unter Kontrolle war.
Der ICE kam von der Schnellfahrstrecke Köln–Frankfurt, die mit vielen großen und langen Steigungen Antrieb und Elektrik der Züge enorm belastet. Lag es daran? Tatsächlich brannte auf derselben Strecke am 12. Oktober 2018 bei Montabaur der ICE 511 lichterloh (Kontext berichtete). Materialbruch führte zu Kurzschlüssen, was Trafoöl in Brand setzte, die Stromzufuhr unterbrach und den Zug mehrere Kilometer stromlos rollen ließ, bevor ihn der Lokführer durch Notbremsung auf freier Strecke zum Stehen brachte. Die Evakuierung der rund 500 Fahrgäste dauerte 52 Minuten, es gab vier Leichtverletzte.
Für die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm (NBS), die am kommenden Sonntag in Betrieb genommen werden soll, seien diese Brände „kein gutes Omen“, sagt der Physiker Christoph Engelhardt. Denn auf ihr gebe es noch längere und stärkere Steigungen. Und laut Engelhardt, Gründer der Faktencheck-Plattform WikiReal.org, werden „derartige Brände rund 2,5-mal häufiger bei oder nach Befahren von solchen schnellen Steigungsstrecken beobachtet“.
Die Deutsche Bahn AG ist dagegen in Feierlaune. Sie preist die sechzig Kilometer lange Hochgeschwindigkeitsstrecke als „wichtige Magistrale für den Südwesten Deutschlands und zugleich Tempomacher für den Fernverkehr bundesweit“. Ihre Eröffnung nach rund zehn Jahren Bauzeit und Kosten von vier Milliarden Euro – eine knappe Verdopplung gegenüber den ursprünglichen Planungen – nennt der Staatskonzern einen „Meilenstein für Reisende im Regional- und Fernverkehr“.
Schwachstelle: das Regelwerk des EBA
Roland Morlock sieht der Inbetriebnahme indes mit gemischten Gefühlen entgegen. Seit rund zehn Jahren beschäftigt sich der Diplom-Physiker aus Stuttgart mit der NBS, er befürchtet, dass die bestehenden Sicherheitsbestimmungen für die besonderen Risiken der Strecke nicht reichen. „Zentrale Schwachstelle“, sagt Morlock, „ist die Tunnelrichtlinie“, das Regelwerk des Eisenbahnbundesamtes (EBA), in dem die „Anforderungen des Brand- und Katastrophenschutzes an den Bau und den Betrieb von Eisenbahntunneln“ beschrieben sind.
Die Richtlinie definiert Art und Umfang der Sicherheitsmaßnahmen, um die Selbstrettung von Reisenden und Bahnpersonal sowie Rettungseinsätze in unterirdischen Streckenabschnitten der Schieneninfrastruktur zu ermöglichen. Alles dafür Notwendige muss „nach dem Stand der Technik“ umgesetzt sein.
Zuletzt hat das EBA im Jahr 2008 die Tunnelrichtlinie um europäische Regelungen ergänzt. Seitdem gilt etwa das Zweiröhren-Konzept: In Bahntunneln länger als 500 Meter darf es keinen Gegen- oder Parallelverkehr mehr geben, mehrgleisige Strecken müssen in getrennten Tunnelröhren geführt werden. Und in Tunneln ab einer Länge von 1.000 Metern müssen diese Röhren mindestens alle 500 Meter über Verbindungsstollen miteinander verbunden sein. Im Unglücksfall sollen Menschen durch solche „Querschläge“ in die nicht betroffene Röhre oder einen parallel verlaufenden Rettungsstollen flüchten können. Zugleich dient die sichere Röhre als Zufahrtsweg für die Rettungsdienste. Auf der Neubaustrecke, die mit rund 30 Kilometern zur Hälfte in Tunneln oder über Brückenbauwerke verläuft, verteuerte das Zweiröhren-Konzept die Bau- und Betriebskosten entsprechend.
Gefälle im Tunnel erhöht das Risiko
Die Ingenieure 22 halten dies jedoch nicht für ausreichend, sollte ein Zug in einem der zwölf Tunnel der Neubaustrecke, die bis zu acht Kilometer lang sind, brennend zum Stehen kommen. Bei der Evakuierung müssten sich Fahrgäste und Zugpersonal bis zum nächstgelegenen Querschlag zunächst selbst durchschlagen. Dabei sind nicht nur Flammen und Hitze gefährlich, sondern vor allem der Brandrauch. So steigen bereits fünf Minuten nach Brandbeginn bis zu 1.200 Grad Celsius heiße Brandgase auf, wie interne Unterlagen der Deutschen Bahn zeigen. Hat sich ein Vollbrand entwickelt, entstehen bis zu 125 Kubikmeter Rauch pro Sekunde. Da alle Tunnel auf der Neubaustrecke ein Gefälle aufweisen, entwickelt sich ein Kaminsog, wodurch die Rauchwolke schnell in Richtung des höhergelegenen Tunnelportals zieht.
