Nahverkehr einst und heute
Mein früherer Nachbar war nicht nur für seinen Zigarettenkonsum und seinen auf Willy Brandt gemünzten Rat, Leute mit Visionen sollten zum Arzt gehen, berühmt, sondern er soll 1974 auch gesagt haben, dass die Bundesrepublik sich nur eines leisten könne: Entweder eine Bundeswehr oder eine Bundesbahn.
Wo seine Prioritäten lagen, sieht man nicht nur daran, dass die frühere Bundeswehrhochschule heute seinen Namen trägt und dass er Atomraketen in meiner Heimatstadt Heilbronn stationieren ließ, sondern man konnte es auch am Zustand des Nahverkehrs zum Ende seiner Kanzlerschaft erkennen. Während man auf der 1974 fertiggestellten Autobahn jederzeit in rund einer Stunde von Heilbronn (damals etwa 110.000 Einwohner) nach Würzburg (125.000 Einwohner) kommen konnte, verkehrten auf der 1869 trassierten und um ein Viertel längeren Bahnstrecke im Sommer 1982 lediglich sieben durchgehende Züge pro Tag: Abfahrt in Heilbronn um 7:13, 9:51, 11:15, 14:38, 17:00, 18:58 und 20:55 Uhr; hinzu kam um 12:57 Uhr die einzige akzeptable Umsteigeverbindung; die Fahrzeit betrug jeweils rund 1:45 Stunden. Das bedeutete: Wer den Zug um 7:13 Uhr verpasste, konnte Würzburg erst um 11:30 Uhr erreichen, mehr als vier Stunden später, also bezogen auf die 100 Straßenkilometer quasi mit Tempo 25.
Heute verkehren 17 Züge am Tag im Stundentakt und brauchen 1:33 Stunden; wer einen Zug knapp verpasst, ist somit rund 2:30 Stunden später in Würzburg. Das entspräche zwar auch nur Tempo 40, aber die Gewissheit des Stundentaktes ist ein nicht zu unterschätzender Gewinn bei der Qualität des Angebots.
Noch krasser ist die Entwicklung westlich von Heilbronn. Ich fuhr Ende der 1970er gelegentlich am Samstag ins Wildparkstadion zum Karlsruher SC – und zwar kurz nach 13 Uhr mit dem letzten Zug vor der Wochenendruhe. Erst 28 Stunden später, am Sonntag kurz nach 17 Uhr, fuhr der nächste Zug; auf dem Rückweg musste ich somit immer den – zudem teureren – Umweg über Bietigheim-Bissingen nehmen. Die DB wollte die Strecke stilllegen und weigerte sich hartnäckig, einen Haltepunkt am Berufsschulzentrum in Heilbronn-Böckingen einzurichten, sodass die Jugendlichen aus dem Kraichgau an ihrer Schule vorbei zum Hbf fahren und dort mitten in der Rush Hour in überfüllte Stadtbusse einsteigen mussten, um wieder an den Stadtrand zurückzufahren.
Es waren dann die Betreiberinnen der Karlsruher Stadtbahn, die die Strecke nicht nur retteten, sondern auf ein neues Niveau hoben: sie wurde elektrifiziert, weitgehend zweigleisig ausgebaut, mit neuen Haltepunkten – auch vor der Berufsschule – versehen und mit den bewährten Zweisystem-Triebfahrzeugen bestückt, die in Karlsruhe und Heilbronn als Straßenbahn unterwegs sind.
Leider gab es mit dem Fahrplanwechsel im Dezember 2022 eine massive Verschlechterung, weil eine RE-Linie der DB auf die Strecke gelegt wurde, die alle Anschlüsse der bisherigen Taktung zunichte macht und nicht mehr mitten durch die beiden Städte fährt; der VCD hat diese unsinnige Planung, die zur Abwanderung von Fahrgästen geführt hat, von Anfang an kritisiert: