Der »Fluch der Pharaonen« – vom Elend deutscher Bahnpolitik

1.         Vorbemerkung: 30 Jahre Bahnreform und kaum Manöverkritik

Beim Stöbern in alten Manuskripten und Dateien stoße ich auf einen Text, den ich 2013 im Vorfeld der Stuttgarter Bahnkonferenz von »Bürgerbahn statt Börsenbahn« verfasst hatte. Hintergrund war die Bundestagswahl 2013 und meine Kritik am weitgehenden Aussparen der Bahnpolitik aus dem Wahlkampf. Und es sollte auch eine Art Bilanz deutscher Bahnpolitik damals 20 Jahre nach der Vollendung der sogenannten Bahnreform sein.

Und beim neuerlichen Durchlesen merke ich, dass alle damaligen Argumente gegen die Großprojektfixierung der Bahnpolitik auch 10 Jahre später auf makabre Weise noch aktuell sind. Darum setze ich den nur wenig veränderten Text in die Rubrik »Analysen«. Einmal als Einstieg für die jüngeren Bürgerbahner, die sich noch nicht so intensiv mit der perversen Logik der Großprojekte und der Hochgeschwindigkeitsphilosophie befasst haben. Und zum anderen für die älteren Bürgerbahner als Erinnerung daran, wie mühsam es trotz unserer permanenten Mahnungen offensichtlich ist, Bahnmanagement, Politik und Öffentlichkeit von der zerstörerischen Wirkung solcher Großprojekte und der Hochgeschwindigkeitsbahn zu überzeugen und die eigentlichen Herausforderungen der Verkehrswende an die deutsche Bahnpolitik zu vermitteln.

30 Jahre nach der Bahnreform ist erst recht eine nüchterne Bilanz und grundlegende Neuorientierung angezeigt. Eine solche hat Bürgerbahn mit dem »Alternativen Geschäftsbericht Deutsche Bahn 2023« vorgelegt. Mir geht es mit dieser Neuauflage des alten Beitrags darum, aus dem Desaster von Stuttgart 21 zu lernen und vergleichbare immobilienspekulative Großprojekte und Großprojekte für den hochgeschwindigkeitsfixierten Neu- und Ausbau von Rennstrecken noch mal zu problematisieren: Wegen ihres zweifelhaften Nutzens, ihrer fehlenden Wirtschaftlichkeit und ihrer unzureichenden Netzeffekte.

Die deutsche Bahnpolitik braucht einen Paradigmenwechsel hin zu Tausenden von kleineren Modernisierungs- und Ausbauprojekten. Sie braucht den systematischen Wiedereinbau der vielen aus Spargründen rausgerissenen Weichen. Den Wiedereinbau von ebenso aus Spargründen stillgelegten Überholgleisen. Und die Wiederherstellung der vielen stillgelegten Gleisanschlüsse von Industriebetrieben und Gewerbegebieten. Und die Wiedereröffnung der vielen geschlossenen Güterbahnhöfe. Und Hunderte von Streckenreaktivierungen. Und den schnellstmöglichen Kapazitätsausbau von Engpassknoten. Den Ausbau regionaler Netze für viel mehr kleine S-Bahnsysteme. Und vor allem die Wiedereinführung des früheren InterRegio Systems mit nach heutigen Maßstäben mehr Linien und dichteren Takten. Natürlich auch die durchgängige Netzelektrifizierung. Die Implementierung eines innovativen, stadt- und landschaftsgerechten Lärmschutzes. Eine Regionalisierung der Güterbahn und den Aufbau von regionalen Güterbahnen und dezentralen Güterverteilzentren (GVZ) und Anlagen für dem kombinierten Ladungsverkehr (KLV). Das alles sind Aufgaben, um die Bahn fit für die klimapolitisch notwendige Verkehrswende zu machen. Bürgerbahn fasst alle diese Maßnahmen im Konzept einer Flächenbahn zusammen, als Gegenentwurf zur kleinen, feinen Korridorbahn, die ihre Investitionen auf wenige Hauptachsen und Großbahnhöfe monopolisiert und die Fläche kampflos dem Straßenverkehr überlässt.

