rail blog 159 / Winfried Wolf

Tunnelmania

Über die materiellen, psychologischen und weltanschaulichen Hintergründe des Tunnelbauwahns

Dass die Tunnelbau-Orgien, wie wir sie europaweit und in besonderem Maß in Deutschland erleben, viel mit materiellen Interessen, mit der Bau-Beton-Banken-Lobby zu tun hat, liegt nahe. Der folgende Beitrag dokumentiert dies auch – und benennt zugleich die Akteure und die sehr gut organisierte Tunnelbau-Lobby. Kaum bekannt und nirgendwo sonst thematisiert wird, dass sich dahinter auch massenpsychologische Aspekte und vor allem ein zerstörerischer Männlichkeitswahn und der Wahn, der Mensch müsse die Natur beherrschen, verbergen.

Ende November 2013 tagte in Stuttgart die STUVA e.V.; ausgeschrieben klingt der eingetragene Verein so unterirdisch wie er ist: Es handelt sich um die „Studiengesellschaft für unterirdische Verkehrsanlagen – STUVA e.V.“ Anwesend waren 1600 Menschen aus mehreren Ländern; überwiegend Vereinsmitglieder oder Vertreter von solchen Mitgliedern (wie Verbände, Firmen usw.). Sie hatten sich im ICS, dem Internationalen Congress Center Stuttgart, versammelt.

Das am meisten beachtete Referat auf dieser Tagung hielt Volker Kefer, der Ex-Infrastrukturvorstand der Deutschen Bahn AG und der damalige Verantwortliche für die Projekte Stuttgart 21 und die Neubaustrecke Wendlingen – Ulm. Seit Anfang 2017 heißt der entsprechende Bahnvorstand und DB-AG-Verantwortliche für S21 und die Neubaustrecke Ronald Pofalla.1

Auf der erwähnten STUVA-Tagung entwickelte Kefer n seinem Vortrag die Theorie, wonach in Zukunft immer mehr Menschen in Metropolen wohnen werden. Diese Leute seien vielfach zu einem Metropolen-Hopping genötigt bzw. sie liebten es, sich von Großraum zu Großraum in hoher Geschwindigkeit zu bewegen. Und weil die Leute das so wollten, so Kefer weiter, setze die Bahn auf den Ausbau der Hochgeschwindigkeit-Strecken und auf einen Ausbau der Knoten und Bahnhöfe.

Kefer führte aus, dass das für diese Zielsetzungen „zugrunde liegende Kernnetz des Fernverkehrs […] zwar überwiegend positiv ausfällt“, dass es jedoch „insbesondere im Südwesten der Bundesrepublik Deutschland deutlichen Nachholbedarf“ geben würde. Dass es also gelte, „Lücken zu schließen“.

Für diese neue Form die Urbanität vernetzender Hochgeschwindigkeitsstrecken benötige man, so Kefer weiter, viele Tunnels. Also just das, was all die anwesenden 1600 Vereinsmitglieder der „Studiengesellschaft für unterirdische Verkehrsanlagen“ vereint.

Und Kefer rechnete vor: Ende 2002 habe es im deutschen Schienennetz mit 34.000 km Betriebslänge 692 Tunnel mit einer Gesamtlänge von 492 Kilometern. In den nächsten zehn Jahren – „bis 2023“ – seien der Bau bzw. die Inbetriebnahme von Tunnelbauten mit 187 weiteren Tunnelkilometern vorgesehen – in Form von Ersatzbauten und vor allem von Aus- und Neubauprojekten. All das zusammen würde – allein für den erforderlichen Tunnelbau – einen Investitionsaufwand von 24,2 Milliarden Euro erfordern.2 Nicht erwähnt wurde ein Subtext, der allen Anwesenden bewusst war: Es geht dabei so gut wie ausschließlich um Steuergelder.

