rail blog 340 / Joachim Holstein

Die EVG analysiert das Chaos

In der Oktober-Ausgabe des Mitgliedermagazins »imtakt« befasst sich die EVG mit der Situation der (Deutschen) Bahn im Jahre 2024. Auf zwei Seiten geht es um »5 Gründe für das Chaos – und was dagegen getan werden muss«. Ergänzend wird Dirk Schlömer, Vorstand von mobifair e.V., zur Situation bei den Wettbewerbsbahnen im Nahverkehr interviewt.

Grund 1: Es fehlt an allen Ecken und Enden an Personal

Grund 2: Veraltete Technik und marode Trassen

Grund 3: Die Schuldenbremse bremst die Verkehrswende aus

Grund 4: Der Konzern wird von innen ausgehöhlt

Grund 5: Der DB-Vorstand hat den Kompass verloren

Dass meine Gewerkschaft die katastrophale Personalsituation an die erste Stelle setzt, wird niemanden verwundern. Millionen von Bahnreisenden im Nah- und Fernverkehr erleben die Misere, wenn wieder einmal der Zug nicht abfahren kann, weil das Personal in einem verspäteten Zug festsitzt (die Schicht war also »auf Kante genäht«), wenn es wieder einmal im Bordrestaurant nur heiße Luft und kalten Kaffee gibt, weil ein einziger Mensch seinen Dienst gesund angetreten hat, und und und. Ehemalige Kolleginnen und Kollegen, die nach dem Ende der für Nacht- und Autozüge zuständigen DB European Railservice zu DB Fernverkehr gewechselt sind, seufzen: »Sei froh, dass Du da raus bist, es macht keinen Spaß mehr.« Und dann kommen Erzählungen vom Dauerstress und der Entscheidung, die Arbeitszeit zu reduzieren und in Teilrente zu gehen: »Ich möchte nicht mit 66 umfallen.«

Die EVG zitiert und fasst zusammen:
Nichts funktioniert mehr, die Belastungen der Belegschaft werden immer höher … Gefühlt klappt keine Schicht mehr.

Als Abhilfe nennt die stellvertretende Vorsitzende Cosima Ingenschay: Bessere Arbeitsbedingungen, unter anderem durch »Entlastung von Schichtarbeitenden und … planbare Freizeit«. Also das, was die GDL mit ihrem jüngsten Tarifkampf durchgesetzt hat.

Zum zweiten Punkt wird der Vorstandschef der neuen DB InfraGO zitiert:

»In den vergangenen Jahrzehnten wurde zu wenig erneuert, zu wenig in die Sanierung gesteckt«, sagt Philipp Nagl, Vorstandschef der DB InfraGO. Er hat den direkten Vergleich: Er kommt aus Österreich und hat lange bei den ÖBB gearbeitet … In unserem Nachbarland wird pro Kopf dreimal so viel in die Schienen-Infrastruktur investiert wie bei uns.

Man könnte jetzt erörtern, wann diese »vergangenen Jahrzehnte« begonnen haben: 1966, als Verkehrsminister Georg Leber die Parole ausgab, kein Deutscher sollte es weiter als 20 km bis zum nächsten Autobahnanschluss haben? 1974, als Bundeskanzler Helmut Schmidt die Auffassung vertrat, man könne sich nur eines leisten – entweder die Bundeswehr oder die Bundesbahn? Oder 1994, als die »Bahnreform« aus den deutschen Bahnen DB und DR eine Aktiengesellschaft machte, die an die Börse sollte?

Viel spannender ist aber die Position des GBR-Vorsitzenden von DB InfraGO:

»Wir müssen erstmal in den Bestand investieren … Deswegen müssen wir … festlegen, was wir brauchen. Hübsche Neubauprojekte? Nein, wir müssen erstmal das Haus renovieren.«

So ist es. Wir sagen es seit vielen Jahren: die Bahn braucht wieder mehr Weichen und Ausweichgleise, mehr Oberleitung, zweite Gleise an bisher eingleisigen Strecken, weniger Langsamfahrstellen, mehr Bahnsteigkanten für zügiges Umsteigen und getaktete Anschlüsse – und Bahnhöfe und Haltestellen, die zum Benutzen der Bahn einladen, anstatt die Reisenden buchstäblich im Regen stehenzulassen. Was die Bahn nicht braucht: Tunnelorgien zum Wohle der Betonmafia und Schnellstrecken zum Tachovergleich mit SNCF und RENFE. Beim Festlegen, was »wir« – also die Bevölkerung – brauchen, helfen Fahrgast- und Umweltverbände und andere Fachleute gerne mit.

