rail blog 302 / Michael Jung

Digitalisierung und die Realität

Freitag 21.06.24 Hauptbahnhof Berlin. Der gebuchte ICE 804 Abfahrt 10:38 Uhr ist schon um 9.00 mit 35 Verspätung vorangekündigt. Der kluge Reisende sagt sich sofort: »Da somit die Zugbindung entfallen ist, kann man auch einen früheren ICE nehmen.« Dieser (ICE 1008) fährt planmäßig um 10:05 Uhr ab Berlin Hbf nach Hamburg-Altona, ist aber auch schon mit 55 Minuten Verspätung versehen – aber man wäre immerhin noch früher da als mit dem ursprünglich geplante Zug, dessen Verspätung sich bis zum Zielbahnhof, wie nicht anders zu erwarten, dann auf 45 Minuten ausgeweitet hat.

Auf den Bahnsteiganzeigern der neuesten Generation – mit Farbe! – wird für den Zug die Wagenreihung in Rot angezeigt. Die Lautsprecherdurchsagen am Berliner Hbf funktionieren an diesem Tag nicht, daher sind die Bahnsteiganzeiger die einzige Informationsquelle.  Der Bahnsteig ist gut befüllt, da sicher zahlreiche Reisende, darunter viele Fußballfans, den ersten besten Zug nach Hamburg nehmen wollten. Also positioniert man sich als Aussteiger am Kopfbahnhof Altona an der Spitze des Zuges, wo sich gemäß Anzeige die Wagen der zweiten Klasse befinden sollen, für die ich eine Fahrkarte hatte. Der Zug fährt mit der angekündigten Verspätung ein. Man steigt ein und merkt an der Bestuhlung, dass man sich in einem frisch renovierten Wagen der 1. Klasse befindet. Da diese relativ leer ist, nimmt man einen der freien Plätze ein. Der Zug fährt ab, es wird per Lautsprecher im Zug auf die überfüllte 2. Klasse hingewiesen, aber es gäbe noch irgendwo ein paar Sitzplätze.

Die Fahrkartenkontrolle kommt, und die Dame herrscht einen gleich an: »Haben Sie keinen Übergangsfahrschein zur 1. Klasse? Nein, dann stelle ich ihnen eine Fahrpreisnacherhebung aus.« Nachzahlen im Zug geht ja nicht mehr, weil das Personal dazu – im Gegensatz zu vor 5 Jahren – nicht mehr mit den dafür erforderlichen Geräten ausgestattet ist. Ich sage: »Wieso das? Es ist doch das Problem der DB, wenn durch Falschanzeigen der Wagenreihung die Passagiere jetzt zum Teil im falschen Waggon sitzen!«

Nein, damit habe sie nichts zu tun, wenn ich hier nicht wegginge, dann hole sie in Hamburg Hbf, dem nächsten Halt, die Polizei.

Keinem Reisenden in der 1. Klasse habe ich einen Sitzplatz weggenommen. Da der Zug Non-Stop von Berlin-Spandau bis nach Hamburg Hbf fährt, konnte auch keiner mehr zusteigen. Hier ging es ums Prinzip, da half auch kein Bahncard Gold Status etwas. Jeder halbwegs routinierte Schaffner hätte früher in einem solchen Fall alle sieben gerade sein lassen, die Fahrkarte entwertet und hätte sich getrollt. So trollte sich der Passagier und nahm dann in der überfüllten 2. Klasse auf dem Fußboden im Eingangsbereich für die letzte Stunde der Fahrtzeit nach Hamburg Platz.

Über Michael Jung

Jahrgang 1950, Dipl.-Volksw., arbeitete zuerst in einem Großkonzern der Mineralölwirtschaft und dann 28 Jahre bei einer deutschen Großbank, davon 10 Jahre lang im Bereich Finanzierung von Eisenbahn- und Nahverkehrsprojekten weltweit. Seit 8 Jahren ist er Sprecher der Bürgerinitiative Prellbock-Altona e.V., die sich für den Erhalt und Modernisierung des Fern- und Regionalbahnhofs Altona am jetzigen Standort einsetzt.

Zeige alle Beiträge von Michael Jung →

Ein Kommentar zu “rail blog 302 / Michael Jung”

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert