rail blog 288 / Joachim Holstein

Digitalisierung als Schikane und Abzocke, Teil 3

Aus Gründen, die für Verbraucher nicht ganz nachvollziehbar sind, propagieren Verkehrsminister Wissing – stopp: er ist Bundesminister für Digitales und Verkehr, in dieser Reihenfolge, bei seinen Vorgängern Dobrindt, Schmidt und Scheuer hieß es noch »für Verkehr und digitale Infrastruktur«, und wir werden ja sehen, bei wem Herr Wissing nach seiner Zeit als Minister anheuern wird – und die Deutsche Bahn den »digitalen Fahrschein«. Aus »was Du schwarz auf weiß besitzt, kannst Du getrost nach Hause tragen« und »was Du als Plastikkarte im Geldbeutel stecken hast, kannst Du getrost bei einer Kontrolle vorzeigen« wird jetzt also ein Artefakt aus Bits und Bytes, das vom Besitz eines Geräts im Wert von mehreren Jahreskarten, das von einer App und laut »Hamburger Abendblatt« sogar von einem funktionierenden Internet abhängt. Ganz schön viele Voraussetzungen und potenzielle Fehlerquellen. Das »Hamburger Abendblatt« gab am 2. April 2024 Ratschläge, was zu tun ist:

Kein Internet, Akku leer – wenn das Handy-Ticket klemmt

www.abendblatt.de/hamburg/politik/article242005544/Kein-Internet-Akku-leer-wenn-das-Handy-Ticket-klemmt.html

Auf die Schlagzeile folgte eine Schilderung der Situation, in der die Zwangsdigitalisierung die Kundschaft bringt:

Anders als anfangs kann man das Deutschlandticket nur noch auf einem Gerät speichern. Hat ein Kunde beispielsweise eine Bahn-Navigator-App auf Handy und Tablet installiert, muss er sich entscheiden, auf welchem Gerät sein Abo-Fahrschein sein soll. Der Hintergrund dafür ist, dass ein Ticket nicht von verschiedenen Personen genutzt werden darf. Zwar kann ein Fahrkartenkontrolleur sich zusätzlich einen Ausweis zeigen lassen. Doch allein aus Zeitgründen verzichten viele darauf.

Zum Mitschreiben: Weil sich Verkehrsunternehmen weigern, im Zweifelsfall einen Ausweis zu kontrollieren, müssen sich alle, die mehrere Handys haben, entscheiden, ob sie das Ticket auf dem Businesshandy oder dem Privathandy installieren. Ziemlich unpraktisch, oder?

Mit dieser Beschränkung soll angeblich die Regel durchgesetzt werden, »dass ein Ticket nicht von verschiedenen Personen genutzt werden darf«. Dabei verhindert die Beschränkung aber gar nicht, dass verschiedene Personen nacheinander dasselbe Handy mit demselben Ticket nutzen, analog zu den bekannten und beliebten »übertragbaren Monatskarten«.

Die Digitalisierung aller Fahrkarten und Abos im Bereich der Deutschen Bahn führt in diesem Jahr dazu, dass auch die Bahncard als Plastikkarte verschwindet. Abo-Kunden haben die Botschaft bereits per E-Mail vom Staatsunternehmen vernommen. Was die Bahn als ihre „besondere Verantwortung in Zeiten des Klimawandels“ sieht, ist für manche Kunden gewöhnungsbedürftig.

Es ist nicht nur »gewöhnungsbedürftig«, sondern vor allem unpraktisch und eine Zumutung, denn:

Vom 9. Juni an ist ein Kundenkonto auf bahn.de erforderlich sowie die DB-Navigator-App auf dem Handy. Wer kein Smartphone hat, braucht dennoch ein Kundenkonto im Internet. Von dort lässt sich ein „Ersatzdokument“ herunterladen und ausdrucken, das die digitale Bahncard ersetzt.

Kleine Korrektur: Das ist nicht (bei Fahrten) vom 9. Juni an, sondern beim Kauf einer BahnCard ab dem 9. Juni 2024 erforderlich. BahnCards, die vor dem 9. Juni 2024 ausgestellt wurden und werden, liegen auf Plastik vor und können selbstverständlich bis zum Ende ihrer Laufzeit genutzt werden.

Ehrlicherweise ist jedoch die Bahncard in der App viel komfortabler, …

Entlarvenderweise nennt der Text keinen einzigen Beweis für diese steile Behauptung – wohlgemerkt ein Text, der in seiner Schlagzeile darauf verweist, dass ein Handyticket viel unpraktischer ist als eine Plastikkarte.

… macht das Portemonnaie um ein Stück Plastik dünner …

Auf diesen einen Millimeter kommt’s bestimmt nicht an – und sicher wäre das Ausmisten der vielen Rabatt-Kundenkarten viel ergiebiger, zumal diese ja schon massiv auf Apps migriert werden.

… und die Fahrkartenkontrolle schneller.

Auch das wäre noch zu beweisen. Wenn ich meine Plastikkarte vorzeigen muss, dann ist das ein Handgriff zum Geldbeutel, ein zweiter Handgriff zum Rausziehen der Karte – und die ganze Kontrolle ist vorbei, ehe ich das Handy aus der Brusttasche genestelt, es aus dem Standby geholt, eine App aufgerufen und mich dort durch das Menü gefummelt hätte.