2.         Überzogene Großprojekte der Bahn und der pharaonenhaften Ministerpräsidenten

In den letzten Jahren wurde viel über die Probleme von Großprojekten geschrieben. Und dabei wurden immer auch die Namen zuständiger Ministerpräsidenten genannt: Beim Flughafen Berlin-Brandenburg Wowereit und Platzeck, bei der Hamburger Elbphilharmonie von Beust, bei Stuttgart 21 Teufel, Oettinger und Mappus, beim Metrorapid Clement und beim Transrapid Stoiber. Sie alle haben maßgeblich Einfluss auf das Zustandekommen ihrer sogenannten »Leuchtturmprojekte« genommen, weil sie der besonderen Faszination von Großprojekten erlegen sind. Deswegen prägen immer noch zweifelhafte Großprojekte die deutsche Bahnpolitik. Es begann mit den Neubaustrecken des ICE-Hochgeschwindigkeitsnetzes, insbesondere Hannover-Würzburg, Mannheim-Stuttgart, Köln-Frankfurt und aktuell Nürnberg-Erfurt (inzwischen auch noch Stuttgart-Ulm). Es folgten die verschiedenen Planungen für den Transrapid, insbesondere als Metrorapid Rhein-Ruhr und Flughafen-Transrapid in München. Und auch die verschiedenen sogenannten »21er«-Bahnhofsprojekte, insbesondere Stuttgart 21, Frankfurt 21 und München 21, gehörten zu den zweifelhaften Großprojekten (mittlerweile ist Hamburg-Altona/Diebsteich dazugekommen).

Hochgeschwindigkeit als Grund für Großprojekte

Die ICE-Neubau- und Transrapidprojekte dienten dem Imperativ »höher, schneller, weiter«, der in dem Wettstreit zwischen Japan, Frankreich und Deutschland um den schnellsten Zug seine Zuspitzung fand. Der japanische Shinkansen und der französische TGV lagen nach Entwicklungsreife, Anwendung und Tempo weit vorn. Diesen »Vorsprung« sollten ICE und Transrapid aufholen, da waren sich alle Verkehrsminister und Bahnvorstände einig. Eine Geschwindigkeit jenseits der 200 km/h ignoriert wesentliche Gesetzmäßigkeiten der Mobilität und siedlungsstrukturellen Realität Deutschlands. Im deutschen Mobilitätsalltag dominieren die kurzen und mittleren Entfernungen. Der Anteil der Fernmobilität über mehr als 300 km Distanz ist klein. Und in einem Land mit einer sehr dezentralen, polyzentrischen Siedlungsstruktur ist es primäre Aufgabe der Fernbahn, die etwa 1.000 Groß- und Mittelstädte Deutschlands untereinander zu verbinden. Das geht nur mit einem weit verzweigten Netz. Hochgeschwindigkeit lohnt sich wegen des exponentiellen Anstiegs der Kosten für Bau und Betrieb allenfalls, wenn auf der entsprechenden Relation ausreichend große Passagiervolumina abgefahren werden, in dichten Taktverkehren. Der Shinkansen kann das wegen der engen, linearen Abfolge großer Metropolen an einer Strecke. Und der TGV kann das wegen der monozentrischen Struktur Frankreichs mit wenigen Verdichtungsräumen. Für das polyzentrische, regional sehr ausbalancierte Deutschland taugt weder der japanische noch die französische Strategie. Hier helfen nur dezentrale Netzstrategien.