Dorthin müssten sich Flüchtende in Sicherheit bringen, falls der Rettungsweg in die entgegengesetzte Richtung versperrt ist. Unter Brandexperten gilt ein Meter pro Sekunde als maximales Fluchttempo – was zu langsam sein könnte, um dem Rauch zu entkommen. Denn bei Kontakt mit der Innenschale des Tunnels kühlen die giftigen Brandgase ab, um dann zu Boden zu sinken. „Menschen, die sich dann in diesem Bereich aufhalten, ersticken“, sagt Morlock und plädiert für zusätzliche Sicherheitstechnik, um mögliche Katastrophen zu verhindern. „Solch lange Bahntunnel wie auf der Neubaustrecke brauchen eine aktive, maschinelle Entrauchung.“
Bislang verlangt die Tunnelrichtline eine derartige Entrauchungstechnik bei Bahntunneln erst ab einer Länge von 20 Kilometern. „Dies wegen der Annahme, Züge könnten sogar unter Vollbrand noch mindestens 15 Minuten weiterfahren oder weiterrollen“, sagt Morlock. Darauf verweist auch die Bahn. Ziel des Sicherheitskonzeptes sei, einen Halt im Tunnel zu vermeiden, betont ein Sprecher auf Anfrage. Sicherstellen sollen dies verschiedene Vorkehrungen „wie zum Beispiel die gesicherten Laufeigenschaften von Schienenfahrzeugen unter Vollbrandbedingungen sowie die Möglichkeit der Notbremsüberbrückung, um einen Tunnel trotz betätigter Notbremse zu verlassen.“
Aber reicht das? Nicht mehr, sobald ein Feuer auf die Sicherheitstechnik des Zuges übergreift, argumentiert Morlock und verweist auf den Brand eines Regionalzugs am 25. Juni 2012 bei Aachen. Brandhitze hatte die Steuerelektronik des Triebfahrzeugs außer Gefecht gesetzt, so dass der Zug auf freier Strecke ungewollt automatisch stehenblieb. Nach Kontext-Informationen droht ein unkontrollierter Halt auch durch den Überlastungsschutz beim ICE. Löst dieser etwa bei Hitzeeinwirkung aus, steht nur noch ein Viertel der Antriebsleistung zur Verfügung. „Zu wenig, um die steilen Anstiege der Neubaustrecke hinaufzufahren“, sagt ein Insider.
Bei Straßentunneln längst Standard
Anders als bei der Eisenbahn ist aktive Entrauchung bei Straßentunneln längst Standard. So ist etwa der im März 2022 in Betrieb genommene 1,3 Kilometer lange Stuttgarter Rosensteintunnel mit den neuesten Sicherheitseinrichtungen ausgestattet. Eine Brandmeldeanlage erfasst den genauen Ort eines brennenden Fahrzeugs und über eine Entrauchungsanlage werden dann die Rauchgase lokal abgesaugt. Zudem befindet sich in jeder Tunnelröhre auf beiden Seiten der Fahrbahn ein einen Meter breiter Notgehweg zum nächstgelegenen Querstollen. Der maximale Abstand der Querstollen beträgt 200 Meter.
Warum nicht auch in den Tunneln der NBS? Die Deutsche Bahn antwortet auf Fragen zur Brandsicherheit, dass die Tunnel der Neubaustrecke „alle strengen Sicherheitsanforderungen erfüllen“. Das EBA habe als zuständige Behörde das Flucht- und Rettungskonzept geprüft und genehmigt. „Die Deutsche Bahn plant und arbeitet auf Basis der anerkannten Regeln der Technik, hierzu zählen gesetzliche europäische und nationale Grundlagen sowie sämtliche Regelwerke und Vorgaben der Behörden“, betont ein Bahnsprecher. „Auf Grundlage dieser hohen Sicherheitsstandards betreiben wir im deutschen Schienennetz Tunnel mit einer Gesamtlänge von rund 600 Kilometern.“
Erschwerte Bedingungen für Feuerwehr
Bei der Neubaustrecke gibt es aber einige Besonderheiten, die zusätzliche sicherheitsrelevante Fragen aufwerfen. „Die Neubaustrecke führt über eine 15 Kilometer lange Tunnel-Brücken-Kette, die für die Rettungskräfte nur von den Enden her zugänglich ist, und das nach langer Anfahrt“, sagt Christoph Engelhardt. Er meint das Herzstück des Albaufstiegs, das aus dem 8,8 Kilometer langen Boßlertunnel und dem 4,8 Kilometer langen Steinbühltunnel besteht, zwischen denen zwei 485 Meter lange und 85 Meter hohe Eisenbahnbrücken das Filstal überqueren.