Hier muss man sich die Proportionen vor Augen halten, die Kefer nur indirekt ansprach: In – zum damaligen Zeitpunkt – 178 Jahren deutsche Eisenbahngeschichte wurden auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland Tunnelbauten mit einer addierten Länge von knapp 500 Kilometern gebaut.3 In den nächsten zehn Jahren sollen – so Kefer – weitere 187 Kilometer oder knapp 40 Prozent hinzukommen. Und dies bei einem Schienenfernverkehr, dessen Anteil im Fernverkehrssektor (Straße, Schiene und Binnenluftfahrt) deutlich rückläufig ist. Vor dem Hintergrund eines seit der Bahnreform 1994 um 19 Prozent geschrumpften Netzes, das auch in Zukunft nach dem Willen des Bahnvorstands nicht ausgebaut werden soll und das Jahr für Jahr weiter abgebaut wird. Selbst in der Amtszeit der Herren Grube und Kefer, zwischen 2009 und 2016, wurde das betriebene Netz um weitere 341 Kilometer und die Gleislänge sogar um 3134 Kilometer gekappt.4 Der Anteil der in Tunneln verlaufenden Kilometer stieg allein im Zeitraum 2001 bis 2016 um 45 Prozent.

Man fragt sich unwillkürlich: Haben sich in jüngerer Zeit vielleicht neue Mittelgebirge aufgetürmt? Hat sich die Endmoränenlandschaft neu sortiert? Muss die Eisenbahn in Deutschland sich veränderten geologischen Verhältnissen anpassen? Oder steigert sich Herr Kefer da in eine Urbanitätstheorie und Schienenwelt hinein, die irreal, nicht von dieser Welt ist?

Im Grunde erleben wir hier exemplarisch eine Entwicklung, die für den Kapitalismus typisch ist: In diesem Wirtschaftssystem gibt es eine ausgeklügelte Rationalität in Teilbereichen kombiniert mit einer irrwitzigen Irrationalität hinsichtlich des Gesamten. Die Art und Weise, wie der Tunnelbau organisiert und durchgeführt wird, wie dies beispielsweise von der bereits erwähnten Tunnelbaufirma Herrenknecht demonstriert wird, ist hocheffizient; sie erfolgt mit modernster Technologie. Die Produkte des Hauses Herrenknecht sind im Übrigen auch „unschlagbare Exportschlager“: Keine große Firma dürfte eine größere Exportquote haben als Herrenknecht: 95 Prozent des Herrenknecht-Umsatzes von inzwischen fast 1,5 Milliarden Euro wird im Ausland realisiert.5

Doch die damit erstellten Tunnelbauten sind überwiegend fragwürdig. Selbst im Fall des viel gerühmten neuen Gotthard-Basistunnels – Herrenknecht war bei dessen Bau engagiert – sind kritische Kommentare angebracht.6 Viele neu projektierte Tunnel sind unnötig, stellen eine Verschwendung von Steuergeldern dar, so im Fall des Brenner-Basistunnels – auch hier ist Herrenknecht engagiert. Oft sind diese Projekte sogar schienenverkehrsbehindernd; in jedem Fall zerstören sie Orte und Landschaften – so im Fall der vielen Tunnel auf der Neubaustrecke Wendlingen – Ulm und im Fall der Stuttgart 21-Tunnel.7

Gelegentlich wird die Philosophie dieser Projekte auch offen auf den Punkt gebracht, so wenn jüngst der Autor eines zweiseitigen Beitrag über den Brennerbasistunnel zum Schluss kam: „Letztlich wird man wohl erst nach der Fertigstellung wissen, ob die neue Tunnelröhre eine gute Idee war.“8 Das ist just die Methode, wie sie beim Projekt Stuttgart 21 zur Anwendung kommt: Drauf los bauen und mal sehen, ob es passt, was daraus wird, wie Natur, Umwelt und Klima damit klarkommen.