Aus diesem Grund war die Bundesraumordnung in den 1970er und 80er Jahren skeptisch gegen die ersten Hochgeschwindigkeits-Neubauplanungen der DB (das sogenannte »HSB-Netz«). Für die erste Neubaustrecke Hannover-Würzburg wurden von der Bundesraumordnung Alternativen zu der von der DB favorisierten Neubaustrecke untersucht. Ziel der Untersuchungen war, den Investitionsaufwand gegenüber der Maximalplanung zu verringern, die Erschließungswirkung und damit den Verkehrswert durch die Anbindung von mehr Regionen mit ihren Mittelzentren zu steigern und auf diese Weise zu einer insgesamt höheren Nachfragebindung für die Schiene zu kommen. Die daraus ableitbare Strategie war klar: man musste möglichst viele Groß- und Mittelstädte anbinden, den Neubau auf kurze Teilabschnitte begrenzen, wo die Bestandsstrecke zu umwegig, kurven- und steigungsreich und zu wenig leistungsfähig war, ansonsten möglichst viele Teile der vorhandenen Hauptstrecke mit einfachen Mitteln ertüchtigen und die Zahl und Länge der Tunnels und Brücken beschränken. Die Ergebnisse der Studie waren beachtlich, aber politisch äußerst unliebsam und kamen sogleich in den »Giftschrank«. Die Autoren bekamen einen »Maulkorb«. Die Maximaltrasse wurde mit den üblichen Kostensteigerungen und Monopolisierungseffekten für das sonstige Bahnnetz gebaut, als erste von mehreren vergleichbaren »Rennstrecken«. Auch die Neubaustrecken Mannheim-Stuttgart und Köln-Frankfurt wurden mit dem »dicken Lineal« bei maximalen Tunnel- und Brückenanteilen und mit schlechter Netzintegration gebaut. Sie sind, wenn man den Investitionsaufwand mit dem streckenspezifischen Erlös verrechnet, in hohem Maße unwirtschaftlich, genießen aber im politischen Raum große Wertschätzung als Modernitätssymbole deutscher Bahnpolitik. Auch bei der vorletzten großen Neubaustrecke Nürnberg-Erfurt (bzw. letztlich München-Berlin) nahm die Planung wenig Rücksicht auf Kosten, Relief und Erschließungswirkung, sondern folgte dem »dicken Lineal«. Auch hier gab es eine wirtschaftliche Alternativplanung des Münchener Büros Vieregg-Rößler. Dieses Konzept band die Regionen besser an, verminderte die Kosten und Landschaftseingriffe beträchtlich und steigerte die Fahrgastpotenziale. Trotzdem fand es bei der Bahn, der Landes- und Bundesverkehrspolitik keine Beachtung.

Transrapid mit Kosten- und Systemignoranz

Die kostenunsensible Betonorientierung und fehlende Systemintegration erreichte beim Transrapid ihren Höhepunkt (aus heutiger Sicht: ihren vorläufigen Höhepunkt, der mittlerweile von S 21 getoppt wird). Am Anfang des Transrapids stand der Wunsch nach Technologieförderung Mit Milliarden an Forschungsgeldern wurde die technische Entwicklung forciert. Damals gab es noch keinerlei Netzkonzept. Dann wurde die Teststrecke im Emsland gebaut. Es folgte ein massives politisches Lobbying, das Tausende von Mandatsträgern und Journalisten für High Speed à la Transrapid begeistern sollte. Das Herstellerkonsortium forcierte den öffentlichen Druck für eine deutsche Referenzstrecke und ein Engagement der DB, obwohl es ganz offenkundig primär um Industrie- und Bauwirtschaftsförderung ging. Lediglich die Skepsis der Grünen und der Widerstand gegen die andiskutierten Projekte in den einzelnen Regionen brachten Sand ins Getriebe.

