Das »Handelsblatt« schlägt Alarm: Nachtzüge seien umweltfreundlich, »aber nicht rentabel und unbequem«:
Das Verdikt »unbequem« fällt beim Lesen schneller in sich zusammen als man sich in ein Schlafwagenbett gelegt oder in der zum Abteil gehörenden Dusche das Wasser aufgedreht hat: es bezieht sich ausschließlich auf den ärgerlichen Umstand, dass wegen der Lieferverzögerungen bei den neuen Fahrzeugen die ÖBB sich gezwungen sahen, alles auf die Reise zu schicken, was Räder hat – daher es gibt so gut wie keine Reserven mehr. Da wird es dann leider auch mal ein Großraumwagen statt eines Sitzwagens mit Abteilen, oder es erfolgt ein Downgrade von Schlaf- zu Liegewagen.
Schuld daran ist laut ÖBB Siemens. Der Hersteller habe es nicht geschafft, 33 neue Nightjet-Züge pünktlich zu liefern. Die ersten Züge werden erst ab diesem Dezember im Einsatz sein, geplant war die Inbetriebnahme ein Jahr früher.
Hauptthema des Artikels ist die mangelnde Rentabilität. Und hier wird es – leider auch unter Einbeziehung des Verkehrswissenschaftlers Thomas Sauter von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften – irreführend.
Lassen wir mal die Frage, ob ein Mobilitätsangebot, das in Deutschland Verfassungsrang hat und damit zur Daseinsvorsorge gehört, überhaupt Profit abwerfen muss, zunächst außen vor. Das Handelsblatt schreibt:
Von den Skaleneffekten, die eine Fluggesellschaft erzielt, können die ÖBB beim Nachtzug nur träumen. Dessen Betten, Liegen und Sitze können innerhalb von 24 Stunden meist nur einmal verkauft werden, sodass sich lediglich 250 Passagiere befördern lassen. Während des Tages stehen die Züge unbenutzt auf dem Abstellgleis. Ein Flugzeug legt in dieser Zeit eine Kurzstrecke mehrmals zurück und transportiert ohne Weiteres mehr als 1000 Personen.
Der Nachtzug ist also kein Massenverkehrsmittel. Zumal er bei der Effizienz nicht nur von den Airlines übertroffen wird, sondern auch von den tagsüber verkehrenden Hochgeschwindigkeitszügen – wenn es sie denn gibt.
Ein Nachtzug ist diesem Text zufolge also ein Gebilde, das »lediglich 250 Passagiere« befördern kann. Diese Zahl ist viel zu niedrig angesetzt, denn jeder Sitzwagen eines Nachtzuges hat Platz für rund 60 Reisende, bei den Liegewagen sind es je nach Komfortstufe 40 bis 60, und die Schlafwagen, die von der DB übernommen wurden, haben 36 Betten in 12 Abteilen. Hinter einer Lok hängen bis zu 14 Wagen, im Normalfall sind das 4 Sitzwagen (240 Plätze), 6 Liegewagen (rund 300 Plätze) und 4 Schlafwagen (rund 140 Plätze), also etwa 680 Plätze – mehr als das Zweieinhalbfache der angegebenen Zahl. Ich verweise hier auch auf meinen Blogbeitrag #77.
Die Angabe »250 Passagiere« bezieht sich möglicherweise auf die Zahl der Reisenden, die in einem ausgebuchten Nachtzug unterwegs ist, wenn man unter Nachtzug einen »Halbzug«, nämlich eine Kursgruppe aus 2 Sitz-, 3 Liege- und 2 Schlafwagen, versteht und dann davon ausgeht, dass deren rund 340 Plätze von weniger als 340 Personen belegt werden, weil zum Beispiel eine Verkehrsministerin ein Schlafwagenabteil (3 Betten) per Single-Buchung für sich alleine nutzt oder die vierköpfige Familie ein ganzes Liegeabteil bucht und auf der 5. und 6. Liege das Gepäck ausbreitet.
Das ist der alte, schon längst kritisierte und widerlegte Rechentrick der DB, mit dem sie suggerieren wollte, die Auslastung eines Nachtzuges sein geringer als die Auslastung eines ICE.
Da aber das Handelsblatt von »Betten, Liegen und Sitzen« und von der Anzahl der Personen, die sich damit befördern lassen, spricht ist die Zahl 250 irreführend. 340 oder zumindest, wenn man ein paar Sonderabteile abzieht, 320 Passagiere hätten genannt werden müssen.
Sodann hätten diese gut 300 Passagiere verdoppelt werden müssen, weil ja der Lokführer nicht nur 7, sondern 14 Wagen hinter sich hat: Dass ein Lokführer bis zu 680 Passagiere befördert, während beim Kurzstreckenflug 2 Piloten nur 120 bis 200 Sitzplätze hinter sich haben, ist ein Skaleneffekt zugunsten des Zuges, der in diesem Artikel gepflegt unterschlagen wird.