Doch eine vergleichbare Unsicherheit gab es bei der STUVA-Tagung nicht. So irrational der dort von Kefer skizzierte zukünftige Tunnelbauwahn erscheint, die Projekte selbst sind real und in sich teilrational. Dieselbe STUVA e.V. veröffentlicht seit 1978 Jahr für Jahr eine Statistik zu den in Bau befindlichen und zukünftig geplanten Tunnelbauten auf (oder besser unter) deutschem Boden. Diese Statistiken werden in der deutsch-englischen Publikation des Vereins mit dem schlichten Titel „Tunnel“ regelmäßig veröffentlicht. In der letzten, für dieses Buch verfügbaren Jahresbilanz 2015/16 wird festgehalten: Es gab zum Jahreswechsel 2015/16 in Bau befindliche Verkehrstunnel mit einer gesamten „Auffahrlänge“ von 175,209 Kilometern Länge; davon entfielen allein auf die Eisenbahntunnelbauten („Fernbahntunnel“) 121,117 km. Weitere 16,767 km entfielen auf U-und Stadtbahntunnel. Die zu diesem Zeitpunkt in Bau befindlichen Straßentunnel hatten nur eine Länge 37,325 km Länge.9 Damit lag allein der Anteil der Fernbahntunnel an allen Verkehrstunneln bei 69,2 Prozent. Der Anteil aller Schienenverkehrstunnel (also Fernbahn- und U-Bahn und Stadtbahntunnel) lag bei 78 Prozent.10

Anders formuliert: Die zum Jahreswechsel 2015/16 in Bau befindlichen Straßentunnel machen nur einen Anteil von 22 Prozent aus – und dies, obgleich der Straßenverkehr am gesamten, für unseren Vergleich relevanten Verkehrsmarkt von Straße und Schiene addiert einen Anteil von weit mehr als 90 Prozent hat. Natürlich gilt es hier zu beachten, dass Schienenverkehre traditionell und technisch bedingt, verglichen mit dem Straßenverkehr, einen höheren Anteil an Tunneln aufweisen. Wir haben es jedoch mit einem weitgehend gleichbleibend großen Schienennetz – im längerfristigen Vergleich sogar mit einem schrumpfenden Netz – bei gleichzeitig wachsendem Tunnelbauten-Anteil zu tun, während das Straßennetz kontinuierlich weiter ausgebaut und verlängert wird und dort der Anteil der Tunnelbauten stagnierend, teilweise sogar rückläufig ist.

In der STUVA-Statistik wird mehrfach hervorgehoben: „Der Schwerpunkt des innerstädtischen Bahntunnelbaus […] liegt in Stuttgart. […] Von den derzeit laufenden Baumaßnahmen (von insgesamt 121 km Fernbahntunnel) entfallen gut 46 km auf das Großprojekt ´Bahnknoten Stuttgart – Ulm´ und ca. 58 km auf die NBS [Neubaustrecke; W.W.] Wendlingen – Ulm.“11 Der Artikel erwähnt im Übrigen noch die Tunnelbauten auf der Rheinbahn und innerhalb der Stadt Karlsruhe (Projekt „U-Strab“), um dann zu bilanzieren: „Schwerpunktmäßig finden derzeit drei Viertel des bundesweiten Verkehrstunnel-Bauvolumens im Bundesland Baden-Württemberg statt.“12

Die STUVA-Statistik enthält auch eine Darstellung der langfristigen Entwicklung der Tunnelbauten bei allen Verkehrsanlagen. Als Start der Betrachtung wird interessanterweise das Jahr 1995 gewählt; es handelt sich hier um das erste Jahr nach der Bahnreform. Endpunkt ist der Jahreswechsel 2015/16. Dargestellt werden der „Vergabeverlauf“ des gesamten Volumens aller „Verkehrstunnel bezogen auf die Auffahrlänge“. Hier ergibt sich ein weitgehend stabiles Bild von rund 30 Kilometern pro Jahr neu vergebene Tunnelbauten (bei Verkehrsanlagen), wobei getrennt ausgewiesen werden (1) Fernbahntunnel, (2) U- und Stadtbahntunnelbauten und (3) Straßentunnel.13 Feststellbar ist dabei ein deutlicher, langfristiger Rückgang des Anteils der Straßentunnel, ein eher niedriger und in jüngerer Zeit rückläufiger Anteil der U- und Stadtbahntunnel, was offensichtlich eine Folge der Krise der Kommunen ist, und ein deutlicher Anstieg des Anteils der Fernbahntunnel. Dabei gibt es einen extremen Ausschlag ab dem Jahr 2011: Das Volumen für Tunnelbauten schnellt ab diesem Jahr nach oben, ausschließlich bedingt durch die neuen Vergaben für Fernbahntunnelbauten, was wiederum zu mehr als 90 Prozent auf Stuttgart 21 und die Neubaustrecke über die Schwäbische Alb zurückzuführen ist.