Nachdem die erste Streckenoption einer Verbindung zwischen Berlin und Hamburg früh der wesentlich wirtschaftlicheren ICE-Ausbaustrecke weichen musste, begann der kuriose Wettbewerb der Ministerpräsidenten. Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und Bayern meldeten Transrapid-Strecken an. Schnell fokussierte sich das Interesse auf den sogenannten Metrorapid zwischen Düsseldorf und Dortmund. Der damalige NRW-Ministerpräsident Clement definierte den Metrorapid als »sein« Leuchtturmprojekt. Allerdings hatte schon in den 1980er Jahren ein internes Gutachten des NRW-Verkehrsministeriums ergeben, dass ein Transrapid im Ruhrgebiet weder verkehrsstrukturell noch siedlungsstrukturell sinnvoll ist. Das hinderte Clement nicht, mit Blick auf die erhofften Milliarden den Metrorapid für das Ruhrgebiet zu forcieren, mit massivem politischem und publizistischem Druck. Erst sein Nachfolger Steinbrück hat dann in nüchterner und realistischer Einschätzung der Kosten und Risiken sowie der verkehrlichen Notwendigkeiten das Projekt »beerdigt« und durch den Rhein-Ruhr-Express RRX ersetzen lassen. Dessen Umsetzung erfolgte dann leider mit viel weniger politischer und medialer Power. Der Bund und die Bahn als wichtige Geldgeber ließen seine Umsetzung wegen des fehlenden Hochgeschwindigkeitsglanzes still vor sich »hin kümmern«, der Start der ersten RRX-Linien folgte mit großer Verspätung.

Das Aus für den Metrorapid war dann für den damaligen bayerischen Ministerpräsident Stoiber der Anlass, seinerseits das Projekt einer Transrapid-Flughafenanbindung für München zu forcieren und mit aller Macht gegen die Stadt München »hochzujubeln«. Auch hier wurde ein maximaler planerischer und publizistischer Aufwand aufgefahren, der allerdings durch die tragikomische »10-Minuten-Rede« einen ersten Dämpfer erhielt. Aber erst der fatale Transrapidunfall im Emsland und die schnell absehbare Kostenexplosion haben dann die Blütenträume von der Realisierbarkeit dieses angeblichen Leuchtturmprojekts endgültig platzen lassen. Dagegen kam der dringend erforderliche Ausbau der konventionellen S-Bahn in der bayrischen Metropole kaum mehr vorwärts. (Er wurde dann später mit der Planung für die zweite Tunnelröhre der innerstädtischen S-Bahn-Stammstrecke und dem Umbau des Hbf zu einem weiteren Milliardengrab mit explodierenden Kosten und Bauzeiten. Auch hier gab es eine viel sinnvollere Netzalternative mit einer Ring-S-Bahn, die den vorhandenen Gleisbestand optimal nutzt und viel bessere Netz- und Kapazitätseffekte und Stadtentwicklungseffekte hätte, aber von der Landesregierung abgelehnt wurde zu Gunsten des Milliardenlochs im Tieftunnel.)

3.         Die 21 er Projekte als Joker im Börsenspiel

Die größte mediale und politische Beachtung im Strategiestreit künftiger Bahnpolitik bekamen die sogenannten 21er-Bahnhofsprojekte. Ihre Hauptmotivation war immobilienwirtschaftlich und diente im Verständnis der damaligen Bahnchefs (erst Dürr, dann Mehdorn) als lukrative »Morgengabe« für den geplanten Börsengang. Die Filetgrundstücke der Bahn in den Kopfbahnhofmetropolen München, Frankfurt und Stuttgart sollten versilbert werden, dafür musste man die Bahnhöfe mit ihren Gleisspinnen unter die Erde bringen, um oben Platz für Städtebau und Bodenspekulation zu schaffen. Der leider nur kurz amtierende Interims-Bahnchef Ludewig hatte die drohende Unwirtschaftlichkeit dieser Projekte schnell erkannt und die Planungen für Stuttgart 21 gestoppt. Ähnlich einsichtig in die Probleme planerischen Größenwahns waren die damaligen Oberbürgermeister Petra Roth in Frankfurt und Christian Ude in München. Beide stiegen mit ihren Städten bald aus der 21er-Planung für ihre Bahnhöfe aus. Umso massiver haben sich dann wieder der damals neu installierte Bahnchef Mehdorn und sein Nachfolger Grube für das verbleibende S 21 engagiert. Es kam zu einem bis dahin undenkbaren Finanzdeal mit dem Land Baden-Württemberg bei der Nahverkehrsvergabe an die DB. Zudem waren Land und Stadt bereit, sich an den Kosten des Projekts zu beteiligen. (Typisch, dass jetzt nach der mehrfachen Kostenexplosion die Finanzierungsbeteiligten Land, Stadt und DB vor Gericht über die Beteiligung an den Mehrkosten streiten. Die DB wird voraussichtlich auf den Mehrkosten sitzenbleiben).

