Am 29. Juli 2022 wird die Deutsche Bahn AG ihre Halbjahresbilanz 2022 vorlegen. Im Mittelpunkt werden dabei Aussagen stehen, wonach man JETZT mit der „Generalsanierung“ des Schienennetzes beginnen werde. Wonach man AB SOFORT die „Baumaßnahmen bündeln“ und sich dabei auf „acht wichtigste Bahnkorridore KONZENTRIEREN“ wolle. Verkehrsminister Volker Wissing ergänzt dies mit der Aussage, „Bahnsanierung ist jetzt CHEFSACHE“. Und in fast allen Medien werden diese Aussagen eins zu eins übernommen werden.[1]
Das klingt alles wunderbar. Irritiert ist man jedoch, wenn man weiß, dass seit mehr als einem Jahrzehnt behauptet wird, man werde exakt all dies tun. Es sind sogar oft vergleichbare Formulierungen, die dafür gewählt wurden. Der vormalige Bahnchef Rüdiger Grube – der Nachfolger von Hartmut Mehdorn – wollte 2009 „zum Kerngeschäft zurückkehren“. Das Gegenteil fand statt – unter Grube wurde mit dem Aufkauf Arriva das Auslandsgeschäft in massivem Umfang ausgebaut. Der 2018 neu ins Top-Amt gelangte Bahnchef Lutz versandte im September 2018 einen „Brandbrief“, in dem er auf die steigende Verschuldung und auf die immer höheren Ausgaben für auswärtige Beratung verwies und eine „qualifizierte Ausgabensteuerung“ verkündete. Das Gegenteil fand statt. Die „Ausgabensteuerung“ wurde kurz darauf kassiert. Unter keinem anderen Bahnchef stieg die Verschuldung so dramatisch an, auf aktuell deutlich mehr als 30 Milliarden Euro an.
Der vorausgegangene Bundesverkehrsministers Andreas Scheuer verkündete vor exakt drei Jahren: „Wir haben mit der Deutschen Bahn das größte Modernisierungsprogramm für die Schiene vereinbart, das es je in Deutschland gab. Wir wollen die Investitionen in die Modernisierung und den Erhalt massiv steigern und für einen Zeitraum von 10 Jahren festschreiben. […] Ziel ist es, die Qualität des Schienennetzes zu sichern und Nachholbedarf bei der Instandhaltung abzubauen, etwa von überalterten Anlagen.“ Ein vor drei Jahren verkündeter „Zehnjahresplan“, der angeblich in einen 86-Milliarden-Euro-Finanzplan gegossen wurde … von dem jedoch heute mit keinem Wort mehr die Rede ist.[2]
Tatsache ist: Es gibt seit mehr als zwei Jahrzehnten ein Kontinuum, einen Dauerzustand über all die Amtsperioden der Bahnchefs Hartmut Mehdorn, Rüdiger Grube und Richard Lutz und die Amtszeiten der Bundesverkehrsminister Kurt Bodewig, Manfred Stolpe, Wolfgang Tiefensee, Peter Ramsauer, Alexander Dobrindt und Andreas Scheuer hinweg: Die Deutsche Bahn fährt auf Verschleiß; die Infrastruktur verschlechtert sich von Jahr zu Jahr. Die Pünktlichkeit liegt im Juni 2022 auf einem Tiefststand. Diese Misere findet auch ihren Niederschlag in schweren Bahnunfällen wie Brühl 2000, Hordorf 2011 oder Bad Aibling 2016.
Und eben Burgrain 2022. Fast schon ist vergessen, was vor sieben Wochen in der Nähe von Garmisch-Partenkirchen geschah. Wir bezweifeln, dass in der neuen Halbjahresbilanz dieses Zugunglück in gebührender Weise behandelt wird. Und wir befürchten, dass der Vorstand des Bahnkonzerns und der Bundesverkehrsminister daraus erneut nicht die notwendigen Lehren ziehen. Diese lauten: Ab sofort müssen die Hausaufgaben gemacht und die Infrastruktur als Ganzes – und zwar nicht nur diejenige auf einem sogenannten „Hochleistungsnetz“ – instand gesetzt werden. Denn Burgrain – wie zuvor andere schwere Bahnunfälle – sind auch ein Resultat dieses fortgesetzten Fahrens auf Verschleiß, des Abbaus der Beschäftigten im produktiven Bereich, des Chaos im ständig ausgeweiteten oberen und Top-Management. Kurz: Sie sind ein Beispiel für ein Systemversagen.
Das Eisenbahnunglück vom 6. Juni 2022 im bayerischen Ort Burgrain kostete fünf Menschen das Leben; 16 Fahrgästen wurden schwerverletzt. Es wird seitens der Deutschen Bahn AG und in so gut wie allen Medien als Einzelereignis, als „tragischer Unfall“, dargestellt. In der Berichterstattung und in den Aussagen der Verantwortlichen der Deutschen Bahn AG wird – wie so oft zuvor bei vergleichbaren Eisenbahnunfällen – auf höchst spezifische Faktoren, die Ursache des Unglücks sein könnten, abgehoben.
Zunächst hieß es, es werde gegen drei Bahnbeschäftigte ermittelt – wohl Anlagenverantwortliche, Fahrdienstleiter und Lokführer. Das würde – wie so oft bei vorausgegangenen Unfällen – auf das berüchtigte „menschliche Versagen“ hinauslaufen. Was den Lokführer betrifft, so ist inzwischen mittels Auswertung des Fahrtenschreibers dokumentiert, dass eine entsprechende Schuldzuweisung ins Leere geht; der Mann fuhr mit der zugelassenen und vorgeschrieben Geschwindigkeit von 100 Stundenkilometern.
Vergleichbares gilt für Fahrdienstleiter und Anlagenverantwortliche: Auf Basis der uns vorliegenden Erkenntnisse spricht so gut wie nichts dafür, dass tatsächlich „menschliches Versagen“ auf dieser unteren Ebene und in diesem direkten Sinn ursächlich für den Unfall war.