Erwähnt wurde bereits die „Teilrationalität“ beim Tunnelbau selbst. Die jüngste STUVA-Tunnelbaubilanz hält fest: „Damit stellen erstmalig in dieser Statistik [die in diesem Fall bis 1978 zurückreicht; W.W.] die maschinellen Vortriebe den überwiegenden Anteil am Bauvolumen im Bereich Fernverkehr.“ Bei der reinen Tunnelbautechnik gab es ohne Zweifel enorme Fortschritte; zunehmend erledigen Maschinen die beschwerliche und gefährliche Arbeit von Menschen. Die Heilige Sankt Barbara bzw. ihre irdischen Stellvertreterinnen wie Frau Gerlinde Kretschmann sind seltener als in früheren Zeiten als Trösterinnen gefragt.

Ein letzter Blick auf die Tunnelbaustatistik. Diese liefert auch einen Ausblick auf zukünftige Tunnelbauprojekte. In dieser Branche wird der Spruch, man sehe Licht am Ende des Tunnels, eher als ein düsterer Blick auf ein Ende eines lukrativen Auftrags verstanden. Doch für Nachschub ist gesorgt. Laut STUVA-Ausblick wird in Bälde der Schwerpunkt, den bislang im Tunnelbau Stuttgart 21 und die Neubaustrecke über die Schwäbische Alb bilden, abgelöst durch den Tunnelbau in – oder unter – München. Darauf wird im Schlusskapitel zurückzukommen sein.

Tunnelmania und Männlichkeitswahn

Beim Großprojekt Stuttgart 21 spielen irrationale Aspekte, die einiges mit Psychologie – mit Machbarkeitswahn und männlichen Machtphantasien – zu tun haben, eine nicht unwichtige Rolle. In einem aktuellen Artikel in der „Stuttgarter Zeitung“, überschrieben mit „Zweiten Tunneldurchschlag“, wird wie folgt berichtet: „Sein [Martin Wittkes; W.W.] Vater, Walter Wittke, war ebenfalls beim Durchstich dabei – und konnte nebenbei seinen 83. Geburtstag auf der Baustelle feiern.“ Es handelt sich hier um den Firmenchef der Firma WBI, die die Deutsche Bahn bei S21-Projekt beim Tunnelbau berät. Über denselben Martin Wittke heißt es an anderer Stelle: „Er [Walter Wittke; W.W.] wandert zwar leidenschaftlich gerne, lieber als oben auf dem Gipfel ist er aber unten im Berg.“14

Die „Tunnelmania“, die hier aufscheint, sollte gründlich, auch psychoanalytisch, unter die Lupe genommen werden.

Die Tunnelpatronin, die Heilige Barbara, ist offenkundig weiblichen Geschlechts. Das Bohren im Berg war Jahrhunderte lang in Deutschland und ist auch heute noch in vielen Ländern der Welt ausschließlich Männersache. Frauen im Tunnel während der Arbeit der Mineure sind in der Regel unerwünscht; ihre Anwesenheit könnte Unglück bringen. Noch 1994 berichtete das Deutsche Forschungs-Magazin „Geologie-Studentinnen durften bei einer Bergwerksbesichtigung nur in den Lehrstollen und nicht in den Hauptstollen, da ´das Einfahren von Frauen in eine Zeche Unglück brächte´, wie der zuständige Grubenleiter glaubte.“15

Die Erde wird als weiblich imaginiert; Männer müssen allein im Stollen oder Tunnel arbeiten. Zumal mit dem gigantischen Bohrkopf ein „Erektor“ zum Einsatz kommt, der „die Ausbruchslaibung auskleidet und abdichtet.“16 Kommen Frauen hinzu, so grollt die Erde bzw. die Berggöttin wird eifersüchtig; es droht ein Unglück.

