Zehn Jahre danach … All Along the Bahntower
Man verzeihe mir die erneute musikalische Anspielung und das Denglisch, denn beides ergibt Sinn. Der Bahntower war im September 2014 das Ziel und der Hintergrund einer dreistündigen Kundgebung, die von Kolleginnen und Kollegen der DB European Railservice GmbH organisiert worden war. Wir hatten Tausende von Protestpostkarten von Fahrgästen aus vielen Ländern Europas gesammelt, die wir dem DB-Vorstand übergeben wollten. Da wir zutreffenderweise davon ausgingen, dass man uns nicht in die Konzernzentrale reinlassen würde, hatten wir die Hauptkundgebung wegen des fotogenen Hintergrundes auf der anderen Straßenseite und die zweite Kundgebung direkt vor der Tür der Konzernzentrale angemeldet, dazwischen eine Mini-Demo zwecks Überquerung der Straße.
Wir sammelten auch vor Ort noch Unterschriften von Passanten – die prominenteste kam von Christian Ude, der bis fünf Monate zuvor Münchner OB gewesen war und sich sofort bereiterklärte, den Protest gegen die Abschaffung der Auto- und Nachtzüge zu unterschreiben: »Die bringen doch jede Menge Gäste zu uns!«
Das Programm auf dem Bühnen-Lkw war fast vollständig selbst gestaltet – einzige Ausnahme war Alexander Kirchner, der angefragt hatte, ob er als Vorsitzender der EVG bei unserer Kundgebung sprechen dürfe.
Ebenfalls anwesend waren einer unserer beiden Geschäftsführer sowie eine Personalvorständin von DB Fernverkehr, die möglicherweise darauf aus waren, jemandem wegen Äußerungen auf der Kundgebung später disziplinarisch zu belangen. Sie ließen es bleiben, obwohl wir am Mikro einige Fakten nannten, die der DB-Konzern gerne aus der Öffentlichkeit herausgehalten hätte, unter anderem Zahlen, die Folgendes belegten:
»Die Nachtzüge sind auf der Schiene profitabel – das Defizit entsteht im Bahntower!«
Drei von uns waren einige Stunden vorher zu Gast in der Bundespressekonferenz gewesen: zwei (Gesamt-)Betriebsräte und Mitglieder des Wirtschaftsausschusses sowie Karl-Dieter Bodack von »Bürgerbahn statt Börsenbahn«, der ja nicht nur als »Vater des Interregio« bekannt war, sondern der auch Nachtzüge designt hatte, namentlich den TUI-Ferienexpress und die Kajütliegewagen des von TALGO stammenden InterCityNight. Ihn hatte der Wirtschaftsausschuss auch schon als Gast auf einer Sitzung begrüßt, um zu erörtern, welche Möglichkeiten es geben könnte, moderne Nachtzugwagen zu gestalten.
Am Tag nach der Kundgebung debattierte dann der Deutsche Bundestag über einen Antrag der Linkspartei, die Nachtzüge zu retten. Über die Drolligkeiten aus dem Unionslager schrieb ich im Sommer 2023 im Railblog 112 (https://buergerbahn-denkfabrik.org/rail-blog-112-joachim-holstein/), und die Fortsetzungen folgten in den Railblogs 118 (https://buergerbahn-denkfabrik.org/rail-blog-118-joachim-holstein/) und 124 (https://buergerbahn-denkfabrik.org/rail-blog-124-joachim-holstein/), in dem Sie die Auflösung des Cliffhangers meines vorigen Beitrages finden – der vom DB für die Anhörung des Verkehrsausschusses benannte Vorstand Ulrich Homburg sagte uns nach der Sitzung ganz offen, dass er noch nie Nachtzug gefahren war.
Als Vorstand Personenverkehr DB ML AG.
Als Sohn einer Bahnerfamilie, der schon als Jugendlicher Freifahrten hatte.
Als von der DB entsandter Sachverständiger für diese Anhörung.
Noch nie Nachtzug gefahren.