Auch bei diesem Großprojekt ist die entscheidende Frage die Systemwirkung. Sie ist bei S 21 im Verhältnis zur Investitionssumme äußerst zweifelhaft. In Bahnsystemen bestimmen immer die Knoten die Leistungsfähigkeit des Netzes. Anstatt nun mit System leistungsschwache Knoten auszubauen, wird ein vorher sehr leistungsstarker Knoten mit geringer Verspätungsanfälligkeit zum Engpass umgebaut – nur wegen des spekulativen immobilienwirtschaftlichen und städtebaulichen Motivs. Im Vordergrund stand die gewinnbringende Entwicklung einer citynahen Großimmobilie. Dieses Großprojekt verursacht (wie alle Großprojekte) einen gigantischen und kaum kontrollierbaren Kostenaufwand und wird daher nie wirtschaftlich werden.

Es erweist sich als fatal und typisch für solche Großprojekte, dass dabei Alternativen ausgeblendet bleiben. Einen »Plan B« für Stuttgart wollten die DB und die Stadt nicht. Er wurde erst von dem Bündnis der Initiativen und sie unterstützenden Ingenieure mit dem Konzept »K 21« entwickelt. Dafür sollte unter Nutzung der noch vorhandenen Gleise der alte Bahnhof rekonstruiert werden, mit neuer moderner Bahnsteigüberdachung und Nutzung der bereits gebohrten Tunnel für eine moderne City-Logistik.

4.         Monopolisierungseffekt von Großprojekten

In allen diesen Großprojekten ist das bedauerliche Ergebnis, dass die dringend erforderlichen Ausbau- und Modernisierungsmaßnahmen im sonstigen Bahnnetz und seinen regionalen Teilsystemen jahrelang ins Hintertreffen geraten. Da ist nichts von Bestandsorientierung, Behutsamkeit und Bescheidenheit zu spüren. Am wirtschaftlichsten ist ein Netz, das mit vertretbarem Aufwand große Wirkung erzielt, also mit angepassten Standards alle Verkehrsmärkte bedient. Ein wirtschaftliches Netz macht bei 200 km/h als Höchstgeschwindigkeit Schluss, kommt in großen Teilen des Bestandsnetzes auch mit 120-160 km/h und in den Regionalbahnnetzen auch mit 80-120 km/h aus. Ein wirtschaftliches Netz nimmt kleine Umwege in Kauf, wenn dadurch unterwegs große Potenziale abgegriffen werden können. Ein wirtschaftliches Netz beseitigt im Interesse einer hohen Systemgeschwindigkeit erst mal die vielen Langsamfahrstellen, die ärgerlichen Netzlücken und Kapazitätsengpässe. Es harmonisiert die Geschwindigkeiten auf mittlerem Geschwindigkeitsniveau. Es erhöht die Kapazität durch Wiedereinbau der vielen von den Sparkommissaren eliminierten Weichen und Überholgleise. Es komplettiert die Netzelektrifizierung. All das steigert die Systemgeschwindigkeit ohne Hochgeschwindigkeitsinvestitionen. Es ertüchtigt die vielen Bahnknoten, damit überall die Anschlüsse besser klappen. Und es beschränkt seine Neu- und Ausbauinvestitionen auf Teilabschnitte, in denen für die Einhaltung der Knotenzeiten Beschleunigungsmaßnahmen notwendig sind. Das von der Bahnpolitik und dem Bund verfolgte Rumpf- und Korridorkonzept verhindert eine breite Netzbeschleunigung und macht die Bahn trotz Hochgeschwindigkeit auf Teilabschnitten im Gesamtnetz langsamer als früher. Es verhindert eine breite Netzentwicklung, große Kundennähe und regionale Balance.