Das ist keine Esoterik und keine Küchen-Psychologie. Diese Art psychologisierenden Grundvorstellungen schlagen sich sogar in Gesetzestexten nieder. In Artikel 2 der Vereinbarung der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) von 1935 wurde festgelegt: “No female, whatever her age, shall be employed on underground work in any mine. („Keine Frau, welchen Alters auch immer, soll unter Tage in einem Bergwerk arbeiten“). Die Bundesrepublik Deutschland hat dieses Abkommen erst 2008 gekündigt. Dass es hier darum gehen würde, Frauen vor harter Arbeit zu schützen, ist absurd. Rund ein Jahrhundert lang war Bergwerksarbeit zu einem erheblichen Teil die Arbeit von Frauen und Kindern – auch, weil deren schlankere Körper den Bau größerer Stollen ersparten.

Lord Randolph, der Vater von Winston Churchill, verfasste 1899 eine Stellungnahme gegen den Bau einer Tunnelverbindung zwischen Frankreich und England, in der der unterstellte weibliche Charakter der Untergrundes nochmals skurriler und wie folgt thematisiert wurde: „Das Ansehen Englands beruht bis auf den heutigen Tag auf seiner Existenz als intakter Jungfrau (virgo intacta).“17

In Japan gab es bis Ende der 1980er Jahre ein Verbot weiblicher Präsenz in Tunneln während deren Bau und bei Einweihungen von Tunnelbauten. Die Eröffnungsfeier des damals längsten Tunnels der Welt, des 53,9 Kilometer langen Seikan-Unterwasser-Tunnel zwischen den Inseln Honshu und Hokkaido, fand im Jahr 1985 zunächst, und damit traditionell, ohne Frauen statt. Als es wegen dieser geschlechtsspezifischen Einschränkung zu heftigen Protesten kam, wurde die Feier sechs Monate später wiederholt; nun durften Journalistinnen teilnehmen. Dabei wurde strikt darauf geachtet, dass keine Bauarbeiter sich gleichzeitig im Tunnel befanden und dass für die Feier kein Werktag, also kein potentieller Arbeitstag – an dem die Berggöttin besonders wachsam gewesen wäre – gewählt wurde. Die Frauen erhielten darüberhinaus die Auflage, „nicht in Röcken zu erscheinen.“ Es kam zu keinem Unglück; der Tokioter Korrespondent der Deutschen Presse-Agentur (dpa) schrieb damals: „Offensichtlich hatte auch die eifersüchtige Berggöttin ein freies Wochenende genommen.“18

Verwirrend? Verstörend? Ja, ganz offensichtlich!19 Verwirrend und verstörend wirkt die Tatsache, dass die Tunnelbauwut beim Großprojekt Stuttgart 21 und bei vielen vergleichbaren unterirdischen Projekten objektiv irrational ist. Diese hat auch etwas zu tun mit einem Machbarkeitswahn und mit einem zwanghaften Umgang mit der Natur, der ein männlich und machistisch geprägter Wille – „dem Ingeniör ist nichts zu schwör“ – aufgezwungen werden soll. Da wird begradigt, eingeebnet, planiert, untertunnelt, durchbohrt und auf diese Weise das höchst problematische Bibel-Wort „Macht Euch die Erde untertan“ umgesetzt. Eine nachhaltige, Ressourcen, Umwelt und das Klima schonende Umgangsweise mit der Natur muss von einem grundsätzlich anderen Grundverständnis ausgehen. Es war interessanterweise Friedrich Engels, der dies wie folgt auf den Punkt brachte: „So werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, dass wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht – sondern, dass wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehen, und dass unsere ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug zu allen anderen Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können.“20

