rail blog 326 / Michael Jung

Alltägliches Bahnleid

Geplant: Fahrt mit dem ICE 508 von Berlin nach Hamburg-Altona am 20.8.24, Abfahrt 15:38 ab Berlin Hbf, Ankunft in Hamburg-Altona um 18.23, also rund 45 Minuten längere Fahrtzeit gegenüber bisher wegen der Streckensperrung zwischen Hamburg und Berlin auf der direkten Strecke über Ludwigslust und Wittenberge. Der jetzige Laufweg ist Berlin – Stendal – Salzwedel – Uelzen – Lüneburg – Hamburg-Harburg – Hamburg Hbf – Hamburg-Altona. Soweit so gut. Die Fahrtzeiten auf der Ausweichstrecke könnten genauso kurz sein, wie auf der Standardstrecke, gäbe es nicht auf dieser Route die langen eingleisigen Streckenabschnitte zwischen Uelzen und Salzwedel, die eigentlich schon vor 25 Jahren im Rahmen der Verkehrsprojekte Deutsche Einheit (VDE Nr. 3) voll zweigleisig ausgebaut werden sollten. Leider wurde dieses Projekt auf 2029 verschoben. (Notabene: Bei dieser Strecke handelt es sich um einen Abschnitt der im vorvorigen Jahrhundert voll zweigleisig trassierten und ausgebauten Amerikalinie, auf der hauptsächlich Auswanderer aus Osteuropa von Berlin über Stendal und Uelzen nach Bremen – Bremerhaven auf die Auswandererschiffe gebracht wurden.)

Also so weit, so gut, die längere Fahrtzeit über die landschaftlich schöne Strecke ist akzeptabel. Aber um 14:00 am Abfahrtstag ploppte die erste Reisendeninformation auf: Ihr Zug hat 33 Minuten Verspätung. In fünf weiteren Mails wurde die Verspätung erst auf 41 Minuten erhöht, dann auf 24 Minuten gesenkt, um dann wieder über 31, 44, dann 51 und schließlich auf 59 Minuten erhöht zu werden. Na gut, die Zugbindung ist nach 20 Minuten weg, das muss also kein Nachteil sein. Zudem hatte ich hatte keinen Terminstress. Also war ich rund eine Stunde nach der ursprünglichen Abfahrtzeit am Bahnhof. Gucke auf den Anzeiger am Abfahrtgleis: Dort die Information: der Zug fährt um 17:51 Uhr, als mehr als 2 Stunden später! Also mache ich mich auf den Weg zur DB Lounge und lerne dort Neues über das Klassensystem der DB. Als erstes wurde ich gefragt, ob ich eine Bahncard 100 hätte, nur mit dieser hätte man Zugang zur Lounge, was nicht stimmt. Darauf zeigte ich meine Bahncard 50 vor, die früher einen Bahncard Comfort Status hatte, das entspricht heute dem geheimen Goldstatus, der auch zur Nutzung der Lounge berechtigt. Dieser höhere Klassenstatus wird aber nicht mehr auf der Bahncard ausgewiesen, sondern ist über den DB-Navigator nachzuweisen. Diese App funktioniert auf meinem – zugegebenermaßen acht Jahre alten – Blackberry-Smartphone nicht. Die Dame am Eingang ließ mich aber dennoch passieren. Durch ihre Kommunikation mit anderen DB-Kunden erfuhr ich, dass es am Berliner Hauptbahnhof noch eine besondere Edellounge gibt: die DB Premium-Lounge nur für Kunden mit einer Ersten Klasse Flex-Fahrkarte (und vermutlich für die gesamte Politikblase, denn jeder Bundestagsabgeordnete erhält automatisch eine Bahncard 100!), damit man ungestört vom ob der Verspätungen aufgebrachten normalen Bahnreisenden die Wartezeit überbrücken kann.