Hinzu kommt, dass im Notfall Freiwillige Feuerwehren aus den Anrainergemeinden ausrücken. Deren Mitglieder müssen erst von Arbeitsplatz oder Wohnung aus zur Feuerwache eilen, bevor es zum Einsatzort geht. Auch das kostet wertvolle Zeit. In der Landeshauptstadt, wo Ende 2025 der tiefergelegte Stuttgart-21-Hauptbahnhof mit rund 60 Kilometer langen unterirdischen Zulaufstrecken in Betrieb gehen soll, ist dagegen die Berufsfeuerwehr zuständig. Ein weiterer Unterschied: In den Tunneln der NBS ist eine trockene Löschwasserleitung verlegt. Nach Eintreffen der Feuerwehr muss diese erst befüllt werden, was rund zehn Minuten pro Kilometer Rohrlänge dauern kann. Bei S 21 plante die Bahn nach heftiger Kritik um: In dem acht Kilometer langen Fildertunnel zwischen neuem Hauptbahnhof und Flughafenbahnhof ist eine nasse, also gefüllte Leitung vorgesehen.
In den vergangenen Wochen probten Rettungsdienste entlang der Neubaustrecke den Ernstfall. Bei den Übungen in verschiedenen Tunneln, die mehrere Monate vorbereitet wurden, waren kritische Beobachter offenbar unerwünscht. So „vergaß“ das Landratsamt Esslingen, Medienvertreter zum Einsatz im knapp 8,2 Kilometer langen Albvorlandtunnel einzuladen. Die Redakteurin der „Wendlinger Zeitung“ konnte das Geschehen nur als Zaungast vom Tunnelportal aus verfolgen. Nach ihrer Aussage war Rettungskräften untersagt, mit der Presse zu sprechen. „Wir haben die Übungsaufgabe gut gemeistert“, wird Esslingens Kreisbrandmeister Guido Kenner erst Tage später in einer amtlichen Presseaussendung zitiert.
„Rechtzeitige Evakuierung bei Vollbrand unmöglich“
Wie realistisch die Übungen waren, bleibt fraglich, auch weil nur 30 Statisten evakuiert werden mussten. Ein ICE 3neo, der die Neubaustrecke in zwei gekoppelten Einheiten (Doppeltraktion) befährt, hat 878 Sitzplätze. Die ab 2025 zum Einsatz kommenden Regionalexpresszüge zählen in Dreifachtraktion 1.140 Sitz- sowie 1.617 Stehplätze. Christoph Engelhardt rechnete mit Hilfe üblicher Parameter nach, wie schnell sich Regionalzüge mit 2.000 bis 3.000 Insassen in den Tunneln der NBS und von S 21 evakuieren lassen. Als Ergebnis erhielt er die doppelte bis fünffache „Evakuierungszielzeit“ der Deutschen Bahn von 15 Minuten. Engelhardt: „Bei einem Vollbrand ist die rechtzeitige Evakuierung unmöglich, die Tunnel werden zur Todesfalle.“
„Letztendlich ist eine 100-prozentige Sicherheit niemals zu erreichen. Es muss daher festgelegt werden, wie groß das zu akzeptierende Restrisiko tatsächlich ist“, heißt es in einem internen Dokument der Deutschen Bahn zur Tunnelsicherheit.
Zu Redaktionsschluss (Dienstag, 6. Dezember) stand die Genehmigung der Inbetriebnahme der Schnellfahrstrecke über die Schwäbische Alb durch das EBA noch aus. Die Deutsche Bahn gab sich zuversichtlich: „Wie bei allen Inbetriebnahmen ist die Genehmigung erst kurz vor der kommerziellen Betriebsaufnahme zu erwarten“, so ihr Sprecher auf Kontext-Anfrage.