Der in unserer Gesellschaft im Allgemeinen und bei Stuttgart 21 im Besonderen vorherrschende Machbarkeitswahn kann darin enden, dass ein Großprojekt sich auch höchst konkret am Ende der Bauzeit als ein „unnützes“ herausstellt. Der bereits angeführte gigantische Seikan-Tunnel, der bis zu 100 Meter unter dem Meeresboden verläuft und dessen Bau den Tod von 34 Mineuren gefordert hatte, erwies sich nach seiner Fertigstellung für die ursprüngliche Funktion einer Hochgeschwindigkeitsverbindung zwischen Tokio und Sapporo als nicht mehr sinnvoll. Das Verkehrsaufkommen wird inzwischen zu 95 Prozent im Luftverkehr abgewickelt. In den drei Jahrzehnten 1985 bis 2016 wurde das Bauwerk kaum genutzt (es gab Planungen, es als riesigen Schutzkeller für den Fall eines atomaren Kriegs einzuplanen). Die Unterhaltskosten für dieses grande opera inutile überstiegen allein in diesem Zeitraum die Baukosten deutlich. Seit dem 26. März 2016 verkehrt nun doch ein Hochgeschwindigkeitszug, der Hokkaidō-Shinkansen, durch den Tunnel; allerdings nur auf einem Teilabschnitt. Eine Auslastung, die die Baukosten und den Aufwand auch nur annähernd rechtfertigen würde, wird wohl nie erreicht werden.21

Dieser Beitrag wurde im Mai 2017 für interne Debatten im Rahmen der Arbeit von Sabine Leidig, damals MdB der LINKEN, verfasst. Er wird hier erst-veröffentlicht. Er basiert vor allem auf einer WW-Buchveröffentlichung aus den 1990er Jahren.

Anmerkungen:

1 Siehe: http://www.bahnprojekt-stuttgart-ulm.de/ueber-uns/db-projekt-stuttgart-ulm/

2 Ebenda, S. 18.

3 Die von Kefer referierte Zahl von 492 Tunnel mit einer Länge von 492 km traf für das Jahr 2012 zu. 2016 waren es bereits 708 Tunnel mit einer Gesamtlänge von 537,7 Kilometern. Daten und Fakten 2016, Deutsche Bahn AG.

4 Bei Amtsantritt von Grube und Kefer 2009 verfügte DB Netz über ein Schienennetz mit einer Betriebslänge von 33.721 km; Ende 2016 waren es 33.380 km. Die Gleislänge betrug 2009 63.914 km; Ende 2016 waren es noch 60.780 km. Nach: Jeweilige Ausgaben von Daten und Fakten; Deutsche Bahn AG.

5  Susanne Preuss, Tunnelbauer mit Nachdruck, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. August 2016.

6 Der Gotthard-Basistunnel hat gegenüber anderen Tunnelbauten (wie dem Brenner-Basistunnel) zweifellos einen Pluspunkt. Er ist wesentlich das Ergebnis eines Volksentscheids, der wiederum mit einer Verfassungsänderung verbunden war: In Zukunft soll es in der Schweiz pro Jahr maximal 650.000 Lkw im Transit (also alpenquerend) geben; ein großer Teil des bestehenden Lkw-Transitverkehrs soll auf die Schiene verlagert werden. Allerdings gilt es inzwischen als sicher, dass diese Ziele nicht erreicht werden. Der Lkw-Transit durch die Schweiz wurde in den vergangenen 15 Jahren derart stark gesteigert, dass es rein technisch nicht gelingen kann, diesen Verkehr auf die Schiene zu verlagern. Zwar kann möglicherweise die Obergrenze bei der Zahl der Lkw im Transit eingehalten werden, aber die Größe und das Gewicht dieser Lkw nahmen bereits in den vergangen Jahren erheblich zu – und damit auch die Umweltbelastungen. Die Erpressung der Schweiz durch die EU, den „freien Warentransport“, zu gewährleisten, ist allgegenwärtig.