Eine andere Variante bei der Ursachensuche geht in Richtung spezifischer technischer oder Materialfehler. So ist aktuell die Rede davon, dass einige an der Unglücksstelle verlegte Betonschwellen „Auffälligkeiten“ aufgewiesen hätten, was zu Brüchen von Schwellen und einer „Schienenverschiebung“ geführt haben könnte. Und schon gibt es die anscheinend spektakuläre Meldung: Die Deutsche Bahn AG werde jetzt „200.000 Betonschwellen des baugleichen Typs“ vorsorglich untersuchen lassen.[3]
Aus unserer Sicht spricht jedoch viel dafür, dass es sich auch hier um eine irreführende Spur handelt. Solche Betonschwellen könnten eine ergänzende Rolle bei dem Unglück gespielt haben. Schäden an Betonschwellen sprechen jedoch oft dafür, dass der Untergrund – das gesamte Gleisbett – sich verändert hat. Und dass der dadurch entstandene Druck zu Schäden an den dafür besonders empfindlichen Betonschwellen führte. Entscheidend für das Eisenbahnunglück sind aus unserer Sicht andere – eher übergreifende – Faktoren.
Teilweise gerät das Unglück selbst bereits wieder in den Schatten neuer Ereignisse und Berichte. Nur drei Wochen nach dem Burgrain-Unglück gab Bundesverkehrsminister Volker Wissing dem Magazin Der Spiegel ein zweiseitiges Interview, in dem es bei knapp der Hälfte des Gesprächs um die Lage der Deutschen Bahn AG geht. Doch der tragische Unfall wird weder von dem Fragesteller, noch von dem Befragten auch nur erwähnt. Obgleich es unter anderem primär um den Zustand der Infrastruktur geht. Stattdessen philosophiert Wissing ausführlich und in erkennbar fachfremder Art Weise über die Frage, warum es zu den sattsam bekannten Verspätungen im Schienenverkehr mit einer Rekordunpünktlichkeit im Sommer 2022 kommt – und welche Patentlösung man jetzt gefunden habe. Nassfrosch erklärt Herr Wissing: „Warum man das bislang nicht getan hat, müssen Sie meine Vorgänger fragen“.[4] Es ist schlicht grotesk, wenn jemand, der mit Schienenverkehr bislang kaum etwas zu tun hatte, behauptet, er habe das Ei des Kolumbus gefunden – wohingegen alle früheren Bundesverkehrsminister und alle Bahnvorstände im vorausgegangenen guten Vierteljahrhundert – also seit Gründung der Deutschen Bahn AG 1994 – unfähig zu einer solchen Erkenntnis („Bündelung der Bauarbeiten“) unfähig gewesen seien.
Schließlich gerät der Burgrain-Unfall in den Windschatten der Berichterstattung angesichts der vielen Dutzend Berichte zum 9-Euro-Ticket. Soll es verlängert werden? Gibt es ein Anschlussticket? Wieviel Züge pro Woche müssen derzeit wegen Überfüllung geräumt werden? Warum fallen aktuell pro Woche 800 Züge komplett aus?
Schon schiebt die Deutsche Bahn ein ergänzendes, neues Billigheimer-Ticket ins Rampenlicht: Nachdem das Unternehmen bereits mit Aldi und Lidl bei der Ausgabe spezifischer super-preisgünstiger Fahrkarten kooperierte, bietet nun Edeka das sogenannte „Egal-Wohin-Ticket“ an: Fahrgäste können mit einem bei Edeka erstandenen Ticket zum Preis von 39,90 Euro für eine einfache Fahrt in den Zügen des Fernverkehrs und des Nahverkehrs einschließlich der Züge der nichtbundeseigenen Eisenbahnen von Kiel nach Garmisch-Partenkirchen fahren. Naja, nach Garmisch-Partenkirchen nun doch wieder nicht; da wurde inzwischen wegen des Burgrain-Unglücks die Strecke nicht nur stillgelegt. Der Schienenstrang wurde an der Unglücksstelle in Teilen komplett abgebaut. Wobei es auch dazu keinerlei Berichte und keine Skandalisierung gibt. Könnte das nicht den Tatbestand „Beseitigung von Beweismitteln“ erfüllen? Doch zurück zum Edeka-Ticket: Dann eben ein 39,90-Euro-Ticket Kiel – Passau…[5]
Waren Bahnverantwortliche informiert über den kritischen Zustand des Streckenabschnittes?
Kaum Beachtung in der bisherigen Berichterstattung zum Burgrain-Unglück fand, dass sich die Verantwortlichen bei der Deutschen Bahn beziehungsweise bei deren Tochter DB Netz offensichtlich bewusst waren, dass es sich bei dem fraglichen Streckenabschnitt seit geraumer Zeit um eine kritische Stelle handelte. Laut Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 8. Juni gab es eine Baustelleninformation der Deutschen Bahn. Danach sollte es unter anderem eine Gleiserneuerung auf Höhe von Farchant und eine Gleislageberichtigung bei Oberau und Farchant geben. Das betrifft den Streckenabschnitt des Bahnunglücks. Diese Arbeiten hätten Ende Juni – also nur vier Wochen nach dem Unglück – beginnen sollen. Doch aus der offensichtlichen Erkenntnis eines kritischen Zustands des betreffenden Streckenabschnitts resultierten keine Maßnahmen zum Schutz des laufenden Bahnbetriebs. Insbesondere wurde dort keine Langsamfahrstelle (La) eingerichtet. Es blieb bei der Vorgabe der Fahrgeschwindigkeit von hundert Stundenkilometern.
Nach dem Burgrain-Unglück richtete die Deutsche Bahn eine größere Zahl Langsamfahrstellen ein. Dies erfolgte offensichtlich, wie es in einem Bericht heißt, „um keine weiteren Unfälle zu riskieren.“[6]
Es gab des Weiteren im Vorfeld des Burgrain-Unglücks konkrete Hinweise von Triebfahrzeugführern, wonach der Zustand der Schieneninfrastruktur in dem Bereich, in dem der Unfall stattfand, sich in einem kritischen Zustand befand. Diese Hinweise blieben offenkundig ungehört. In einer aktuellen Sendung des ARD-Magazins Report Mainz wurden die folgenden Kommentare dokumentiert: Lokführer I (Ausschnitt aus WhatsApp-Chat):„Wir wissen alle in welchem Zustand diese Strecke ist …“ Lokführer II (ebenfalls Ausschnitt aus WhatsApp-Chat):„Ab Tutzing ist alles im Arsch … Also quasi wirklich richtig im Arsch“. Lokführer III (am Telefon, Stimme nachgesprochen):„Als ich das gehört habe, dachte ich sofort, das hätte auch mir passieren können. Auf der Strecke gab es in den letzten Jahren ganz viele Oberbaumängel, also Schienenfehler, das heißt Gleise, die nicht mehr ganz gerade sind oder sich abgesenkt haben.“[7]
Diese Aussagen und der gesamte Report-Mainz-Bericht wirft erneut die Frage auf: Warum wurde an diesem Streckenabschnitt nicht eine Langsamfahrstelle eingerichtet; warum wurde zugelassen, dass in diesem Kurvenbereich weiterhin mit Tempo 100 gefahren werden konnte?
