Bürgerbahn – Denkfabrik für eine starke Schiene
1.
Bürgerbahn statt Börsenbahn (BsB) // BsB wurde im November 2000 gegründet. Das Bündnis beteiligte sich maßgeblich an der Kampagne gegen den Bahnbörsengang, den der Bund und die Deutsche Bahn (DB) in den Jahren 2005 bis 2008 betrieben. Die materielle Privatisierung und damit der geplante Verkauf der Deutschen Bahn an arabische und russische Investoren konnte 2008 verhindert werden. Seither gibt es jedoch einen schleichenden Privatisierungsprozess, den wir kritisieren, da dadurch das System Schiene fortgesetzt geschwächt wird.
Der „Wettbewerb“ im Schienenpersonennahverkehr erweist sich zunehmend als kontraproduktiv. Er ist vielfach mit Fahrzeugmangel, mangelhaftem Material, Personalabbau, Lohndumping und betrieblicher Inkompetenz verbunden. Insbesondere ist eine Ausweitung von „Wettbewerb“ im Bereich des Fernverkehrs abzulehnen. Zu begrüßen sind demgegenüber Initiativen von Unternehmen, die von der DB aufgerissene Lücken schließen (beispielsweise in den Bereichen Nachtzug und Autoreisezug).
2.
BsB als Angebot zur Kooperation // BsB ist immer wieder mit fundierter Kritik an bahnzerstörerischen Großprojekten wie Stuttgart 21 bekanntgeworden – nicht zuletzt Ende 2010 im Rahmen des S21-Faktenchecks („Schlichtung“). Das Bündnis war maßgeblich an den Bahn-Konferenzen in Stuttgart im April 2014 und im Mai 2022 und am Zustandekommen des Dokumentarfilms „Das Trojanische Pferd – Stuttgart 21“ mit der Premiere am 21. November 2022 beteiligt. Unsere Kritik wurde bisher von der Realität bestätigt. Den damit erworbenen bundesweiten Ruf und unsere Kompetenz wollen wir weiterhin als „Denkfabrik für eine starke Schiene“, für eine Bürgerbahn und für eine Bahn für alle einbringen. Wir sind eng verbunden mit anderen Bahninitiativen, die in diesem Sinne aktiv sind.
3.
Klimabahn // Die Schiene ist im Nah-, Regional- und Fernverkehr – einschließlich des europaweiten Verkehrs – derjenige Verkehrsträger, der hinsichtlich Klimaschutz, Fahrkomfort und Effizienz am besten abschneidet. Wir treten dafür ein, dass die Schiene wieder zum Rückgrat des motorisierten Verkehrs wird. Der Erfolg des 9-Euro-Tickets zeigt, dass viele Menschen bereit sind, Züge und Busse zu benutzen, wenn der Zugang einfach und erschwinglich ist. Solche Angebote brauchen wir für eine Klima- und Bürgerbahn.
4.
Vorbild Schweiz // Heute kann die Bahn in der Schweiz als Vorbild gelten. Sie ist eine integrierte Bahn, die sich fast vollständig in öffentlichem Eigentum befindet, wobei dieses teilweise zentral – auf Bundesebene – und teilweise dezentral – im Eigentum der Kantone befindlich – organisiert ist. Die Bahnen sind in einem einheitlichen Takt- und Tarifsystem eng mit den ergänzenden kommunalen und regionalen Busverkehren verknüpft. Im Wissen, dass die Vorgaben (z.B. der EU) auf Privatisierung und „Wettbewerb“ abzielen, bleibt unser Langzeitziel eine zur Schweiz vergleichbare Struktur des öffentlichen Verkehrs auch in Deutschland. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die große Zeit der Schiene in Deutschland vor rund anderthalb Jahrhunderten mit der Überführung der privaten Eisenbahnen in öffentliches Eigentum begann.
5.
Grundsanierung Netz // Die Schieneninfrastruktur befindet sich in einem miserablen Zustand. Jahrzehntelang wurde auf Verschleiß gefahren. Notwendig sind eine Grundsanierung des Netzes mit den folgenden Elementen:
- Stopp jeglicher Entwidmungen noch vorhandener Eisenbahnanlagen, auch von bereits eingereichten Anträgen.
- Kein weiterer Verkauf von Bahnhofsgebäuden und Gleisanlagen
- Beseitigung aller Langsamfahrstellen
- Ausbau aller Streckenabschnitte, die „Flaschenhälse“ oder „Elektrifizierungslöcher“ sind
- Reaktivierung vieler Strecken, die nach dem Zweiten Weltkrieg abgebaut wurden
- Wiederherstellung eines großen Teils der Ausweichgleise, Weichen, Kreuzungen und Gleisanschlüsse, die seit Anfang der 1990er Jahre ausgebaut wurden
- bedarfsgerechter Ausbau von eingleisigen Strecken zu Zweigleisigkeit
- entsprechender Ausbau der Zulaufstrecken auf Mittel- und Oberzentren, um dort deutlich mehr Schienenkapazität für verdichteten Personen- und Güterverkehr zu schaffen.