7 Viele der neuen Tunnelbauten dienen in erster Linie dem stark wachsenden Güterverkehr. Dieser wiederum ist vor allem ein Produkt einer Globalisierung, bei der regionale Wirtschaftskreisläufe zerstört und globale „produziert“ werden. Die „Transportintensität“ aller Waren hat sich in den letzten 35 Jahren rund verdoppelt: In einem Produkt ein und derselben Qualität stecken heute doppelt so viele Transportkilometer wie vor dreißig Jahren – Kilometer, die auf Schienen, Straßen, per Schiff und z. Tl. in der Luft zurückgelegt werden. Es handelt sich also nicht primär darum, dass begehrte Güter, die am Ort ihres Konsums oder in der entsprechenden Region, nicht hergestellt werden könnten, zur Kundschaft gelangen. Vielmehr geht es darum, dass die Vielfalt von Branchen, die es z.B. in Europa früher gab, zerstört wird zugunsten der Konzentration solcher Wirtschaftszweige auf einzelne Orte in der Welt, an denen am preiswertesten produziert wird. Die Transportkosten fallen damit immer weniger ins Gewicht – weil alle Verkehrsarten massiv subventioniert werden, weil gigantische Airports, neue, verbreiterte Kanäle (Panama; Suez) entstehen, weil gigantische Tunnelbauten erstellt, Flüsse vertieft (Elbe) werden und immer größere Transportmittel (20.000-TEU-Containerschiffe, Gigaliner) unterwegs sind usw. Die realen Kosten dieser Transporte trägt die Allgemeinheit bzw. sie sind in der Zerstörung von Natur und Klimaerwärmung „enthalten“. Das jeweilige Produkt selbst – ein Smartphone, ein Bildschirm, Früchte, Gemüse, Blumen, Wein aus Übersee, ein Kleid von Primark usw. – hat einen absurd niedrigen Preis. Im Sinne von Nachhaltigkeit müsste eine erste verkehrspolitische Forderung darin bestehen, die Transportinflation massiv zu reduzieren – durch Auflagen und erhebliche Verteuerung der Transportkosten, was heißen würde, die realen Kosten in die Transportpreise zu integrieren. Dadurch würden regionale Wirtschaften gestärkt und wiederbelebt und Arbeitsplätze neu geschaffen werden. Siehe Winfried Wolf, Verkehr. Umwelt. Klima – Die Globalisierung des Tempowahns, Wien 2009, S. 272ff (zu Globalisierung und Transport), S. 257ff (zu Alpentransit) und S. 330ff (zu den tatsächlichen Transportkosten).

8 Robert Gast, Das große Bohren, in: Süddeutsche Zeitung vom 6. Februar 2016. Um nur einen Teilaspekt der zerstörerischen Tendenz, die mit dem Brenner-Basistunnel verbunden ist, mit einem Zitat aus diesem Artikel zu erwähnen: „Insgesamt werden bei dem Projekt etwa 17 Millionen Kubikmeter Schutt [gemeint ist Gestein und Erde usw.; W.W.] anfallen. Aufgehäuft ergäbe das sieben Cheops-Pyramiden. Die Planer wollen das Material so unauffällig wie möglich deponieren. Bei Steinach werden die Brocken in ein Seitental gekippt, am Ende wird dieses 70 Meter hoch gefüllt sein. Um die Deponie im Padastertal anlegen zu dürfen, musste die Planungsgesellschaft extra den Bach umleiten, der durch das Tal plätschert. Einen 1500 Meter langen Umleitungsstollen haben die Ingenieure dafür gebaut.“