Kostenexplosion und Folgeprobleme

Großprojekte sind immer sehr komplex angelegt und in der Planung und Realisierung zeitaufwendig. Die Eingriffe in Landschaft und Bebauung sind riesig. Der dafür notwendige Massen- und Energieumsatz setzt große Emissionen frei. Das gilt ganz besonders für alle Tunnelprojekte mit ihrem gigantischen Bedarf an Stahlbeton und dem Erfordernis einer aufwendigen Grundwasserhaltung. Die Kostensteigerungen und dramatischen Zeitverzögerungen bei S 21 haben trotzdem weit weniger publizistische Resonanz gefunden als die beiden medial viel kritischer begleiteten Großprojekte Elbphilharmonie und Flughafen Berlin-Brandenburg.

5.         Flächenbahn als einziges sinnvolles Großprojekt für eine bessere Bahn

Man könnte diese Kritik an den problematischen Großprojekten der Bahn missverstehen als Aufruf zu einer drastischen Sparpolitik bei den Bahninvestitionen. Eine solche Folgerung wäre fatal, weil das Bahnsystem dringend modernisiert und ausgebaut werden muss, damit es seine tragende Rolle in der deutschen Klima- und Verkehrswendepolitik wahrnehmen kann. Investiert werden muss für die Renaissance der Schiene! Aber für die Investitionen braucht man vorher einen Paradigmenwandel, eine Bahnreform 2.0! Was das konzeptionell bedeutet, kann man gut von der Gründerzeit der Bahnen lernen. Damals waren von Anfang an Systemdenker am Werke, die eine starke Vision von den Notwendigkeiten und Leistungsfähigkeiten einer guten Bahn hatten. Sie orientierten sich an den Gegebenheiten der Raum- und Siedlungsstruktur. Die war und ist in Deutschland polyzentrisch, mit vielen Großstädten, Mittel- und Kleinstädten. Diese vielen Groß-, Mittel- und Kleinstädte erforderten einen breiten Netzansatz mit einem engmaschigen Bahnnetz mit vielen Strecken und Knoten. Das haben unsere Vorfahren seit 1850 bis 1920 sehr erfolgreich ausgebaut. Damit wurde die Bahn eindeutig die Nr. 1 im Personen- und Güterverkehr. Die Bahnstrecken wurden kostensparend geschickt und sensibel in die Landschaften mit ihrer typischen Topographie integriert. Die Eingriffe in das Relief wurden minimiert, Tunnel beschränkten sich auf enge Täler und Abschnitte, wo sich der durch Tunnel mögliche Abkürzungseffekt wirklich rentierte. Dagegen sparte man nicht an der gestalterischen Qualität der Bahnhöfe, Viadukte, Tunnelportale, Stellwerke und Bahnwärterhäuschen. Sie wurden liebevoll gestaltet mit regionaler Architektur und hoher Symbolwirkung. In der Zeit des Bahnbooms gab es pro Jahr 4.000 bis 5.000 km jährlichen Netzausbau mit Hunderten von Neubauprojekten. Das war nun wirklich ein gigantisches Großprojekt, aber nicht auf ein paar Punkte oder Korridore beschränkt, sondern der Boom erfasste das ganze Land. Mit dieser Strategie hatte das deutsche Bahnnetz lange Zeit ähnliche Qualitäten, wie wir sie heute noch an der Schweiz rühmen. Es gab große Erfolge bei den Fahrgastzahlen und Marktanteilen. Deutschland wurde weltweit um sein dichtes Bahnnetz beneidet. Heute ist das deutsche Bahnsysteme wegen seiner grundlegend falschen Investitionsstrategie zur Lachnummer verkommen, mit jämmerlichen Marktanteilen im Personen- und Güterverkehr. Den aktuellen klimapolitischen Herausforderungen wird es in keiner Weise gerecht. Der Grund ist das Paradigma von der kleinen, feinen Korridorbahn, die große Teile des Landes kampflos dem Autoverkehr überlässt – weil Bund und Länder sich begeistert der Massenmotorisierung und dem endlosen Straßenbau zugewendet haben. Mit endlosen Streckenstilllegungen und massenhaften Desinvestitionen, mit einem systematischen Rückzug aus der Fläche. Und massiver Konzentration der verbleibenden Investitionen auf wenige Korridore und Bahnhofsgroßprojekte.