Weiter: Wenn ein Kurzstrecken-Flugzeug binnen 24 Stunden »mehr als 1.000 Personen« transportiert, dann geht es um Maschinen mit 120 bis 200 Plätzen, die 5 bis 10 Reisen pro Tag unternehmen: Strecken wie Hamburg-München, Stockholm-Göteborg, London-Amsterdam – aber auch Frankfurt-Nürnberg oder Düsseldorf-Amsterdam, also Verbindungen, bei denen der Start fast direkt in die Landung übergeht.
Der Nachtzug legt aber durchaus 1.000 oder 1.300 km zurück, macht also bei der für die Beförderungsleistung maßgeblichen Kennziffer »Personenkilometer« Boden gut.
Und dann ist ein Zug eben nicht nur eine Verbindung vom Startbahnhof zum Zielbahnhof, sondern auch von jedem Bahnhof dazwischen zu jedem Bahnhof dazwischen. Nehmen wir mal den im letzten Winter eingeweihten Nachtzug von Stuttgart nach Venezia Santa Lucia (NJ 237, 15 Halte ab Stuttgart) mit einer Kursgruppe nach Budapest (EN 50237, 10 weitere Halte nach dem Rangierknoten Salzburg), einer Kursgruppe nach Zagreb (EN 40237, 15 Halte nach Salzburg) und einem Kurswagen nach Rijeka (EN 60237, 7 Halte nach dem Knotenbahnhof Ljubljana). Dieser Zug bietet Hunderte von verschiedenen Verbindungen, wenn man nur die für Schlaf- oder Liegewagenbuchungen relevanten Kombinationen berücksichtigt – und wenn man hinzunimmt, dass man im Sitzwagen auch von Göppingen nach Ulm, von Linz nach Wien oder von Udine nach Treviso fahren kann, kommt man wahrscheinlich auf Tausende von Direktverbindungen.
https://www.vagonweb.cz/razeni/vlak.php?zeme=DB&kategorie=EN&cislo=60237/@&nazev=&rok=2023
Wie viele Flüge ersetzt also so ein Nachtzug? Mehr als die 5 oder 10, die als Vergleich genommen werden, um sich mit der Reisendenzahl beim Flieger zu brüsten.
Dann darf natürlich der klassische Vorwurf nicht fehlen: „Während des Tages stehen die Züge unbenutzt auf dem Abstellgleis.„
Das ist eine komische Definition von »Tag«. Wenn ein Nachtzug wie im Fall des Stockholm-Zuges der SJ um 9:46 in Stockholm ankommt und um 17:34 wieder abfährt, dann hat der »Tag« auf dem Abstellgleis netto weniger als 7 Stunden.
Bei der DB hatten wir Nachtzüge, bei denen das »während des Tages« sich auf weniger als 4 Stunden beschränkte: Hamburg-Venezia, Hamburg-Rijeka. Im Blogbeitrag #82 schrieb ich bereits über Nachtzüge, die bereits um 14 Uhr abfahren.
Das umgekehrte Argument, Flugzeuge stünden an Orten mit Nachtflugverbot nachts unbenutzt auf dem Rollfeld, habe ich noch nie gehört. Und wenn man erst die effektive Flugzeit binnen 24 Stunden als Maßstab nehmen würde …
Man sieht: So etwas sind Vergleiche, die sehr stark hinken. Daher sollte man auch nicht den Nachtzügen das zum Vorwurf machen, was sie auszeichnet: sie schließen die Lücke zwischen den »tagsüber verkehrenden Hochgeschwindigkeitszügen«. Ich habe schon öfters darauf hingewiesen, dass die ersten Tageszüge erst dann am Zielort ankommen, wenn die Vorlesung, die Konferenz oder das Vorstellungsgespräch schon vorbei sind. Der erste TGV aus Barcelona erreicht Paris um 17:18 Uhr – da sind alle Messen, die Paris wert ist, schon gelesen. Und am Vortage fahren? Das wäre eine Abfahrt um 16:10 Uhr, wobei man Paris zu einer Zeit erreicht, zu der die Metro allmählich die Bahnsteige hochklappt.
Da fehlt schlicht und ergreifend ein Nachtzug, der um 22 Uhr abfährt und um 8 Uhr ankommt. Damit hat er seinen Zweck erfüllt. Und es ist bei ganzheitlicher Betrachtung des Systems Transport absolut fehl am Platze, von jedem einzelnen Element eines Systems eine »Profitabilität« zu verlangen, bei deren Berechnung man die Systemeffekte systematisch ausblendet.