Nun ja, so gönnte ich mir dann einen ordentlichen Kaffee auf DB-Kosten, eigentlich das Mindeste bei einer Zugverspätung von 2 Stunden. Kaum Platz genommen und die Zeitung aufgeschlagen, ploppte eine erneute Mitteilung der DB auf meinem Handy auf: „Der Zug fällt aus“. Jetzt wird man langsam unruhig und geht wieder zu der Empfangsdame und fragt: Was nun? Diese – zwischenzeitlich leicht genervt durch die Anfragen zahlreicher Reisenden, die angesichts der anhaltenden Verspätungen verstärkt in die Lounge strömen – hatte keine richtigen Informationen, stocherte etwas hilflos in der Tastatur ihres Bildschirms rum und verwies auf die offizielle Anzeige, die da lautete: Einige Zwischenhalte der Verbindung fallen aus. Umkehrschluss: da ich zum Endbahnhof Hamburg-Altona wollte, eigentlich kein Problem, der Zug fährt ja doch. Eine weiter halbe Stunde später wurde klar, was der Hinweis mit den entfallenden Zwischenhalten bedeutete: Die Pofalla-Wende. Das heißt: der Zuglauf wurde verkürzt und der Zug in Uelzen ausgesetzt, also konnte ich mein Reiseziel Hamburg-Altona so nicht oder nur mit Umsteigen in einen Regionalexpress erreichen.

Also machte ich mich auf die Suche nach Zugalternativen. Der nächstfolgende Zug nach Hamburg – bis zur Streckensperrung ein relativ verlässlicher Halbstundentakt, jetzt bestenfalls ein unregelmäßiger Stundentakt – war der auch um eine Stunde verspätete ICE 708 nach Kiel über Hamburg Hbf. Dieser kam dann noch vor dem ICE 508 um 17:54 am Berliner Hbf an und erreichte dann sein Ziel mit einer weiteren Verspätung von 30 Minuten den Hamburger Hauptbahnhof um 20:45 Uhr. Dort musste man für den Rest der Wegstrecke die S-Bahn nehmen. Da dieser Zug die in Berlin zusteigenden Passagiere von faktisch drei ICE-Zügen aufnehmen musste, war er entsprechend überfüllt. Zum Glück fand ich noch einen freien Platz am Ende das Zuges. Wer in der Mitte des Zuges einstieg, durfte bis Hamburg Hauptbahnhof auf dem Boden Platz nehmen oder stehen. Eine Freigabe der Ersten Klasse für Reisende mit einer Fahrkarte 2. Klasse, wie früher unter solchen Umständen üblich, ist bei der DB heutzutage unbekannt. Dass in einem derart überfüllten Zug dann auch keine Fahrkartenkontrollen mehr stattfinden können, ist die logische Folge. Und etliche – hoffentlich alle – Reisenden machen von ihrem Recht auf 25% oder 50% Fahrkostenerstattung Gebrauch. So werden halt auch die Verluste der DB produziert.

Fazit: Wer häufiger Bahn fährt, kennt die üblichen Reaktionen der DB und weiß auch in Kenntnis des Streckennetzes, wie potentielle Reise-Alternativen aussehen können, aber wer nur gelegentlich fährt, darf sich in die Schlange vor den Auskunftstellen einreihen und hoffen, um dort eine mehr oder minder sachdienliche Auskunft zu bekommen. Schlimmstenfalls muss er sich langwierig mit der DB um die Übernahme von Hotel- oder Taxikosten streiten, hat nicht nur verpasste Termine, sondern womöglich noch einen finanziellen Schaden. Solche Reisenden werden sich sehr schnell wieder auf das Auto zurückbesinnen.

Über Michael Jung

Jahrgang 1950, Dipl.-Volksw., arbeitete zuerst in einem Großkonzern der Mineralölwirtschaft und dann 28 Jahre bei einer deutschen Großbank, davon 10 Jahre lang im Bereich Finanzierung von Eisenbahn- und Nahverkehrsprojekten weltweit. Seit 8 Jahren ist er Sprecher der Bürgerinitiative Prellbock-Altona e.V., die sich für den Erhalt und Modernisierung des Fern- und Regionalbahnhofs Altona am jetzigen Standort einsetzt.

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