rail blog 124 / Joachim Holstein

Auskunft trotz Maulkorb – und ein Geständnis des DB-Vorstandes

Wenn man von der Geschäftsführung einer Konzerntochter eine Abmahnung bekommt, weil man den Eigentümer des Konzerns über die Geschäftspolitik informiert, dann hat das nicht nur ein seltsames »Gschmäckle«, sondern beeinflusst auch das weitere Vorgehen. Entsprechend sah meine Äußerung im nächsten Interview aus, das ich dem Blog »Nachtzug-retten« gab:

Auf die Frage »Sind die Berechnungen der DB seriös? Ist der Nachtzug wirklich nicht rentabel?« antwortete ich:

Mir ist am 13. Oktober 2014 unter Androhung arbeitsrechtlicher Sanktionen untersagt worden, Fragen wie diese wahrheitsgemäß zu beantworten. Obwohl sich noch am Abend desselben Tages zwei Bundestagsabgeordnete bei Bahnchef Dr. Grube über diese Abmahnung beschwert haben, obwohl die DB just am selben Tag in der Süddeutschen Zeitung mit offiziellen Angaben zu Fahrgastzahlen und zur Wirtschaftlichkeit zitiert wurde, und obwohl man in anderen Medien bis hin zum britischen »Guardian« vom 12. September 2014 von der DB publizierte Detailzahlen zu einzelnen Zügen und Kursgruppen nachlesen konnte, soll es Betriebsräten sogar verboten sein, Bundestagsabgeordneten Auskunft über die echten Zahlen beim Staatskonzern DB zu geben, über dessen Verkehrsangebot sie gemäß Artikel 87e GG zu entscheiden haben.

Ich kann also nur die Empfehlung geben, sich mit solchen Fragen an die Pressestelle der DB zu wenden und unter anderem zu fragen, ob bei den von der DB publizierten Fahrgastzahlen der Nachtzüge auch die Reisenden in den Sitzwagen mitgezählt wurden, insbesondere in den sogenannten Pendlerwagen, die mit einer Intercity-Zugnummer auf Teilstrecken wie München-Stuttgart oder Amsterdam-Basel im Nachtzug mitlaufen. Spannend wäre auch die Antwort auf die Frage, wie die Konzernspitze die angeblich so schwache Auslastung von Nacht- und Autoreisezügen errechnet hat: bekanntlich kann man in Nachtzügen einen Aufpreis bezahlen, wenn man das Abteil für sich alleine haben will – rechnet die DB ein von einem Single komplett gebuchtes Schlafwagenabteil als eine Auslastung von 33 % oder von 100 %? Hat man bei den vom DB-Konzern offiziell genannten Defiziten eigentlich berücksichtigt, wie viel von den Kosten der Nachtzüge in Wirklichkeit an anderer Stelle des DB-Konzerns als Einnahme in Form von Trassengebühr, Stationsgebühr usw. wieder auftaucht? Hat der Konzern vielleicht auch entschieden, die Leistungen, die der Nachtverkehr mit dem Mitführen der Pendlerwagen erbringt, buchhalterisch nicht mehr als Einnahme des Nachtverkehrs anzusetzen? Was steckt in den Overheadkosten drin, die dem Nachtverkehr angelastet werden? Es gibt noch viel mehr Fragen – und der öffentliche Eigentümer hat ein Recht auf Antworten.

http://www.sueddeutsche.de/muenchen/abschaffung-der-autozuege-der-zug-ist-abgefahren-1.2170038

http://www.theguardian.com/world/2014/sep/12/europe-night-trains-sleeper-service

Auf die Frage, ob ich für die Zukunft weitere Angebotskürzungen befürchtete, antwortete ich:

Ja. Was soll man sonst von einem Unternehmen erwarten, das nicht einmal davor zurückschreckt, einen selbst in der tiefsten Nebensaison mit durchschnittlich 310 Reisenden pro Nacht besetzten Zug aus dem laufenden Fahrplan zu nehmen? Die im Fahrplan veröffentlichen Fahrten des Nachtzuges von Kopenhagen nach Amsterdam, Basel und Prag im November und Dezember 2014 wurden Anfang August wegen einer »sich abzeichnenden geringen Nachfrage« gestrichen – obwohl die Buchungsfrist kaum begonnen hatte und die meisten Reisenden traditionell erst zwei bis sechs Wochen vorher buchen. Mit der obigen Reisendenzahl verrate ich übrigens kein Geschäftsgeheimnis, denn sie entstammt einer Antwort des dänischen Transportministeriums auf eine Anfrage der linksgrünen »Einheitsliste« im Parlament. Die Skandinavier waren und sind hellauf empört, dass die DB offenbar kein verlässlicher Anbieter von Linienverkehr mehr sein will, sondern sich am Prinzip Busausflug orientiert: »Fahrt findet erst bei einer Mindestteilnehmerzahl von X statt«.

