Unbequeme Botschaften – und ihre Überbringer
Am 14. Juni 2023 widmete sich der Bundestagsausschuss für Digitales »unter anderem den Arbeitsbedingungen von Content-Moderatoren, die für große Social Media-Plattformen tätig sind. Im Digitalausschuss sollen die verschiedenen Aspekte der Digitalisierung und Vernetzung fachübergreifend diskutiert und entscheidende Weichen für den digitalen Wandel gestellt werden.« https://www.bundestag.de/presse/hib/kurzmeldungen-953162
Eine der Personen, die dem Gesetzgeber Auskunft gab, damit dieser seine Aufgaben erfüllen konnte, wurde daraufhin von seinem Betrieb, einem kanadischen Dienstleister, »beurlaubt« und bekam Hausverbot. Dieses wurde zwar vor dem Arbeitsgericht zurückgenommen (der Kollege ist für die Durchführung der ersten Betriebsratswahl bei diesem Dienstleister zuständig), aber nun droht ihm die Kündigung – weil er dem Gesetzgeber berichtete, damit dieser seine Aufgaben wahrnehmen kann.
Aber nicht nur ein kanadische Firma, sondern auch ein deutscher Staatsbetrieb sieht es kritisch, wenn gegenüber Abgeordneten – also Vertretern des Eigentümers! – Auskunft gegeben wird – so geschehen im Herbst 2014, als wir eine Kundgebung zur Rettung der Nacht- und Autozüge vor dem Bahntower abhielten, auf der neben Betriebsräten und anderen Beschäftigten auch Karl-Dieter Bodack von »Bürgerbahn statt Börsenbahn« und der damalige EVG-Vorsitzende Alexander Kirchner sprachen. Als einen Tag später der Bundestag über den Antrag der Linkspartei zur Rettung der Nachtzüge debattierte, gaben vor allem die Abgeordneten Daniela Ludwig (CSU) und Michael Donth (CDU) derart abenteuerliche Thesen und alternative »Wahrheiten« von sich, dass ich beiden eine Mail schrieb. Bei Frau Ludwig rückte ich die Behauptung, die Nachtreiseverkehre hätten »in den vergangenen Jahren 30 Prozent der Nachfrage eingebüßt«, zurecht:
Ich weiß nicht, auf welchen Zeitraum Sie sich beziehen und wer Ihnen diese Zahlen geliefert hat, aber ich kann Ihnen auf der Basis offizieller Zahlen der DB Fernverkehr AG folgendes mitteilen: zwischen 2003 und 2013 hat die Zahl der Nachtzugreisenden in Schlaf-, Liege- und Ruhesessel- bzw. Sitzwagen um 4 % zugenommen, von 1,498 Millionen auf 1,560 Millionen. Hierbei sind noch nicht die Pendler eingerechnet, die in einigen Nachtzügen die Möglichkeit haben, in den auf Teilstrecken mitgeführten IC-Wagen zum Beispiel von München nach Stuttgart, von Basel nach Heidelberg, von Duisburg nach Koblenz oder von Berlin nach Erfurt zu reisen. 2010 waren das 780.000 Reisende, 2013 schon 1,2 Millionen Reisende! Wir haben also in den letzten Jahren einen deutlichen Zuwachs an Reisenden in den Nachtzügen erlebt.
Geradezu lustig gemacht hatte sich die in München geborene Abgeordnete über die Anregung von Sabine Leidig (MdB-Linke), Nachtzüge sollten genutzt werden, um bei der sechs Jahre später anstehenden Fußball-EM Fans zwischen den zwölf Ländern hin- und herzufahren: Das seien doch »nur vier Wochen«. Ich konterte:
Ich kann Sie beruhigen: Niemand hat die Absicht, diese Züge nur vier Wochen lang zu betreiben. Schließlich ist die Münchner S-Bahn auch nicht nur für 17 Tage Olympische Sommerspiele erbaut worden. Andersherum: Will sich Deutschland in den folgenden Jahren als ein modernes, weltoffenes Land präsentieren – oder als eines, in dem um 23 Uhr die Bahnsteige hochgeklappt werden?
Und ich kritisierte ihre Haltung, dass dort, wo es Flugverbindungen gäbe, keine Nachtzüge gebraucht würden:
Sie sprachen über die Gegenwart als ein »Zeitalter, in dem man in Europa sehr schnell mit dem Flugzeug von A nach B reisen kann«. Warum eigentlich nur mit dem Flugzeug? Warum kann man nicht auch mit dem Zug schnell von A nach B, wenn dazwischen eine Grenze liegt? Weil die Hochgeschwindigkeitszüge nicht über die Grenze fahren (D/F einmal ausgenommen)? Weil die Fahrpläne nicht vernünftig aufeinander abgestimmt sind? Weil der Nachtzug, der früher von Hamburg via Brüssel nach Paris fuhr, heute via Mannheim drei Stunden länger braucht? Die gegenwärtige Verkehrssituation ist kein unabwendbares Schicksal und kein Naturgesetz, sondern ist ein menschengemachter Zustand. Wir sind keineswegs dafür, jemandem die Benutzung des Flugzeuges für eine Reise von, sagen wir, Kopenhagen nach Bilbao zu untersagen, aber wir möchten auch nicht, dass es den Menschen immer schwerer und teilweise unmöglich gemacht wird, solche Strecken mit der Bahn zurückzulegen. Das Mindeste wäre, dass zwischen Flug- und Bahnverkehr Chancengleichheit hergestellt wird, was die Umsatzsteuer bei grenzüberschreitenden Reisen, die Finanzierung der Verkehrseinrichtungen und die Besteuerung der Energie einschließlich Einbeziehung in das EEG betrifft. Warum zahle ich für einen Flug von Hamburg nach Paris 0 Euro Umsatzsteuer, aber für eine Bahnfahrt 19 Prozent?
Die Abgeordnete Ludwig hat nie geantwortet, aber meines Wissens auch sonst nichts unternommen – anders als Michael Donth von der CDU, um den es in meinem nächsten Blogbeitrag geht.
Ein Kommentar zu “rail blog 112 / Joachim Holstein”