Eine zukunftsfeste Investitionsstrategie für die Klimabahn sieht ganz anders aus und wäre ein echtes, sinnvolles Großprojekt, mit dem ähnlich wie bei dem Schweizer Großprojekt »Bus und Bahn 2000« moderne Ingenieurkunst, Bahnkultur und Verkehrs-, Umwelt- und Klimapolitik demonstriert werden könnten, um damit die Bahn wieder zur Nummer 1 im Verkehr zu machen und alle Verkehrsmärkte und Regionen optimal zu bedienen. Das bedeutet, in etwa 250 Regional- und S-Bahnnetze zu investieren. Dafür viele stillgelegte Bahnstrecken zu reaktivieren. Die abgeklemmten Gleisanschlüsse und dezentralen Güterbahnhöfe mit ihren Güterschuppen und Gleisharfen wiederzubeleben. Ein dezentrales System von GVZ und KLV-Standorten zu schaffen, damit auch der regionale Güterverkehr wieder auf die Schiene zurückgeholt wird. Ein neues Netz von ca. 50 InterRegio-Linien aufzubauen, mit dem alle Ober- und Mittelzentren untereinander verbunden werden. Das Deutschlandticket (immerhin eine kleine Revolution in der deutschen Verkehrspolitik) nach Schweizer und Österreicher Vorbild zum Klimaticket als Generalabo aufzuwerten und die bisherige institutionelle und tarifliche Trennung von Fernverkehr und Nahverkehr aufzuheben, damit die Integration der Systeme und das problemlose Reisen durch die Systeme einfach wird. Und den Deutschlandtakt nicht weiter auf 2075 zu verschieben, sondern ausgehend von den früheren regionalen Integralen Taktfahrplänen schrittweise im ganzen Netz zu implementieren, mit maßvollen Standards für die Neu- und Ausbaustrecken.

Grundlage für einen solchen Paradigmenwechsel muss ein deutscher Gesamtverkehrsplan sein, der gemeinsam von Bund, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden und unter Beteiligung der vielen im Mobilitätsbereich aktiven Verbände und Initiativen erarbeitet wird. Der Bund muss den gesetzlichen Rahmen den neuen Herausforderungen anpassen, mit Novellierungen im Bahnrecht, Bau- und Planungsrecht, Umweltrecht, Steuerrecht, Straßenverkehrsrecht und der Klimagesetzgebung. Die Bahnreform Mitte der 1990er Jahre ist vor diesen Herausforderungen viel zu kurz gesprungen, und die frühe Finanzreform des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes Ende der 1960er Jahre hat die Ziele einer Verkehrswende krachend verfehlt. Bei beiden »Reförmchen« wurde viel zu selektiv in kleinen Netzen, beschränkten Projektzahlen und geringem Verkehrswendeehrgeiz gedacht. Heute braucht Deutschland eine viel grundlegendere Reform des Mobilitätsbereiches, mit einem neuen Mobilitätsgesetz und einem umsetzbaren Klimagesetz.