9 Angaben nach: Martin Schäfer, STUVA e.V., Tunnelbau in Deutschland: Statistik 2015/2016, in: Tunnel 8/2016.

10 Nimmt man als Maßstab das „Ausbruchsvolumen“ so ergeben sich interessanterweise weitgehend ähnliche Relationen.

11 Tunnel, a. a. O., S. 13. Hier werden die beiden Projekte sinnvollerweise noch getrennt aufgeführt.

12 Ebenda, S. 14. Hervorgehoben von W.W.

13 Es gibt auch eine Definition, wie groß ein unterirdisches Bauwerk sein muss, um in den Genuss des Titels „Tunnel“ zu kommen: „Erfasst werden nur solche Tunnel- und Kanalbauwerke, die einen begehbaren oder bekriechbaren Ausbruchsquerschnitt, das heißt einen lichten Mindestdurchmesser von 1000 mm bzw. unter Einbeziehung der Rohrwandung mindestens einen Ausbruchsquerschnitt von etwa einem Quadratmeter aufweisen.“ Ordnung muss sein! In: Tunnel 8/2016, S. 8.

14 Bezug. Das Projektmagazin, März 2017, S. 9.

15 Deutsches Forschungs-Magazin Nr. 12, S. 5.

16 https://de.wikipedia.org/wiki/Tunnelbohrmaschine

17 Peter Haining, Eurotunnel. An Illustrated History oft he Channel Tunnel Scheme, Folkestone 1989, S. 13. Das damals von der ÖBB herausgegebene Magazin Eurocity titelte anlässlich der Eröffnung des Eurotunnels: “Wie ein Inselvolk endlich seine Jungfräulichkeit verliert.” Eurocity, Zeitschrift der Österreichischen Bundesbahnen ÖBB, 1/1991.

18 Frankfurter Rundschau vom 22. Februar 1988; Der Spiegel 39/1994.

19 Der Autor erlebte als MdB bei einem Besuch einer Bundestagsdelegation in der Tschechischen Republik im Jahr 1999, wie Mineure fluchtartig einen in Bau befindlichen Straßentunnel verließen, als die deutsche Delegation dort – im Tunnel selbst – auftrat. Der Grund: Es gab zwei weibliche Bundestagsabgeordnete in der Delegation. Die ersten Erfahrungen mit dem Tunnelbauwahn bei Stuttgart 21 veranlassten mich, 1996 ein kleines Buch mit dem Titel „Tunnelmania – Licht und Schatten im Untergrund“ herauszubringen (Köln 1996, ISP-Verlag). Die Autoren waren Jan Gympel, Ivo Köhler, Konrad Koschinski, Bernhard Strowitzki und Winfried Wolf. Dort kam auch Sigmund Freud zu Wort.

20 Friedrich Engels, Dialektik der Natur, Marx-Engels-Werke (MEW) Band 20, S. 453. Ich schreibe, das Engels-Zitat sei „interessant“, weil dem Marxismus in der vorherrschenden Wahrnehmung eine Technikgläubigkeit und auch ein Fetischismus hinsichtlich des „technologischen Fortschritts“ zugesprochen wird. Dies trifft zweifellos auf die (mehrheitliche) deutsche Sozialdemokratie seit Ende des 19. Jahrhunderts und in fürchterlichem Maß auf den Stalinismus, also auf die Sowjetunion ab den 1930er Jahren, zu. Auf Marx und Engels trifft dies nicht zu (schon gar nicht auf den „frühen Marx“ (siehe die „Pariser Manuskripte) und auf den „späten Engels“ (siehe das Zitat oben).

21 Zunächst ist nur der Abschnitt zwischen Shin-Aomori und Shin-Hakodate-Hokuto in Betrieb, später soll die Shinkansen-Strecke bis Sapporo verlängert werden.

Über Winfried Wolf

Winfried Wolf war Chefredakteur von Lunapark21. Er veröffentlichte zum Thema Verkehr seit 1986 („Eisenbahn und Autowahn“); zuletzt: „Abgefahren! Warum wir eine neue Bahnpolitik brauchen“ (zusammen mit Bernhard Knierim; Köln 2019)..

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