Vermeiden! Vermeiden! Vermeiden! – Martin Wagner revisited
Als ich am 27. Januar in Weikersheim, Baden-Württemberg, eine – gut besuchte, spannende, von wunderbar aktiven Menschen organisierte – Veranstaltung zum Thema Verkehrswende hatte, führte ich zum ersten Mal seit Längerem wieder ein Zitat von Martin Wagner an. Dieser Mann – er war Jude, plante den Verkehr in Berlin in den 1920er Jahren, flüchtete nach New York und verglich in den 1950er Jahren die Verkehrssituation in der Autostadt New York mit derjenigen der Fußgänger- und Fahrrad- und Tram-Stadt Berlin – und dieses Zitat, das ich erstmals 1986 in meinem Buch „Eisenbahn und Autowahn“ anführte, hat mein gesamtes Verständnis von Verkehrspolitik revolutioniert.
Es lautet: „Das Verkehrsbedürfnis eines Menschen westlicher Zivilisation beläuft sich pro Jahr und Nase auf etwa tausend Zielbewegungen, von denen 650 fußläufigen Charakter hätten, wenn sie vom Städtebauer richtig geplant wären, von denen die restlichen 350 Bewegungen nur mit Hilfe von privaten und öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar sind.“
Mit „Zielbewegungen“ sind gemeint: die Berufs- und Ausbildungswege (5 bis6 Mal die Woche), die Einkaufswege (2-3 Mal die Woche), die Wege im Rahmen der Freizeit (2 Mal die Woche) und die Urlaubswege (1-2 Mal im Jahr). Was sich ändert, so Wagner, sind nicht die absolute Zahl dieser Wege, sind nicht unsere „Verkehrsbedürfnisse“, sondern in erster Linie die Entfernungen von A nach B bei den einzelnen Verkehrswegen. Der zitierte Wagnersche Aufsatz hat den programmatischen Titel „Verkehrter Verkehr“. Der Mann argumentiert in dem Beitrag, dass es in erster Linie aufgrund falscher Strukturen zu einer Verkehrsinflation kommt.
„Nach Weikersheim“ dachte ich immer wieder daran, dass ich endlich mal die aktuellen Zahlen zur Verkehrsinflation heraussuchen sollte. Vor zwei Tagen tat ich dies. Hier sind sie:
Art des motorisierten Verkehrs | 1967* | 1990* | 2019** | Wachstum | |||
1990/ 1967 | 2019/ 1990 | 2019/ 1967 | |||||
Mrd. Personen-km [Pkm] | in Prozent | ||||||
A1 | Eisenbahn | 34,8 | 44,6 | 100,4 | – | – | |
A2 | ÖPNV | 52,1 | 65,1 | 79,5 | |||
A3 | Luft (Inland) | 4,0 | 18,4 | 71,8 | |||
A4 | Pkw | 297 | 594 | 917 | |||
A5 | Summe | 388,0 | 726,9 | 1.168,7 | |||
B | Bevölkerung in Millionen | 59,3* | 63,7* | 83,0** | |||
C | km je Einw. (A5 : B) | 6543 | 11.411 | 14.081 | 74,4% | 23,4% | 115,2% |
* BRD (Westdeutschland) ** Gesamtdeutschland // Quellen: Verkehr in Zahlen ab 1970
Zwischen 1967 und 1990 hat sich die Zahl der je Person zurückgelegten Kilometer fast verdoppelt – sie stieg von 6543 auf 11.411 km (Zeile C). Seither und bis zum letzten Jahr vor der Pandemie, 2019, stieg sie nochmals um ein Viertel – auf 14.081 km. Wir wurden nicht mobiler. Aber unsere Mobilität wird immer mehr vom Kilometerfraß bestimmt.
Im Übrigen war 1967 ein Jahr des allgemeinen Wohlstands – ohne (aus aktueller Sicht) relevanter Arbeitslosigkeit. Heute haben wir gut fünf Millionen Menschen, die in ihrer Mobilität als Resultat von Armut stark eingeengt sind.
In der Diskussion über eine „Verkehrswende“ wird immer ein zweiter Schritt vor dem notwendigen ersten Schritt vorgeschlagen. Das führt in die Irre – und zu absurden Programmen mit unnötigem, das Klima belastendem Ausbau von Infrastrukturen. Es geht in erster Linie darum, den motorisierten Verkehr – und hier natürlich vor allem den Pkw-Verkehr – zu reduzieren. Hat man das im Auge, dann müssen für eine Verlagerung auch nicht gewaltige neue Strukturen aufgebaut werden – zumal die großen Potentiale des Verkehrs zu Fuß und per Rad hier – vor allem aus Platzgründen – noch nicht einmal in Betracht gezogen wurden.