Beim Thema Schuldenbremse kritisiert auch die EVG den Trick, anstelle der vorgesehenen Zuschüsse eine Eigenkapitalerhöhung zu gewähren, um die Schuldenbremse zu umgehen, weil durch die Kapitalkosten die Trassenpreise steigen. EVG-Vorsitzender Martin Burkert, zuvor lange Jahre Mitglied im Verkehrsausschuss des Bundestages, fordert eine Reform der Schuldenbremse, eine Anhebung der Trassenpreisförderung durch den Bund und einen verkehrsträgerübergreifenden Infrastrukturfonds.

Für den vierten Grund wird das Beispiel Schienenersatzverkehr (SEV) während der Generalsanierungen genannt. Für den SEV der Riedbahn zwischen Frankfurt und Mannheim hatte DB Regio 170 fabrikneue Busse gekauft und 400 Fahrpersonale eingestellt. Und wenn die Riedbahn fertig ist und der SEV beim nächsten Korridor, nämlich Hamburg-Berlin, gebraucht wird? Nimmt die DB InfraGO nicht etwa die neuen Busse und die neuen Personale, sondern eine »Bietergemeinschaft mittelständischer Busunternehmen«. Der GBR von DB Regio ist über dieses Outsourcing wütend und fragt, ob dieses Sammelsurium an Kleinfirmen einen getakteten SEV in dieser Größenordnung überhaupt hinbekommt. Im Abschnitt Forderungen heißt es dann, man solle im nächsten Frühjahr unbedingt EVG-Mitglieder in die Aufsichtsräte wählen, »denn nur sie stehen für den integrierten Konzern und können bei solchen Unternehmensentscheidungen nachfragen«.

Diese Logik erschließt sich mir nicht ganz. Denn Nachfragen kann jede und jeder – und die Fremdvergabe hat doch gerade innerhalb des sogenannten integrierten Konzerns stattgefunden! Er funktioniert also nicht so wie das Idealbild, das manche von ihm malen. Und außerdem wäre ja vorstellbar, dass die Alternative zur DB-geführten InfraGO, nämlich eine für die gesamte Bahninfrastruktur zuständige gemeinnützige Anstalt öffentlichen Rechts, erstens den Schienenersatzverkehr genau so organisieren würde, wie die EVG es sich wünscht, und zweitens dafür sorgen würde, dass vernünftig gebaut wird, also in bewährter Manier »unter dem rollenden Rad« anstatt mit halbjahrelangen Totalsperrungen wichtiger Verbindungen ohne angemessene Umleitung.

Als fünfter Grund, gewissermaßen als Quintessenz, analysiert der EVG-Vorsitzende Martin Burkert: »Der DB-Vorstand hat den Kompass verloren.«

Ich muss gestehen, dass ich jedes Mal, wenn ich den Anfang dieses Zitates sehe, unwillkürlich denke, dass es mit »hat den Verstand verloren« endet. Falls diese Assoziation beabsichtigt war: Chapeau Martin, eine grandiose Formulierung.

Man fasst sich ja auch wirklich an den Kopf: Der DB-Vorstand wollte 30.000 Leute rauswerfen. In Zeiten des Personalmangels und des Chaos mit erhöhtem Beratungs- und Hilfsbedarf für Fahrgäste, von den fehlenden Personalen auf den Zügen und hinter den Schaltern (wo es sie noch gibt) ganz zu schweigen. Es ist gut, wenn es jetzt einen Aufschrei quer durchs Land gibt und auch große Medien, die sich bisher in Zurückhaltung geübt haben, sich um profunde Analysen von Ursachen und Wirkungen bemühen. Die Forderung der Gewerkschaften, der Verbände und Fachleute ist nur allzu berechtigt: Der Eigentümer muss Verantwortung übernehmen. Es ist unsere Bahn und kein Spielball von Blackrock und anderen Spekulationsgeiern.

Über Joachim Holstein

(*1960) arbeitete von 1996 bis 2017 als Steward in Nacht- und Autozügen der DB, war von 2006 bis zur Einstellung dieser Verkehre Betriebsrat der DB European Railservice GmbH und zuletzt Sprecher des Wirtschaftsausschusses. Mitbegründer der Initiative zur Rettung des Nachtzuges Hamburg-Paris (2008; »Wir wollen nach Paris und nicht an die Börse«) und des europäischen Netzwerks für Nachtzüge »Back on Track« (2015; https://back-on-track.eu/de/); Weiteres unter www.nachtzug-bleibt.eu

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