Vier Folgerungen
Die sich für uns ergebenden Schlussfolgerungen aus der Studie weisen in eine andere Richtung als „menschliches Versagen“ oder „ungenügende Technik“ oder „fehlerhafte Betonschwellen“. Es sind vier wesentliche Feststellungen, zu denen wir gelangen.
Erstens. Die Deutsche Bahn AG sucht Bauernopfer und Sündenböcke oder zufällige Befunde wie Materialfehler. Notwendig ist stattdessen, das Gesamtproblem von Unterfinanzierung und Fahren auf Verschleiß ins Zentrum zu rücken.
Das Top-Management der Deutschen Bahn AG und andere Verantwortliche im Bereich Schienenverkehr (Bundesverkehrsministerium, Eisenbahn-Bundesamt) machen es sich immer wieder zu einfach, wenn im Zusammenhang mit Bahnunfällen wie demjenigen in Burgrain auf „menschliches Versagen“ oder „technisches Versagen / falsche Technik“ abgehoben wird.
Das trifft auch zu auf dieAnlagenverantwortlichen der Deutschen Bahn bzw. für denjenigen Anlageverantwortlichen, der im vorliegenden Fall für den Streckenabschnitt zuständig ist. Aktuell sind Anlagenverantwortliche für bis zu 400 Kilometer Gleis verantwortlich. In der bereits zitierten, gut recherchierten Sendung des ARD-Magazins „Report Mainz“ wurde dokumentiert, dass diese Bahnbeschäftigten ihren Job angesichts des immer schlechteren Zustands der Infrastruktur und der unzureichenden finanziellen und personellen Ausstattung nicht mehr erfüllen können. Zitiert wird dabei ein Anlagenverantwortlicher – bezeichnenderweise musste das anonym, „Stimme nachgesprochen“, erfolgen – mit den Worten: „Kann eine einzelne Person so viel Verantwortung tragen und ist das überhaupt rechtens? Ist es legitim, wenn ein Unfall passiert, einfach eine Person wie einen Sündenbock in die Wüste zu jagen, der ist dann schuld?“ Report Mainz machte dabei auch publik, dass bereits vor drei Jahren eine Gruppe von Anlagenverantwortlichen einen Brandbrief an den Vorstand des Bahnkonzerns gerichtet hatten – was jedoch inhaltlich ignoriert wurde; der Wortführer befindet sich „seit eineinhalb Jahren in der Freistellung“, das heißt, er wurde sanktioniert; mundtot gemacht.
In der Summe heißt das: Erneut droht der Fall, dass Sündenböcke benannt werden mit dem Ziel, von der tatsächlichen Verantwortung abzulenken. Einzelne Bahnbeschäftigte – hier möglicherweise Anlagenverantwortliche – werden als Schuldigen identifiziert. Doch diese sind nicht Täter, sondern selbst Opfer eines Gesamtsystems, das durch Unterinvestition, unzureichenden Finanzen, Einsatz veralteter Technik und Personalabbau gekennzeichnet ist. Es ist ein Gebot von Fairness und grundsätzlicher Solidarität, dass dieser Art Schuldzuweisung ein Riegel vorgeschoben wird, dass diese Personengruppen in Schutz genommen und ihre Berufsehre verteidigt wird.
Das sollte Aufgabe aller Freundinnen und Freunde der Bahn sein. Und das ist nicht zuletzt die Aufgabe der Gewerkschaften, die im Bahnbereich vertreten sind.
Am Ende dieses Textes gehen wir auf drei exemplarische Bahnunfälle aus jüngerer Zeit ein, die jeweils mit dem Tod von Menschen verbunden sind, und in denen exakt diese problematische Herangehensweise des Suchens nach Bauernopfer festzustellen ist: Auf denjenigen in Brühl im Jahr 2000 (neun Tote), auf denjenigen in Hordorf im Jahr 2011 (zehn Tote) und auf denjenigen in Bad Aibling im Jahr 2016 (zwölf Tote). In allen drei Fällen wurde seitens der Verantwortlichen und teilweise seitens der damit befassten Gerichte auf das besagte „menschliche Versagen“ abgehoben. Bahnbeschäftigte der unteren Hierarchie-Ebene wurden für diese Unfälle verantwortlich gemacht, obgleich in Wirklichkeit die entscheidende Verantwortung an höherer Stelle im System Schiene, im Konzern Deutsche Bahn AG, im Bereich Verkehrspolitik (Bundesverkehrsministerium) beziehungsweise bei der Aufsicht über die Sicherheit im Schienenverkehr (Eisenbahn-Bundesamt) lag.
Zweitens. Es gibt einen unauflöslichen Widerspruch zwischen dem Ausbau des Straßenverkehrs und dem Ausbau der Schieneninfrastruktur. Beides zusammen geht nicht. Und hierzulande finden bis zum heutigen Tag ein Ausbau der Straße und ein Abbau der Schiene statt.
Das System Schiene steht in einem grundsätzlichen Wettbewerb zum Straßenverkehr. Obgleich in der Politik seit mehr als zwei Jahrzehnten – im Einklang mit der allgemeinen Umwelt- und Klimadebatte – behauptet wird, es gebe einen „Vorrang Schiene“, findet das Gegenteil statt: Es gibt einen fortgesetzten Ausbau des Straßenverkehrs (und im Übrigen auch des Flugverkehrs) und einen permanenten Abbau der Schieneninfrastruktur. Von Jahr zu Jahr wird der Investitionsstau im Bereich Schiene größer. Es gibt damit immer deutlicher ein Fahren auf Verschleiß. Das wurde in den letzten zehn Jahren in mehr als einem halben Dutzend Berichten des Bundesrechnungshofs dokumentiert. Dieser allgemeine antagonistische Widerspruch Straße-Schiene lässt sich beim Burgrain-Unglück konkretisieren: Ein wesentlicher Faktor bei diesem Unglück besteht darin, dass als Ergebnis
eines autobahnähnlichen Straßenausbaus vor gut zwei Jahrzehnten am Bahndamm just an der Unglücksstelle ein gefährlicher Steilhang mit einem im Fall eines entgleisten Zugs todbringenden Bachbett geschaffen wurde.
