5. Prinzip Hoffnung: Wie sieht »übermorgen« eine nachhaltige Verkehrswelt aus?

Letzter Teil des fünfteiligen Beitrags zur Rolle der Kirchen für eine umweltorientierte Verkehrspolitik. Hier geht es zu Teil 1 und Teil 2 und Teil 3 und Teil 4

Szenarien über ferne Zukünfte sind gewagt. Zu viele Randbedingungen können sich ändern. Nicht alle gerade wahrnehmbaren Trends werden andauern. Gerade die Kirchen befassen sich aber im theologischen Sinn immer wieder mit »Endzeitfragen«, dem Paradies als Hoffnungshorizont und Erlösungsperspektive. So gesehen sollten die Kirchen sich an solchen weniger technischen als vielmehr sozial-ethischen Zukunftsentwürfen versuchen.

Autonom fahrende Autos und Busse: Große Hoffnungen werden derzeit in selbstfahrende, autonome Autos gesetzt. Ob diese positive oder ambivalente oder negative Wirkungen auf die Verkehrsentwicklung haben, ist mangels praktischer Erfahrungen nur spekulativ mit Analogien zu beantworten und hängt sicher stark von den staatlichen Rahmensetzungen ab. Es kann zu einem viel höheren Anteil sogenannter »öffentlichen Autos« führen und so die individuelle, private Motorisierung drastisch reduzieren. Oder alle fossilen Autos werden durch autonome Elektroautos ersetzt, die dann endlos Leerfahrten machen, wegen fehlender Parkplätze. Autonome Kleinbusse können ländliche Gebiete, die bislang oft ohne öffentlichen Verkehr sind, perfekt anbinden. Der autonome Dorfbus wird dann der Regelfall. Ähnliches gilt für die quartiersinterne Nahmobilität, die mit autonomen Kleinbussen ebenfalls sehr viel besser als bisher bedient werden kann.

Ob also die neue Technik ein Fluch oder Segen wird, hängt sicher davon ab, wie diese neue Mobilitätsform geregelt wird. Wie viele autonome Autos sind verträglich? Wo und wann dürfen sie fahren? Wo werden sie abgestellt? Und wie schnell dürfen sie fahren? Elon Musk träumt von autonomen elektrischen Sportwagen. Alternative Verkehrsszenarien wünschen sich leichte Kleinwagen mit minimaler Höchstgeschwindigkeit, die innerorts maximal 20 km/h fahren dürfen. Das wäre dann eine flächenhafte Verkehrsberuhigung »durch die Hintertüre«. In solchen Fragen der Zukunftsgestaltung müssen sich die Kirchen engagiert einmischen.

Akku-Technik für die E-Mobilität: Derzeit ist die E-Mobilität in aller Munde. Aber sie wird die meisten Autoverkehrsprobleme nicht lösen. Denn ein elektrischer Stau ist kaum besser als ein fossiler, 100 E-Autos brauchen genauso viel Platz wie 100 fossile. Und ein tödlicher E-Unfall bleibt schlimm. Also geht es nicht nur um einen Austausch der Motoren, sondern darum, ob mit E-Autos die Verkehrswelt neu gestaltet werden kann, mit viel weniger und viel leichteren Fahrzeugen und ohne die bisherigen Privilegien für Autos. Die größte Verbreitung hat bislang die E-Mobilität bei Fahrrädern mit Hilfe der sogenannten Pedelecs. Sie verbessern dramatisch die Leistungsfähigkeit und das Image von Fahrrädern. Und sowohl in China als auch in Europa verändern sie massiv die Wahrnehmung und Nutzung des Lastfahrrades als vollwertiges Transportmittel für die Wirtschaft (Handel, Handwerk, Speditionen, Post).

E-Mobilität für Busse und Bahnen: Sehrsinnvoll ist E-Mobilität bei Bussen und Bahnen. Sei es konventionell mit Oberleitungen, deren Netz weiter ausgebaut werden muss. Sei es als Elektrotriebwagen und Elektrobussen auf Basis leistungsfähiger Akkus. Beides bietet neue Chancen für einen breiten Netzausbau und einen lärmarmen ÖPNV. Mit elektrischen Mini- und Midibussen kann man flächendeckend einen attraktiven Öffentlichen Verkehr organisieren.

Internet verändert viel: Großen Einfluss wird auch das Internet auf die Mobilität haben, weil es jederzeitige, echtzeitbasierte Informationen über verfügbare Verkehrsmittel, deren Fahrpläne und Tarife vermitteln kann inclusive Buchung und Bezahlung. Aus jedem Mobilitätsteilnehmer, der mit einem Kfz unterwegs ist, kann ein potenzieller Anbieter einer bezahlten Mobilitätsdienstleistung werden, um seine freien Plätze besser zu nutzen und seine Mobilitätskosten durch Teilen zu verringern. Und aus jedem Mobilitätsteilnehmer ohne eigenes Kfz kann ein potenzieller moderner »digitaler Tramp« werden, der mitgenommen wird.