Völlig irritierend ist dann das Vorgehen, wenn die Elektronik aus irgendeinem Grund nicht funktioniert:

Wer das Ticket bei einer Kontrolle nicht vorzeigen kann, gilt zunächst als „Beförderungserschleicher“ und muss 60 Euro zahlen. Eine HVV-Sprecherin erklärte dem Abendblatt das Procedere. Demnach erhält man eine Zahlungsaufforderung, wenn zum Beispiel das Handy keinen Strom mehr hat. … Allerdings werden für Handy-Ausfälle 7 Euro Bearbeitungsgebühr fällig. Und den Nachweis eines zum Kontrollzeitpunkt gültigen Fahrscheins muss man innerhalb von sieben Tagen erbringen.

Interessanterweise wird als einziges Beispiel der leere Handyakku genannt. Da kann man spontan sagen: Selber schuld. In der Schlagzeile stand aber auch fehlendes Internet als mögliche Ursache – über die Gründe schweigt sich das »Abendblatt« leider aus. Will diese Zeitung damit sagen, dass die App mit dem Ticket nur online funktioniert und dass man gekniffen ist, wenn die Controllettis in einem Funkloch vorbeikommen? Darf man dann warten, bis wieder Empfang vorhanden ist? Einem Befehl »Steigen Sie aus, wir klären das auf dem Bahnsteig« Folge zu leisten, kann böse enden, nämlich dann, wenn man dort einen Unfall erleidet. Der gilt für die Berufsgenossenschaften nicht als »Wegeunfall«, weil man vom Weg abgewichen ist, um eine private Angelegenheit zu erledigen.

Dreieinhalb Wochen später veröffentlicht der »Chefautor« der Zeitung einen weiteren Artikel:

www.abendblatt.de/hamburg/politik/article242183096/Handyticket-klemmt-Erstmals-Zahlen-ueber-7-Euro-Suender.html

Grund: Die »Linken«-Abgeordnete Heike Sudmann hatte den Senat gefragt, in wie vielen Fällen der Hamburger Verkehrsverbund 7 Euro nachkassiert hat. Die Antwort:

2022: 28.248 Fälle

2023: 39.405 Fälle

2024: 13.123 Fälle in drei Monaten, also aufs Jahr hochgerechnet »rund 52.000« Fälle

Da fällt selbst dem »Abendblatt« die finanzielle Dimension auf, nämlich:

… dass das Einnahmen von rund 364.000 Euro wären

https://www.buergerschaft-hh.de/parldok/dokument/87071/hvv_handyticket_strafe_fuer_leeren_akku.pdf

Die »tageszeitung« kommentiert Klartext:

https://taz.de/Ticketkontrolle-bei-leerem-Handy-Akku/!6003564

Kann ich mein Ticket den Kontrolleuren wegen eines leeren Akkus nicht zeigen, wird das zunächst als „Beförderungserschleichung“ gewertet. Ich müsste es binnen sieben Tagen mit dann – hoffentlich – geladenem Akku beim HVV vorzeigen und sieben Euro zahlen, so eine Sprecherin.

Hmm. Aber ist das fair? Ich als Kundin stelle die Hardware für den Fahrkartenkauf bereit, erspare denen Automat und Papier und trage nun auch das ganze Risiko allein? Und warum können diese Menschen, die ins Abteil kommen und kontrollieren, nicht auch ein bisschen Freund und Helfer sein und mir eine Powerbank borgen, wie sie die jüngeren Wesen auch immer mit sich führen?

Die sollten die immer dabeihaben, kostet ja nicht viel. Und ich könnte drei Stunden Fahrt zu so einer Servicestelle und sieben Euro sparen. Und der HVV spart Bürokratie. Und die Welt wäre ein klitzekleines bisschen netter. Antwort der HVV-Pressestelle: Wer kein Smartphone mit zuverlässigem Akku hat, soll sich anders eine Fahrkarte kaufen, zum Beispiel am Automaten. Nur: Hast du das vorher nicht getan, bist du selber schuld.

Die Abgeordnete Sudmann hatte den Senat auch gebeten, die 7-Euro-Fälle nach Art der Fahrkarte – Handyticket, Chipkarte und klassische Papierfahrkarte – aufzuschlüsseln. Laut Senatsantwort werden die »Vertriebskanäle« nicht getrennt erfasst. Der »Chefautor« hat eine Vermutung, woran die stark steigenden Zahlen – von 28.000 über 39.000 auf rund 52.000 jährlich – liegen könnten:

Das mag mit dem Digitalisierungstrend zusammenhängen – oder mit der verkomplizierten Abrufbarkeit aus den Apps.

Moment mal, ist das derselbe Autor, der 24 Tage vorher kategorisch behauptet hat, die Bahncard in der App sei viel komfortabler?

Ja, es ist derselbe Autor in derselben Zeitung. Hat er also dazugelernt? Zu hoffen wäre es. Und den Entscheidungsträgern in Politik und Verkehrsanbietern wäre ins Pflichtenheft zu schreiben, das Recht auf die Chipkarte zu garantieren.

Über Joachim Holstein

(*1960) arbeitete von 1996 bis 2017 als Steward in Nacht- und Autozügen der DB, war von 2006 bis zur Einstellung dieser Verkehre Betriebsrat der DB European Railservice GmbH und zuletzt Sprecher des Wirtschaftsausschusses. Mitbegründer der Initiative zur Rettung des Nachtzuges Hamburg-Paris (2008; »Wir wollen nach Paris und nicht an die Börse«) und des europäischen Netzwerks für Nachtzüge »Back on Track« (2015; https://back-on-track.eu/de/); Weiteres unter www.nachtzug-bleibt.eu

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