Gleichzeitig wurde damit auf Dauer verhindert, dass die fragliche Strecke jemals zur Zweigleisigkeit ausgebaut werden könnte.
Für eine solche Verkehrspolitik – die bundesweit hundertfach zu beobachten ist – sind Politiker und Top-Leute des Bahnkonzerns bzw. Führungskräfte des Eisenbahn-Bundesamtes verantwortlich, die zugleich behaupten, man wolle den Schienenverkehr „bis 2030 verdoppeln“. Hier haben wir ein konkretes Beispiel dafür vorliegen, wie der das Klima belastende Straßenausbau nicht nur hinsichtlich der Finanzen, sondern ganz praktisch hinsichtlich der Kapazitäten den Bahnverkehr, der das Klima eher schont, einengt und beschädigt. Unter den gegebenen Bedingungen der vorherrschenden Verkehrspolitik ist das Ziel „Verdopplung des Schienenverkehrs“ völlig illusorisch.
Drittens. Die Schieneninfrastruktur darf nicht die Melkkuh des Bahnkonzerns bleiben. Die gemeinwohlorientierte Infrastrukturgesellschaft ohne Gewinnabführung an die Holding ist notwendiger denn je. Doch das im Koalitionsvertrag festgehaltene Vorhaben droht erneut verschleppt zu werden.
Die Deutsche Bahn AG beweist seit mehr als zwei Jahrzehnten, dass sie nicht bereit und willens ist, die Schieneninfrastruktur mit der notwendigen Betriebssicherheit zu erhalten. In dieser spezifischen Situation entstand die Forderung, dass die – im Übrigen sachfremd zersplitterten – Infrastrukturgesellschaften für das Netz (AG DB Netz), für den Bereich Bahnhöfe (DB Station und Service AG) und für die Energie (DB Energie GmbH) in einer gemeinnützigen Infrastrukturgesellschaft zusammengelegt werden sollten. Damit soll unter anderem erreicht werden, dass die beträchtlichen staatlichen Mittel (mehr als fünf Milliarden Euro jährlich), die in diese Bereiche fließen, ausschließlich für Infrastrukturzwecke verwendet werden und dass die in diesen Bereichen erzielten Gewinne nicht mehr, wie bislang, ganz oder in großen Teilen an die DB-AG-Holding fließen, wo sie wiederum für völlig andere Projekte, auch für bahnfremde Engagements, nicht zuletzt solche im Ausland, eingesetzt werden können.
Die Ampel-Regierung hat die Zielsetzung „neue Infrastrukturgesellschaft“ in den Koalitionsvertrag aufgenommen, wenn auch dabei der Bereich Energie aus nicht nachvollziehbaren Gründen ausgeklammert wurde. Ein Umbau des Konzerns Deutsche Bahn AG in diesem Sinn wurde in dem Vertrag vereinbart, wobei die neue gemeinwohlorientierte Infrastrukturgesellschaft, in der DB Netz und DB Station und Service zusammengefasst werden sollen, Teil des Bahnkonzerns bleiben soll.[8] Formal haben dieser Vereinbarung außer den drei Koalitionsparteien auch die Bahngewerkschaft EVG zugestimmt. Die GDL fordert eine solche unabhängige Infrastrukturgesellschaft seit langem.
Inzwischen wird jedoch über dieses Ziel kaum mehr gesprochen. Im genannten Interview mit Verkehrsminister Wissing findet sich dazu kein Wort. Und wenn doch davon die Rede ist, dann heißt es, dass mit dem entsprechenden Umbau 2023 begonnen werden würde. Ergänzend heißt es dann, es handle sich um einen langandauernden Prozess des Konzernumbaus.[9]
Das spricht dafür, dass das Vorhaben auf die lange Bank geschoben und möglicherweise in dieser Legislaturperiode gar nicht mehr umgesetzt wird. Der zitierte Verweis, es würde sich hier um einen aufwendigen Umbau des Konzerns Deutsche Bahn AG, muss relativiert werden: Anfang 2008 wurde aus dem Bahnkonzern binnen weniger Wochen die DB ML (Deutsche Bahn Mobility Logistics) als damals neue Subholding ausgegliedert. Damit sollte die Privatisierung des gesamten Bahnbetriebs, einschließlich der Logistik-Firma Schenker und der DB-Tochter Arriva, ermöglicht werden. Im August 2016 wurde dann diese Doppelstruktur DB ML wieder aufgelöst. Dieser Umbau und Rückbau waren mindestens so aufwendig wie die nun mit der neuen Infrastrukturgesellschaft vorgesehene Umstrukturierung. Doch beides beanspruchte jeweils weniger als ein halbes Jahr Zeit.