Literatur

  1. Vgl. zu den Hochgeschwindigkeitsstrecken der DB: Schliebe, Klaus (1983): Raumstrukturelle Wirkungen des Schienenschnellverkehrs in der BRD. In: Informationen zur Raumentwicklung, H 4, Hg. Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung; SRL Vereinigung für Stadt-, Regional- und Landesplanung (1991): Großtechnologische Anlagen und räumliche Planung. Bericht über die Halbjahrestagung 1990 in Kassel, Kassel, 1991
  2. Vgl. zu den Alternativen der Neubaustrecke Nürnberg-Erfurt: Vieregg & Rößler (2004): Modifikation des Verkehrsprojekts 8.1 Erfurt – Ebensfeld – Nürnberg statt Bauruine südlich Erfurt. Hg. Bürgerinitiative ‚Das bessere Bahnkonzept‘, IHK Südthüringen, Gewerkschaft TRANSNET Bezirk Thüringen
  3. Vgl. zu den kostengünstigen und systemeffizienteren Alternativen der Neubaustrecke Stuttgart-Ulm und zu Stuttgart 21: BUND-Landesverband und VCD (2006): Kopfbahnhof 21 – die Alternative mit Flughafenanbindung, Stuttgart; Herrmann, H. (2008): Das Problem ist das Projekt: Stuttgart 21 und die Schnellstrecke nach Ulm. In: ZEV rail Annalen 132; Stocker, G. (2005): Stuttgart 21. Die plötzliche Geburt und das langsame Sterben eines unsinnigen Großprojektes. In: Die Zukunft der Bahn. = Herrenalber Protokolle 116, Karlsruhe; Monheim, H. (2007): Systemeffekte von Stuttgart 21 im Kontext zukünftiger Bahnpolitik. Die 10 wichtigsten prinzipiellen Kritikpunkte an Stuttgart 21, Stuttgart
  4. Monheim, H. (1985): Tunnelpolitik ist Hochschornsteinpolitik. In: Der Gemeinderat. H. 12, Eppingen; Monheim, H. & Monheim- Dandorfer, R. (1990): Straßen für alle. Teil 5 ÖPNV, Hamburg, insbes. S. 357-362
  5. Vgl. zu den Systemvergleichen Schweiz-NRW: Minister für Stadtentwicklung und Verkehr NRW (1989): Trendwende zum ÖPNV im Ruhrkorridor. Berichtsband und Materialband, Düsseldorf; Hüsler, W. (1989): Der öffentliche Verkehr in der Offensive. Trendwende in den 80er Jahren. In: Verkehrspolitik, Nr. 1-2, Wien
  6. Monheim, H. (1996): Die Bahn – Stütze einer ökologischen Verkehrsentwicklung, in: Renaissance der Bahnhöfe. Die Stadt im 21. Jahrhundert. Hrsg. BDA und Deutsche Bahn AG. Textband zur Architektur-Biennale in Venedig
  7. Stocker, G. (2005): Stuttgart 21. Die plötzliche Geburt und das langsame Sterben eines unsinnigen Großprojektes. In: Die Zukunft der Bahn. = Herrenalber Protokolle 116, Karlsruhe und Monheim, H. (2007): Systemeffekte von Stuttgart 21 im Kontext zukünftiger Bahnpolitik. Die 10 wichtigsten prinzipiellen Kritikpunkte an Stuttgart 21, Stuttgart
  8. Wolf, W. u.a. (2004): Inselkrimi Bahnhof Lindau. Deutsche Bahngeschichte: Vom Aufbruch zum Abbruch. 150 Jahre Ludwig Süd-Nord-Bahn, Berl

Über Prof. Dr. Heiner Monheim

(*1946), Geograf, Verkehrs- und Stadtplaner, seit den 1960er Jahren befasst mit den Themen Flächenbahn, Schienenreaktivierungen, Erhalt des IR, S-Bahnausbau und kleine S-Bahnsysteme, Stadt- Umland-Bahnen, neue Haltepunkte, Güter-Regionalbahnen, Bahnreform 2.0, Kritik der Großprojekte der Hochgeschwindigkeit und Bahnhofsspekulation. Details: www.heinermonheim.de

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