Wertewandel ändert Konsum- und Verkehrsverhalten: Auch der Wertewandel kann das Konsum- und Verkehrsverhalten erheblich verändern. Wie wichtig ist künftig der Besitz eines Autos? Und werden Autos weniger lustbetont-emotional sondern eher pragmatisch beschafft? Und werden statt eines eigenen Autos die Kfz nur geleast oder über Car-Sharing geteilt? Und gibt es neue Einstellungen gegenüber dem Fahrrad als Verkehrsmittel? Welche Rolle spielen Umwelt- und Gesundheitsfragen in der Verkehrspolitik und bei den Einstellungen der Verkehrsteilnehmer? Die weltweite »Fridays for future«-Bewegung dokumentiert jedenfalls einen neuen Schwung in der Umweltdebatte, von dem sich die Kirchen »eine Scheibe abschneiden« könnten, weil sie zwar in Taizé und seinen kirchlichen Jugendtreffen viele Jugendliche mobilisiert, aber trotz der langen Tradition keine vergleichbar eindrucksvolle Fokussierung auf die Umwelt- und Klimathemen schafft.

Demographischer Wandel ändert Verkehrsbedürfnisse: Auch der demographische Wandel verändert den Mobilitätsbereich. Wo der öffentliche Verkehr primär schülerfixiert aufgebaut und finanziert wird, bekommt er durch den Geburtenrückgang eine essentielle Krise. Wo umgekehrt immer mehr Betagte und Hochbetagte mit erheblichen Einschränkungen ihrer motorischen und sensorischen Beweglichkeit konfrontiert werden, ist eine individuelle Autonutzung oder auch Fahrradnutzung kaum mehr möglich. Trotzdem wollen auch diese Mobilitätseingeschränkten an der Mobilität teilnehmen, brauchen Kontakte, müssen sich versorgen. Hier gewinnt ein altengerechter, kleinteiliger, barrierefreier öffentlicher Verkehr eine ganz neue Bedeutung.

Wirtschaftlicher Strukturwandel ändert Verkehrsvolumen und Verflechtungen: Auch der wirtschaftliche Strukturwandel verändert die Mobilität. Je nach Produktionsstrukturen (wie dezentral, wie kleinteilig vernetzt, mit welchen Arbeitszeitregelungen und Arbeitsmarktchancen) ergeben sich sehr verschiedene Verflechtungen und Transportvolumina und Distanzen. In der Tendenz nehmen die Transportvolumina aus der Schwerindustrie immer weiter ab, stattdessen gewinnen die eher kleinteiligen und kleinvolumigen Konsumgüter und die typischen Transporterfordernisse der digitalbasierten Dienstleistungsgesellschaft (Amazon, eBay) eine wachsende Bedeutung. Der online-Handel verringert zwar die Einkaufswege der Konsumenten, führt aber zu einer starken Zunahme der Lieferfahrten. Dafür braucht man also passende Logistikkonzepte, um die Strukturen effizienter zu machen. Kirchliche Gebäude können beispielsweise als Mobilitätshubs und Logistikknoten genutzt werden, wegen ihrer Dezentralität und Omnipräsenz (»Lass die Kirche im Dorf!«).

Zukunft der Autowirtschaft: Ganz besonders herausgefordert ist die Autowirtschaft, die in den westlichen Ökonomien bislang eine wichtige Rolle spielt, als großer Arbeitgeber und umsatzstarke Branche, in der viel Kapital gebunden ist. Deswegen nimmt die Verkehrspolitik so viel Rücksicht auf die Autowirtschaft und hat große Hemmungen, das Thema Verkehrswende ernsthaft anzugehen. Aber unabhängig von politischen Rahmensetzungen führen die fortschreitende Automatisierung der Produktion mit Robotern (Industrie 4.0) und die starke Reduzierung der mechanischen Teile durch die E-Autos zur massenhaften Freisetzung von Beschäftigten der Autoindustrie. Die Autowirtschaft verliert sowieso ihre bisherige wirtschaftliche Bedeutung und hat durch den langjährigen systematischen Dieselbetrug einen großen Imageschaden erlitten. Wenn Verkehrswende den Ausstieg aus der Massenproduktion von Autos bedingt, wird ihre traditionelle Rolle weiter marginalisiert. Entweder mutiert sie dann zu einer modernen, innovativen Mobilitätswirtschaft mit neuen Geschäftsfeldern im Bereich der Mobilitätsdienstleistungen oder sie wird vom Strukturwandel dezimiert.

Urbanisierung verändert die Mobilität: Und schließlich ändern sich auch die Standort- und Raumstrukturen immer schneller. Weltweit schreitet die Urbanisierung voran. Megacities entstehen heute nicht mehr in der »alten Welt«, sondern vor allem in Asien und Afrika. Der Kontrast zwischen dünn besiedelten Regionen mit Problemen der Landflucht und immer dichter besiedelten urbanen Gebieten wird immer größer. In den urbanen Gebieten kommt daher der Autoverkehr allein schon aus raumstrukturellen Gründen immer stärker an seine Grenzen. In den Megacities gehört die Zukunft den flächeneffizienten und umwelt- und klimaverträglichen Mobilitätsformen mit einem guten »Mix« aus Fuß- und Radverkehr (inclusive Bike-Sharing), öffentlichem Verkehr und Car- und Ride-Sharing.