Der Verweis, die Umsetzung dessen, was im Koalitionsvertrag dazu formuliert ist, komme einer „Zerschlagung der der integrierten Bahn“ gleich, überzeugt nicht. Ich bin – zusammen mit den Verfassern der erweiterten Burgrain-Studie – davon überzeugt, dass das System einer integrierten Eisenbahn, wie es ein solches in der Schweiz gibt, optimal ist. Und dass eine solche Gesamtstruktur des Schienenverkehrs auch hierzulande notwendig wäre und machbar ist. Doch die Politik ging in Deutschland einen anderen Weg – beginnend mit der Bahnreform von 1994 und der Gründung der Deutschen Bahn AG . Inzwischen existiert in Deutschland längst kein integriertes System Schiene mehr. Fast die Hälfte des Schienenpersonennahverkehrs und ebenfalls fast die Hälfte des Schienengüterverkehrs werden von Eisenbahnverkehrsunternehmen bestritten, die nicht Teil des Konzern Deutsche Bahn AG sind. Der Konzern Deutsche Bahn AG wiederum ist ein Player, wenn auch der größte, unter vielen. Er agiert nach rein privatwirtschaftlichen Kriterien. Gleichzeitig hat er jedoch im Bereich Infrastruktur ein Monopol behalten. Dieses nutzt er, wie jeder Monopolist, der privatwirtschaftlich agiert, indem er die Nutzer der Infrastruktur – eigene Töchter und private Konkurrenz – schikaniert und als Melkkühe betrachtet, indem er Infrastruktur abbaut, indem er aus dem Fahren auf Verschließ Gewinne generiert und indem er diese Gewinne an die Holding transferiert. Auf diese Art und Weise wird die sprichwörtliche Sicherheit im Schienenverkehr gefährdet. Darüber hinaus sind hohe Trassenpreise und überdurchschnittliche hohe Bahnhofnutzungsentgelte die Folge – was wiederum heißt, dass damit Bahnverkehr eingeschränkt und teilweise ausgebremst wird. Aus all diesen Gründen ist die genannte unabhängige und gemeinwohlorientierte Infrastrukturgesellschaft dringend erforderlich.
Viertens.Die Sanierung der Schieneninfrastruktur muss ab sofort im Zentrum stehen. Großprojekte, die Schieneninfrastruktur zurückbauen oder schädigen beziehungsweise die große Finanzmittel erfordern, sind zu stoppen.
Angesichts des miserablen Zustands der Schieneninfrastruktur muss das allererste Ziel jeder Politik im Bereich Schienenverkehr darin bestehen, die Sanierung dieser Infrastruktur in Angriff zu nehmen. Aufgrund der bekanntermaßen deutlich beschränkten Ressourcen der Deutschen Bahn AG müssen vor dieser Aufgabe alle Großprojekte solange zurückstehen, bis auch die letzte schadensbedingte Langsamfahrstelle (LA) im Netz der DB AG beseitigt ist. Kritische Projekte, also solche, die zu einem Rückbau von Schieneninfrastruktur oder einer Kapazitätsverminderung führen (siehe Hamburg/Altona-Diebsteich, siehe Stuttgart 21, siehe Gäubahn / Panoramabahn) oder solche, die die Umwelt schädigen (Fehmarn-Querung, Brennerbasis-Zulaufstrecken), müssen unverzüglich auf den Prüfstand gestellt und gestoppt werden. Neu geplante Bahnstrecken mit Geschwindigkeiten von Tempo 300 (Hamburg-Maschen – Hannover; Hannover – Bielefeld, Bielefeld Hamm- Würzburg- Nürnberg) und gewaltige neue Tunnelprojekte (Fernbahntunnel in Frankfurt/M.) sollten bereits aus Gründen des Klimaschutzes, aber auch hinsichtlich des sinnvollen Einsatzes der Finanzmittel ebenfalls auf den Prüfstand gestellt werden. Ein Projekt wie die zweite S-Bahn-Stammstrecke in München (gegen das es überzeugende sachliche Argumente gibt und zu dem auch sinnvolle Alternativen entwickelt wurden), ist bereits aufgrund des gigantischen Finanzrahmen (Verzehnfachung der Kosten auf aktuell 7 Milliarden Euro) und einer absurd langen Umsetzungszeit (Inbetriebnahme 2037) aufzugeben.[10]
Das Eisenbahnunglück in Burgrain
im Kontext von drei Eisenbahnunfällen aus jüngerer Zeit
Das Eisenbahnunglück von Burgrain muss im Zusammenhang mit vorausgegangenen Unfällen im Schienenverkehr gesehen werden, bei denen die Deutsche Bahn AG ebenfalls auf „menschliches Versagen“ abhob und das Versagen des Konzerns als Ganzes und die Verantwortlichkeit der Bahn-Oberen leugnete. Wobei die Öffentlichkeit – und weitgehend auch die Gerichte – dieser fatalen Darstellung folgten.
Brühl 2000
In der Nacht vom 5. auf den 6. Februar 2000 ereignete sich in Brühl in der Nähe von Bonn ein schwerer Eisenbahnunfall. Der D 203 wurde wegen Bauarbeiten auf dem Richtungsgleis auf das Gegengleis umgeleitet. Er entgleiste bei der Überfahrt über eine Weiche wegen erheblich überhöhter Geschwindigkeit. Neun Fahrgäste wurden getötet; eine größere Zahl schwerverletzt. In der Öffentlichkeit und bei der gerichtlichen Aufarbeitung stand der damals 28jährige Triebfahrzeugführer im Mittelpunkt. Am Ende wurde das Strafverfahren gegen diesen zwar wegen „geringer Schuld“ eingestellt; das Gericht sprach von einem „Augenblicksversagen“. Drei weitere DB-Mitarbeiter der unteren Hierarchie, gegen die ebenfalls Klage wegen „fahrlässiger Körperverletzung“ erhoben worden war, mussten lediglich eher kleinere Geldbußen für wohltätige Zwecke zahlen. Das war´s dann. Tatsächlich wies die Aufarbeitung des Unglücks auf ein Systemversagen hin: Die für die Baustelle wichtige „Bau-und Betriebsanleitung (Betra)“ enthielt zahlreiche sinnentstellende Fehler; sie wurde auch nicht rechtzeitig aufgestellt und nicht fristgerecht verteilt. Generell wurde im Prozess deutlich, dass diese „Betras“ meist unter extremen Zeitdruck erstellt werden müssen („pro Tag sind im Schnitt fünf bis sechs zu fertigen“), weswegen sie vielfach fehlerhaft sind. Das Verzeichnis der Langsamfahrstellen (La) enthielt weitere Fehler. Der Lokführer war unzureichend ausgebildet und für Fahrten in solchen Baustellenbereichen unzureichend geschult. Kurz zuvor waren die Ausbildungszeiten für Lokführer drastisch reduziert worden.[11]
Hordorf 2011
Am 29. Januar 2011 kam es auf der eingleisigen Hauptstrecke Magdeburg – Halberstadt bei Hordorf zu einem folgenschweren Zugunglück, bei dem ein Güterzug und ein Personenzug kollidierten und zehn Menschen getötet wurden. Bei der Untersuchung des Unglücks wurde in den Vordergrund gestellt, dass der Lokführer das Vor- und das Hauptsignal der Überleitstelle Hordorf missachtet hatte, womit „menschliches Versagen“ und – erneut – „Augenblicksversagen“ als Unglücksursache genannt, was schließlich auch so gerichtlich geahndet wurde. Die wesentliche Ursache für das Unglück bestand jedoch darin, dass das Sicherungssystem „Punktförmige Zugbeeinflussung – PZB“ nicht installiert war, obgleich bereits 1997 beschlossen worden war, insbesondere in den neuen Bundesländern, alle eingleisigen Schienenstrecken mit PZB nachzurüsten. Es gab damals, nach dem 1997er Grundsatzbeschluss, einen fast ein Jahrzehnt währenden kleinkarierten Streit zwischen Deutsche Bahn, Eisenbahnbundesamt und Bundesverkehrsministerium, wer die Kosten für diese Nachrüstung tragen würde. Dieser Streit – bei dem es nicht einmal um große Beträge ging – war damit der Hauptfaktor dafür, dass zehn Menschen den Tod fanden.