Wenn wir das vor der Sitzung gewusst hätten, wäre die Anhörung anders verlaufen. So aber galt er als der kompetente DB-Vorstand, dem vor allem die CDU/CSU mehr Glauben schenkte als dem Vertreter der Beschäftigten. Für die Union waren Nachtzüge nostalgische Verirrungen, während Auto, Flugzeug, ICE und Transrapid (zwischen München Hauptbahnhof und Münchner Flughafen, wo Sie dann in zehn Minuten einchecken) als die einzig wahren Verkehrsmittel galten.
Zwei Jahre später, bei der zweiten Anhörung im Februar 2017, acht Wochen nach der Übernahme einiger Nachtzuglinien durch die ÖBB samt Kauf der 42 modernsten Schlafwagen, hatte sich das Klima im Ausschuss deutlich geändert: der als Sachverständiger geladene ÖBB-Manager Kurt Bauer konnte zufrieden verkünden, dass die Plätze in den Zügen sich quasi selber verkauften und man schwarze Zahlen schreibe (Näheres im Railblog 147: https://buergerbahn-denkfabrik.org/rail-blog-147-joachim-holstein/), und Berthold Huber als DB-Vertreter konnte im Grunde nichts weiter beitragen als »Wir freuen uns für die ÖBB und unterstützen sie«. Da kam kein mitleidiges Lächeln irgendwelcher Ausschussmitglieder mehr, sondern die Fakten der ÖBB und die Tatsache, dass die es einfach besser machten als die Deutsche Bahn, hatte offenbar gewirkt.
Und damit zurück zum Titel, weil ich den Sinn der musikalischen Anspielung noch nicht aufgeklärt hatte. »All Along the Watchtower« kennen wohl die meisten, die das Stück schon mal gehört haben, in der Version von Jimi Hendrix. Das Original stammt aber von Bob Dylan.
Und jetzt schauen Sie sich mal Medienberichte über die ÖBB-Nachtzüge an, die vor der Premiere der neuen Nightjets im Dezember 2023 erschienen sind. Ich schätze mal, dass in mindestens drei Vierteln dieser Berichte und Reportagen die schönen Nightjet-Schlafwagen mit den drei übereinander liegenden Betten, die zu Double- oder Single-Kabinen umgebaut werden können und manchmal sogar über eine eigene Dusche und Toilette verfügen, lobend erwähnt werden – und den Leserinnen und Zuschauern die Information vorenthalten wird, dass diese Waggons rund zehn Jahre lang bei der DB im Einsatz waren. Ein besonders krasses Beispiel, das im Gegensatz zum gelöschten Beitrag der ARD-Tagesschau immer noch abrufbar ist, lieferte der Münchner Merkur am 5. Januar 2020: https://www.merkur.de/wirtschaft/gespraeche-fuer-mehr-nachtzuege-laufen-zr-13419403.html
Museumsreife Schlafwagen und ausgelegene Pritschen brachten Millionenverluste. Vor drei Jahren zog die Bahn die Notbremse.… Die Bahn hatte ihre rund 40 Jahre alten Schlaf- und Liegewagen 2016 den Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) vermacht, weil sie damit regelmäßig Verluste einfuhr. Die Österreicher investierten dagegen in das Geschäft und ließen neue Züge bauen.
Die Österreicher hatten neue Züge 2020 zwar schon in Auftrag gegeben, aber diese kamen eben erst 2023 auf die Schiene. Das, was 2020 als »NightJet« fuhr, waren genau die Wagen, die wahrheitswidrig als »40 Jahre alt« und »museumsreif« diffamiert worden waren.
Und auch bei den »Nightjets der neuen Generation« fehlt die Information, dass die hochgelobten Einzelkabinen in den Liegewagen eben nicht von der ÖBB stammen, sondern … wer hat’s erfunden? Die Deutsche Bahn! Genauer: findige Köpfe in den zuständigen Abteilungen, die Ideen hatten und die sich an Bedürfnissen der Reisenden orientierten.
Spricht etwas dagegen, solche Wagen auch in deutschem Auftrag zu bauen, anstatt die Österreicher mit dem Wagenmangel alleinzulassen?