Die ethische Rolle der Kirchen als kritischer Begleiter der Verkehrspolitik

Entscheidend für die Richtung, in der neue Entwicklungen gehen und damit auch für den Erfolg neue Modelle ist, wie sie von der staatlichen und kommunalen Verkehrspolitik gefördert werden, ob sie als positive Option ernst genommen oder als gefährlicher Irrweg stigmatisiert werden. Neben diesen »amtlichen« Positionierungen spielt aber für die Mobilitätszukunft auch eine große Rolle, wie die großen gesellschaftlichen Akteure »sich aufstellen«. Die Kirchen als große Wirtschaftsunternehmen und große moralische Instanzen mit großen Mitgliederzahlen haben beträchtlichem politischen und gesellschaftlichen Einfluss. Die Kirchen können sich in dieser doppelten Funktion an die Spitze der (Umwelt)Bewegung setzen und den Fortschritt vorantreiben, beispielsweise als Mitglieder in Klimaallianzen.

Eigentlich müssten der Klimawandel und die Energieverknappung allen politischen Akteuren signalisieren, nicht mehr die alten Rezepte anzuwenden, sondern ganz neue Strategien zu entwickeln und neue Bündnisse mit der Umweltbewegung und der kritischen Wissenschaft zu schließen. Das würde lohnen, denn eine Verkehrsentwicklung mit viel weniger Autoverkehr hätte starke Verbesserungen der Gesundheit, Umwelt, Sicherheit und Lebensqualität zur Folge. Noch wird aber in einer autofixierten Politik- und Medienwelt eine Welt mit weniger Autos eher als Horrorszenario kommentiert, mit Metaphern der Steinzeit und des Postkutschenzeitalters.

Die Kirchen können in diesem Prozess durch eine »konzertierte Aktion« im Schulterschluss mit den Umweltverbänden, Gewerkschaften, innovationsbereiten Verkehrsverbänden und vor allem den relevanten Berufsverbänden (Verkehrsjuristen, Verkehrsplanern, Architekten, Städtebauern, Finanzwissenschaftlern, Klima- und Umweltforschern, Medizinern) in ihrer Sonderrolle als einzige weltweit agierende, globalisierte Mitgliederorganisation eine bedeutsame Initiatorenrolle und Multiplikatorenrolle übernehmen.

Literatur:

BUND/Misereor (Hg.) 1996: Zukunftsfähiges Deutschland. Ein Beitrag zu einer global nachhaltigen Entwicklung

Wuppertalinstitut für Klima, Umwelt, Energie u. Energiebüro (2012): Integriertes Klimaschutzkonzept der evangelischen Kirche von Westfalen. Hg. Institut für Kirche und Gesellschaft

Motzkus, A.: Möglichkeiten und Grenzen der räumlichen Planung zur Reduzierung des Verkehrs, Handbuch der kommunalen Verkehrsplanung. Kap. 2.1.2.2

Schwedes, O., Riedel, V.: Autofreies Leben in verdichteten Innenstadtquartieren – Maßnahmen zur Unterstützung von Multimodalität ohne privaten PKW am Beispiel von Berlin. Handbuch der kommunalen Verkehrsplanung. Kap. 2.2.1.2

Reutter, O.: Klimaschutz als Herausforderung für einen zukünftigen Stadtverkehr – Strategien und Größenordnungen zur Minderung der Kohlendioxidemissionen. Handbuch der kommunalen Verkehrsplanung. Kap. 2.3.2.1

Kemming, H., Stiewe, M.: Betriebliches Mobilitätsmanagement – Handlungspotenziale der Kommunen. Handbuch der kommunalen Verkehrsplanung. 2.4.1.2

Becker, U., Rau, A.: Konzept einer nachhaltigen Verkehrsplanung. Handbuch der kommunalen Verkehrsplanung. Kap. 3.1.1.1

Schwedes, O. Möglichkeiten und Grenzen kommunaler Verkehrspolitik. Handbuch der kommunalen Verkehrsplanung. Kap. 3.1.2.1

Reutter, O., Reutter, U.: Autofreie Stadtquartiere im Bestand – ein Vorschlag zur Stadterneuerung. Handbuch der kommunalen Verkehrsplanung. Kap. 3.3.9.3

Über Prof. Dr. Heiner Monheim

(*1946), Geograf, Verkehrs- und Stadtplaner, seit den 1960er Jahren befasst mit den Themen Flächenbahn, Schienenreaktivierungen, Erhalt des IR, S-Bahnausbau und kleine S-Bahnsysteme, Stadt- Umland-Bahnen, neue Haltepunkte, Güter-Regionalbahnen, Bahnreform 2.0, Kritik der Großprojekte der Hochgeschwindigkeit und Bahnhofsspekulation. Details: www.heinermonheim.de

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