Im Übrigen gab es seit Gründung der Deutschen Bahn AG mehr als ein Dutzend Fälle mit schweren Eisenbahnunfällen, die bei einem rechtzeitigen Einbau dieses vorhandenen, und nicht sonderlich teuren PZB-System – oder einer vergleichbaren Sicherungstechnik – verhindert worden wären.[12]
Bad Aibling 2016
Am 9. Februar 2016 kam es in Bad Aibling, Bayern, zu einem schweren Eisenbahnunfall mit zwölf Toten und 89 Verletzten. Auch hier hieß es nur wenige Tage nach dem Unglück „menschliches Versagen“ sei ursächlich; der Traunsteiner Oberstaatsanwalt formulierte: „Was wir momentan haben, ist ein furchtbares Einzelversagen“. Dabei stand im Zentrum die Behauptung, der Fahrdienstleiter, der zwei Regionalzüge des Eisenbahnbetreibers Meridian, die in entgegengesetzter Richtung fuhren, aufs gleiche Gleis geschickt hatte, hätte „auf seinem Handy gespielt“. Vor dem Hintergrund einer enormen medialen Aufladung der Öffentlichkeit wurde der Mann zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Knapp zwei Jahre nach dem Urteilspruch, Ende 2018, wurde der offizielle Bericht der Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchung zu diesem Unglück vorgelegt. In diesem wurde konstatiert, dass auch nach dem Regelwerk der Bundesbahn beziehungsweise der Deutschen Bahn AG seit mehr als zwei Jahrzehnten (!) an dem fraglichen Streckenabschnitt eine spezifische technische Komponente („Erlaubnisabhängigkeit“) hätte eingebaut werden müssen, die, wie es in der Erstfassung dieses Berichts hieß, „die Kollision mit hoher Sicherheit verhindert hätte“. Nach einer Intervention der Deutschen Bahn AG wurde diese Formulierung dann abgeschwächt.[13] Es traf auch nicht zu, dass der Mann zu fraglichen Zeit auf dem Handy gespielt hätte; das aktive Handyspiel wurde fünf Minuten vor dem Unglück beendet. Schließlich wurde festgestellt, dass Verantwortliche der Deutschen Bahn AG ein wichtiges Beweismittel vom Ort des Geschehens entfernt hatten, was dann nicht in der gerichtlichen Untersuchung berücksichtigt werden konnte.[14]
Bilanz
Mit Blick auf die Halbjahresbilanz der Deutschen Bahn AG von Ende Juli muss alles getan werden, das Thema „Bahnunglück in Burgrain“ weiter ins Rampenlicht der Öffentlichkeit zu stellen. Dieses Unglück ist charakteristisch für den Zustand der Schiene: Eingleisigkeit, verhinderter Ausbau und mangelhafte Infrastruktur als Resultat von Fahren auf Verschleiß sind bestimmend. Bei der Untersuchung dieses Unglücks muss insbesondere vermieden werden, dass erneut die billige Tour „menschliches Versagen“ oder „fehlerhafte Technik“ gewählt wird. Auch im Fall Burgrain spricht viel dafür, dass hier Systemversagen vorliegt, bei dem die Bahnbeschäftigten in der unteren Hierarchie und deren Handeln sekundär sind.
Der Zustand der Schieneninfrastruktur befindet sich grundsätzlich in einem miserablen Zustand. Er verschlechtert sich von Jahr zu Jahr. Das steht in einem krassen Gegensatz zu dem Gerede von „Verkehrswende“ und zu den lächerlichen Verweisen, man investiere in „die digitale Schiene“.
In diesem Zusammenhang ist auch zu betonen, dass der Abbau der Zahl der Bahnbeschäftigten im produktiven Bereich und in früheren Jahren – im Vergleich zu 1994 gab es mehr als eine Halbierung – dazu führt, dass die Kolleginnen und Kollegen eine enorme Arbeitsbelastung haben. Sie sind es auch, die als Blitzableiter zu fungieren haben, wenn Züge ausfallen oder massiv unpünktlich verkehren, wenn Klimaanlagen nicht funktionieren, wenn im Speisewagen nur ein Sparprogramm angeboten wird oder wenn Züge die „Pofalla-Kehre“- oder „Scheuer-Wende“ fahren, wenn also ganze Halte ausfallen oder Endhalte erst gar nicht mehr anfahren werden, um auf diese absurd-kreative Weise aufgebaute Verspätungen wieder abzubauen.
Nehmen wir hier nur das Beispiel des vormaligen Bahnchefs Rüdiger Grube, der vor sechs Jahren sagte: „Ich rechne damit, dass wir 2021, 2022 oder 2023 so weit sind, dass wir in Teilen unseres Netzes vollautomatisch fahren können.“ Dieser Oberste aller Bahner sagte also ernsthaft, dass es heute, 2022, dann in vielen Bereichen keine Lokführer mehr geben würde.[15]
Wie sieht die Lage Mitte 2022 aus? Wir haben die Situation, dass 1500 Lokführer fehlen. Dass Züge wegen Personalmangel ausfallen. Und dass kaum mehr jemand von Zügen ohne Triebfahrzeugführer faselt. Doch die verantwortungslosen Aussagen des damaligen Bahnchefs haben bis heute massive Auswirkungen. Niemand sucht sich einen Job, den es in „wenigen Jahren“ nicht mehr geben soll.