Natürlich machten sich auch Sabine Leidig und ihr Büro Gedanken, wie ich angesichts der Abmahnung am 14. Januar 2015 vor dem Ausschuss auftreten könne, ohne eine Kündigung zu kassieren. Mein Lösungsvorschlag erwies sich als höchst praktikabel: Sie solle Fragen zu Auslastung und Wirtschaftlichkeit grundsätzlich an den DB-Vertreter Ulrich Homburg und an mich stellen – in dieser Reihenfolge. Dass wir wegen der alphabetischen Sitzordnung der Sachverständigen direkt nebeneinander saßen, kam mir auch zupass – so konnte ich mich quasi zu ihm hinüberneigen und meine Antworten bei Bedarf mit »ich nehme an, dass ich die Zahlen nennen darf, Herr Homburg« einleiten. Denn als Betriebsrat lernt man in den Schulungen: Informationen sind nur dann Betriebsgeheimnisse, wenn der Unternehmer sie ausdrücklich als solche bezeichnet.

Es kam aber noch viel besser: Der erste Fragesteller, Dirk Fischer (CDU), stellte die erste Frage an Herrn Homburg:

Wie hat sich aus der Sicht Ihres Unternehmens die Nachfragesituation verändert? Welche Faktoren haben darauf eingewirkt? Wie ist die Entwicklung im Zuwachs oder im Verlust der Nachfragesituation? Wie sind die saisonalen Effekte?

Das Protokoll verzeichnet als Antwort:

Ulrich Homburg (Vorstand Personenverkehr DB ML AG): Die erste Frage, Nachfragesituation der Nachtzüge: Stabile Nachfragesituation. Die Züge sind gut gebucht.

Gleich der erste Satz ein Geständnis: Die DB hatte die Öffentlichkeit, die Beschäftigten, aber auch den Eigentümer jahrelang belogen. Es gab gar keinen »Nachfragerückgang«, sondern die Züge waren voll.

Schon für diesen einen Satz hatte sich die ganze Arbeit, der ganze Stress gelohnt.

Es folgten noch weitere erhellende Momente, etwa als Herr Homburg den Abgeordneten das Phänomen halbleerer, aber nicht buchbarer Züge erklärte:

Das ist überwiegend unserer Zusammenarbeit mit den europäischen Partnerbahnen geschuldet. Wir geben bei den grenzüberschreitenden Linien bestimmte Kontingente an die Partnerbahnen ab, die dann bei uns zur Buchung gesperrt sind. Leider ist es so, dass die europäischen Partner die nicht verkauften Kontingente sehr spät oder gar nicht zurückgeben und somit bei uns der Platz gesperrt ist. Das ist auch der Situation geschuldet, dass die Vertriebssysteme europaweit extrem unterschiedlich sind und es keine Online-Echtzeitverknüpfung gibt.

Ungläubiges Schweigen im Saal: So läuft der Vertrieb bei der Bahn im 21. Jahrhundert?

https://www.bundestag.de/resource/blob/356570/41abb5806e2323cd23b10d51ef5583b3/026_sitzung_protokoll-data.pdf

Die krasseste Überraschung kam aber nach Ende der Ausschusssitzung, als wir Nachtzug-Kampagner@s vor dem Gebäude zusammenstanden und Herr Homburg auf uns zukam: »Ich bin doch ziemlich bei Ihnen! Wenn der Staat Nachtzüge bestellt, dann werden wir die fahren!« Und dann fragte ihn jemand so ganz beiläufig-interessiert, wann er zum letzten Mal Nachzug gefahren sei. Seine Antwort: »Ich bin noch nie Nachtzug gefahren.«

Als Vorstand Personenverkehr DB ML AG.

Als Sohn einer Bahnerfamilie, der schon als Jugendlicher Freifahrten hatte.

Als von der DB entsandter Sachverständiger für diese Anhörung.

Noch nie Nachtzug gefahren.

Wäre es bei der anderen Firma, die DB im Namen führt, denkbar, dass der Vorstand Personenwagen auf die Frage, wann er zum letzten Mal einen SL gefahren sei, antworten würde: »Ich bin noch nie in einem SL gesessen«?

Tja – und genau das ist der Unterschied zwischen einem Betrieb mit einer Führung, die sich mit dem Produkt identifiziert, und der DB AG.

Über Joachim Holstein

(*1960) arbeitete von 1996 bis 2017 als Steward in Nacht- und Autozügen der DB, war von 2006 bis zur Einstellung dieser Verkehre Betriebsrat der DB European Railservice GmbH und zuletzt Sprecher des Wirtschaftsausschusses. Mitbegründer der Initiative zur Rettung des Nachtzuges Hamburg-Paris (2008; »Wir wollen nach Paris und nicht an die Börse«) und des europäischen Netzwerks für Nachtzüge »Back on Track« (2015; https://back-on-track.eu/de/); Weiteres unter www.nachtzug-bleibt.eu

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