Eine Generalsanierung mit Vollsperrungen über einen längeren Zeitraum, wie dies in dem im September 2022 vorgestellten Programm zur „Generalsanierung von sieben bis acht Korridoren“ im Zeitraum 2024 bis 2030 stattfinden soll, lehnen wir ab. Die seit mehr als 100 Jahren weltweit erprobte Sanierung unter rollendem Rad ist volkswirtschaftlich und bahntechnisch sinnvoll und mit Blick auf das Ansehen der Bahn und den Komfort der Fahrgäste geboten.
6.
Einheitliches Infrastrukturunternehmen // Angesichts der jahrzehntelangen Vernachlässigung der Infrastruktur durch die Deutsche Bahn und vor dem Hintergrund eines großen Anteils von Nicht DB-AG-Bahnbetreibern im SPNV und im Schienengüterverkehr treten wir dafür ein, dass die drei DB-Infrastrukturgesellschaften Netz, Bahnhöfe und Energie in einem Unternehmen zusammengefasst werden. Dieses Unternehmen bleibt Teil des Bahnkonzerns. Es erhält eine gemeinnützige Struktur (z.B. gGmbH). Es gibt keine Gewinnabführung an die Holding.
7.
Elektrifizierung // Notwendig ist ein Programm zur Verwirklichung eines zu 100 Prozent elektrischen Bahnbetriebs. Die meisten noch nicht elektrifizierten Strecken – insbesondere die mit Güterverkehr – sind dafür mit Oberleitung zu versehen. Auf einigen Teilstrecken kann ein Betrieb mit Akku-Zügen sinnvoll sein.
8.
Deutschlandtakt neu takten // Bund und DB bekennen sich seit rund fünf Jahren zum Projekt „Deutschlandtakt“, also zum Grundsatz eines integrierten Taktfahrplans nach dem Vorbild der Schweiz. Nur so werden optimale Anschlüsse für Reisende aller Züge im Nah- und Fernverkehr an allen Umsteigebahnhöfen ermöglicht und kurze Gesamtreisezeiten erreicht. In den vorausgegangenen Jahrzehnten hat die DB bei ihrer Infrastrukturplanung diese bewährten Grundsätze immer wieder sträflich ignoriert.
Das neue Ja zum Deutschlandtakt ist zu begrüßen. Allerdings zeigt eine genaue Betrachtung der Zielfahrpläne und der neu geplanten Infrastrukturprojekte, dass dieses „Ja“ überwiegend verbalen Charakter hat. Die DB und der Bund setzen weiter auf Höchstgeschwindigkeit und extrem teure Infrastrukturprojekte, die frühestens Mitte der 2030er Jahre in Betrieb genommen werden können. Dies widerspricht aus Umwelt- und Kostensicht jedem Augenmaß und jeder Vernunft. Wir treten ein für den Grundsatz „Takt vor Tempo“ mit einem robusten, verlässlichen, nicht erneut „auf Kante genähten“ Fahrplan. Der integrierte Taktfahrplan muss Nah-, Regional- und Fernverkehr umfassen. Dazu ist die Wiedereinführung eines Nachfolgers für den InterRegio erforderlich.
9.
Stopp zerstörerischer Großprojekte // Wir fordern den Stopp der großen, bahnverkehrszerstörenden und unnötigen Infrastrukturprojekte wie unter anderem Stuttgart 21, Zweite-S-Bahn-Stammstrecke in München, Frankfurter Fernbahntunnel, Hamburg Altona/Diebsteich und Hochgeschwindigkeitsstrecke Hannover- Bielefeld und Würzburg-Nürnberg. Wenn die dadurch freiwerdenden Mittel für vernünftige Projekte wie Elektrifizierung, Beseitigung von Engpässen und Fahrzeugbeschaffung eingesetzt werden, wird ein hoher gesellschaftlicher Nutzen erreicht.
10.
Nachtzüge // Der Beschluss der DB, den Nachtzugverkehr im Dezember 2016 komplett einzustellen, hat sich, wie absehbar, als fatale Fehlentscheidung erwiesen. Trotz der fortgesetzten Blockade durch die DB erlebt der Nachtzugverkehr eine Renaissance. Notwendig sind der Wiedereinstieg der DB in den Nachtzugverkehr und der Aufbau eines bundes- und europaweiten Nachtzug-Netzes. Damit kann ein größerer Teil des innereuropäischen Flugverkehrs auf die Schiene verlagert werden.
11.
Tarifsystem // Das Preissystem im Schienenverkehr ist seit Jahrzehnten völlig intransparent. Die überwiegende Orientierung auf Tickets mit Zugbindung im Fernverkehr ist falsch, weil damit ein wichtiger Systemvorteil der Schiene aufgegeben wurde: Mehr als 100 Jahre lang und bis 2001 boten Bahnfahrkarten in der Regel den Vorteil, dass sie in einem bestimmten Zeitraum mit allen auf der vorgegebenen Verbindung verkehrenden Zügen genutzt werden konnten.