Und so, wie es bei den Bahnbeschäftigten aussieht, so sieht es im Bereich Infrastruktur aus. Diese wird Jahr für Jahr abgebaut. Wir dokumentierten dies mit unserem letzten, dem vierzehnten Alternativen Geschäftsbericht Deutsche Bahn AG, der am 30. März 2022 in Berlin vorgestellt wurde.[16]
Der fortgesetzt hohe Anteil der Eingleisigkeit im gesamten Schienennetz – mitverantwortlich für tragische Unfälle – und das Schneckentempo bei der Erhöhung des Elektrifizierungsgrads im Schienennetz sind charakteristisch für das faktische Scheitern der Verkehrswende im Bereich Schiene. Selbst wenn es, wie jüngst bei der Südbahn (Ulm – Friedrichshafen – Lindau) zu einer umfangreichen Elektrifizierungsmaßnahme kommt, so sind der Konzern Deutsche Bahn AG und die Bundesregierung nicht in der Lage oder willens, einen relativ kurzen eingleisigen Abschnitt, denjenigen zwischen Friedrichshafen und Lindau, zu Zweigleisigkeit auszubauen, womit ein Flaschenhals bestehen bleibt. Im Fall Burgrain dokumentierten wir darüber hinaus, dass mit einem Ausbau des Straßensystems an der Unglückstelle für voraussichtlich alle Zeiten verhindert wurde, dass die eingleisige und überlastete Schienenstrecke jemals zu Zweigleisgkeit ausgebaut wird. Der Unfall in Burgrain ist damit ein schlagendes Beispiel dafür, welche fatalen Folgen der Zielkonflikt Straße – Schiene haben kann.
Im Übrigen wackelt der Schwanz weiter mit dem Hund, will sagen: Der Konzern Deutsche Bahn AG macht auch unter Bundesverkehrsminister Volker Wissing das Gegenteil dessen, was sein Eigner, der Bund, immer wieder offiziell verlautbaren lässt: Er setzt primär auf Investitionen im Ausland und auf solche im Bereich Straße. Ende Juni lautete eine Schlagzeile „Bahn kauft 1900 Laster in Amerika“ mit der sarkastischen Zusatzzeile „Goldene Zeiten für die Bahn auf der Straße?“[17] Anfang Juli teilten die Deutsche Bahn AG und die Lufthansa stolz mit, die beiden Gesellschaften seien nun „Partner“ – ab dem 1. August 2022 sei die Deutsche Bahn AG „intermodaler Partner der Star Alliance“, in der weltweit 25 Fluggesellschaften zusammengeschlossen sind. Zum gleichen Zeitpunkt erfahren wir, dass im zweiten Quartal 2022 exakt 9725 Züge komplett ausgefallen sind.[18]
Die Krise des Bahnkonzerns hat eine Dimension erreicht hat, bei der die sprichwörtliche Sicherheit im Bahnverkehr auf dem Spiel steht. Deshalb müssen alle Neubauprojekte – von denen ohnehin sehr viele Bahnverkehr zerstörend sind – solange aufs Abstellgleis gestellt werden, bis alle Langsamfahrstellen im Schienennetz beseitigt und einige hundert spezifische Sofortmaßnahmen zur Beseitigung von Flaschenhälsen und Gefahrenstellen umgesetzt wurden.
Anmerkungen:
[1] Aktuelle Zeitungs- und andere Medienberichte. Unter anderem nach Tagesspiegel und Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. Juni 2022.
[2] „86 Milliarden Euro für Gleise-Sanierung bis 2029, in: Manager Magazin vom 26. Jul 2019; https://www.manager-magazin.de/politik/deutschland/deutsche-bahn-bund-investiert-86-mrd-euro-in-schienennetz-erhalt-bis-2029-a-1279128.html
[3] Die Welt vom 13. Juli 2022. https://www.welt.de/wirtschaft/article239907635/Zugunglueck-in-Garmisch-Bahn-prueft-rund-200-000-Betonschwellen.html
[4] Interview in Der Spiegel vom 2. Juli 2022. https://www.spiegel.de/politik/deutschland/volker-wissing-fdp-wie-schlimm-steht-es-um-die-deutsche-bahn-a-dd1a0123-d7a7-4ab8-8fe3-23f3f3593c8d
Wissing dort: „Unser Netz ist heute so angelegt, dass Baustellen sehr schnell den Zugverkehr massiv beeinträchtigen. Es fehlen etwa Signale auf dem Gegengleis für Züge, die einer Baustelle ausweichen. Das bedeutet, dass sie sehr langsam fahren müssen und sich dadurch der Überholvorgang an einer Baustelle verlängert. So kommt es zu massiven Zugverspätungen oder gar Zugausfällen. Wir müssen deswegen das Netz so modernisieren, dass das Überholen an einer Baustelle nur noch zu einer minimalen Betriebsbeeinträchtigung führt und dann die Züge pünktlich ankommen. […] Das heißt, wo es notwendig ist, das Gleisbett erneuern, die Oberleitungen erneuern, die Signalisierung in Gegenrichtung anbringen und auch mehr Weichen einbauen, um aufs Gegengleis wechseln und schnell zurückwechseln zu können. Reparaturarbeiten müssen so durchgeführt werden, dass man sie im Alltagsverkehr kaum merkt.“ Fragen, die sich hier stellen, sind: Wenn 40 Prozent des Netzes eingleisig sind, wie soll es da Überholungen geben können? Warum erwähnt Herr Wissing nicht, dass es sogar im Hauptnetz bis heute Dutzende eingleisige Streckenabschnitte gibt, die dringend zu Zweigleisigkeit ausgebaut werden müssten? Weiß Herr Wissing nicht, dass die Zahl der Weichen im Zeitraum 1994 bis 2021 von 131.968 auf 65.221 mehr als halbiert wurde? Weiß der Mann nicht, dass in jedem Jahr weitere Weichen aus dem Netz herausgenommen werden, allein 2021 wurde das Netz um 181 Weichen „erleichtert“? Weiß er nicht, dass die Zahl der Ausweichgleise im Schienennetz seit 1995 mehr als halbiert wurde? Und dass allein 2021 erneut 41 Kilometer Gleise abgebaut wurden? Dass in diesem letzten Jahr weitere 15 Gleisanschlüsse (Industriegleise) gekappt wurden? (Angaben jeweils nach Daten und Fakten, herausgegeben von der Deutschen Bahn AG, Ausgaben 1994 ff bis einschließlich Ausgabe 2021.)