Das Niveau der Flexpreise ist deutlich zu hoch. Wir treten ein für Mobilitätskarten, also für Flatrate-Systeme. Das als Nachfolger des 9-Euro-Tickets im Grundsatz beschlossene 49-Euro-Ticket ist ein Schritt in die richtige Richtung. Das von vielen Bahn-Initiativen, so auch von uns, vorgeschlagene bundesweite Ticket mit 1 Euro pro Tag (365 Euro im Jahr oder 32 Euro im Monat) halten wir weiterhin sozial für angemessener und in der PR-Wirkung für wirksamer. In jedem Fall sollte ein Flatrate-Nahverkehrs-Ticket ergänzt werden um ein Klimaticket nach dem Vorbild von Österreich (gültig dann für den gesamten öffentlichen Nah- und Fernverkehr).
12.
Aktivposten Bahnbeschäftigte // Ein wichtiger Aktivposten im Bereich Schiene sind die Bahnbeschäftigten. Die Wertschätzung für sie seitens der DB und vieler anderer Eisenbahnverkehrsunternehmen lässt jedoch deutlich zu wünschen übrig. Notwendig ist eine erhebliche Aufstockung der Zahl der im produktiven Bereich Beschäftigten. Insbesondere die unteren Lohngruppen müssen besser entlohnt und die Arbeitsbedingungen und Schichtsysteme im Interesse der Arbeitenden überarbeitet werden. Im Bereich des Top-Managements sind unproduktive Wasserköpfe entstanden; diese können abgebaut werden. Grundsätzlich muss das Führungspersonal aus Menschen bestehen, die „Schiene leben“.
13.
Wo DB drauf steht, muss deutsche Bahn drin sein // Die DB ist für den Schienenverkehr im Inland verantwortlich. Die großen Auslandsengagements und die nicht-bahnaffinen Unternehmen müssen verkauft werden. Der Erlös wird für das Projekt Bahnwende eingesetzt.
14.
Reduktion des Straßenverkehrs – Finanzierung der Bahnwende // Die Bahnwende als Teil der Klimapolitik wird nur funktionieren, wenn diejenigen Verkehrsarten, die das Klima in besonderem Maß belasten, deutlich reduziert werden. Notwendig sind im Straßenverkehr Tempolimits wie beispielsweise 30/80/120. Es darf keinen weiteren Bau von Straßen und Landebahnen geben.
Die Förderung von Straßen- und Luftverkehr ist zu beenden. Aktuell werden der Autoverkehr und der Flugverkehr jährlich mit mindestens 30 Milliarden Euro subventioniert. Die damit freiwerdenden Mittel sind für die Bahnwende einzusetzen.
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Wir erleben derzeit eine dramatische Zuspitzung der Klimakrise. Die Misere der Bahn steht dazu in einem fatalen Kontrast. Die Politik von Bund und Bahn im Bereich Schiene, vor allem hinsichtlich der Infrastruktur, droht den Schienenverkehr im Allgemeinen und den Bahnkonzern im Besonderen in eine existenzielle Krise zu stürzen. Das Programm, das wir in dieser Grundsatzerklärung entwickeln, ist geeignet, diesen katastrophalen Kurs in Richtung Betonbahn zu stoppen. Die Schiene muss ihren Beitrag zur Verkehrswende leisten – und dazu muss sie zu einer Bürgerbahn und einer Klimabahn werden.
Die Erfahrung der letzten Jahrzehnte zeigt, dass diese notwendige Wende nicht von oben kommen wird. Notwendig ist eine Bewegung von unten – ein gemeinsamer Kraftakt von Bahninitiativen und Bahnbeschäftigten.
Kassel, den 1. Oktober 2022
Mitglieder bei Bürgerbahn – Denkfabrik für eine starke Schiene sind (Stand 20.11.2022):
Tom Adler (Stuttgart) / Prof. Karl-Dieter Bodack (Gröbenzell) / Ernst Delle (Schorndorf) / Dr. Christoph Engelhardt (München) / Klaus Gietinger (Saarbrücken) / Dipl.-Ing. Eberhard Happe (Celle) / Johannes Hauber (Mannheim) / Prof. Wolfgang Hesse (München) / Joachim Holstein (Hamburg) / Michael Jung (Hamburg) / Andreas Kegreiß (Herrenberg) / Andreas Kleber (Schorndorf) / Ernst-Günter Lichte (Hamburg) /Prof. Heiner Monheim (Stendorf) / Roland Morlock (Esslingen) / Andreas Müller-Goldenstedt (Hamburg) / Markus Schmidt (Limburg) / Dr. Winfried Wolf (Potsdam)