[5] Bericht u.a. in: Stern vom 11. Juli 2022; https://www.stern.de/panorama/deutsche-bahn-verkauft-neues–egal-wohin-ticket–bei-edeka–32529468.html
[6] Markus Balser und Klaus Ott, Ermittler nehmen Trasse ins Visier, in: Süddeutsche Zeitung vom 2. Juli 2022.
[7] Deutsche Bahn und marode Infrastruktur – Der Umgang mit Mitarbeitern, die auf Sicherheitsrisiken verweisen, Bericht von Monika Anthes und Gottlob Schober, ARD, Report Mainz vom 5. Juli 2022. https://www.swr.de/report/deutsche-bahn-und-marode-infrastruktur-der-umgang-mit-mitarbeitern-die-auf-sicherheitsrisiken-hinweisen/-/id=233454/did=25477436/nid=233454/1qudpus/index.html
[8] Koalitionsvertrag der Bundesregierung vom November 2021, Seite 52; https://www.bundesregierung.de/resource/blob/974430/1990812/04221173eef9a6720059cc353d759a2b/2021-12-10-koav2021-data.pdf?download=1
[9] Siehe: Der Tagesspiegel vom 23. Juni 2022.
[10] Am 16. Juli 2022 veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung ein Interview mit Bundesverkehrsminister Wissing, fast ausschließlich zur „zweiten S-Bahn-Stammstrecke“ in München. Auffallend dabei war, dass Wissing bei allen erfreulich kritischen Fragen (wie „Die zweite Stammstrecke … soll nach vielen Verzögerungen erst 2037 fertig sein. Bis dahin droht der Verkehrskollaps. Wäre es nicht sinnvoller … nach schnelleren Lösungen zu suchen?“) stur daran festhält, dass es sich um ein Projekt des Freistaats Bayern bzw. der Stadt München handelt und den Eindruck entstehen lässt, dass trotz einer – bisher feststellbaren – Verzehnfachung der Kosten (von 700 Millionen auf 7 Milliarden Euro) der Bund irgendwie immer weiter seinen Anteil zuschießen würde. Erinnert sei daran, dass es ein vergleichbares Vorgehen bei Stuttgart 21 gab – und dass sich heute in Stuttgart und an der Bahnspitze niemand mehr findet, der offensiv das Projekt verteidigt – wobei sich dieses Projekt auf fatale Weise verselbständigt hat und inzwischen ein Gesamtbetrag von rund 15 Milliarden Euro für S21 zu bezahlen sein wird. Vgl. Winfried Wolf, abgrundtief + bodenlos. Stuttgart 21, sein absehbares Scheitern und die Kultur des Widerstands, Köln 2020, 3. Auflage.
Zu Kritik und Alternative zur Zweiten S-Bahn-Stammstrecke siehe Wolfgang Hesse und Christoph Engelhardt in Lunapark21 Extra 18/19, Januar 2019 und W. Hesse in: Münchner Forum – Standpunkte 5, 2018, S.26-30 (unter: https://muenchner-forum.de
[11] Der vollständige Untersuchungsbericht des Eisenbahn-Bundesamtes zu dem Brühler Unfall durfte damals von den Mitgliedern des Bundestags-Verkehrsausschusses nur in einer abgedunkelten Kammer mit dem Verbot zu kopieren oder mitzuschreiben eingesehen werden. Mir gelang es als MdB, bei meiner Einsichtnahme einen großen Teil des Berichtes abzuschreiben. Die „Frankfurter Rundschau“ veröffentlichte meinen Bericht am 11.10.2000 auf einer ganzen Zeitungsseite. Erst danach wurde der Bericht in Gänze dem Verkehrsausschuss zur Verfügung gestellt.
Die hier und im Folgenden behandelten drei Eisenbahnunfälle sind ausführlich dargestellt durch Bernhard Knierim (ehemals Bahn für Alle, heute aktiv für die Allianz pro Schiene) und Winfried Wolf in den beiden Publikationen: Bitte Umsteigen! 20 Jahre Bahnreform, Stuttgart 2014, S. 57ff. und Abgefahren. Warum wir eine neue Bahnpolitik brauchen, Köln 2019, Seite 178ff.
[12] Andere PZB-Unfälle: September 2001 Enzisweiler: Zusammenprall zweier Züge mit vielen Verletzten. Zwar war die Infrastruktur mit PZB ausgerüstet, in einem der beiden Züge fehlte diese jedoch. Februar 1999 Immenstadt: Zusammenprall eines IC und eines Regionalzugs; zwei Tote. Im Jahr zuvor waren Weichen ausgebaut worden und dabei vergessen worden, die mitgelieferte Sicherungstechnik einzubauen. März 1999 Erfurt: Zwei Regionalzüge prallen zusammen; 13 Verletzte. Es fehlte PZB oder eine vergleichbare Sicherungstechnik. Oktober 1995 Werdau/Sachsen: Zusammenstoß eines InterRegio mit einem Nahverkehrszug; ein Toter, 16 Verletzte. Es fehlte PZB oder eine vergleichbare Sicherungstechnik. Dezember 1995 Garmisch-Partenkirchen (!): Zusammenstoß eines Eilzugs mit dem verglasten Ausflugstriebwagen der DB AG, ein Toter, 57 Verletzte. Es fehlte PZB oder eine vergleichbare Sicherungstechnik.
[13] Die gedrechselte Formulierung lautet jetzt: Die Nachrüstung hätte „zur sicheren Seite gewirkt und einen entsprechenden Beitrag zur Vermeidung des Unfalls geliefert.“ Ausführlich zu diesen beiden (und anderen) Unfällen siehe: Bernhard Knierim und Winfried Wolf, Abgefahren. Warum wir eine neue Bahnpolitik brauchen, Köln 2019, S.178ff.
[14] Das Telefon, von dem der Notruf durch den Stellwerker abgesetzt wurde – ein Notruf, der die beiden Lokführer nicht erreichte – wurde von den Verantwortlichen der DB aus dem versiegelten Tatort, dem Büro des Fahrdienstleiters, entfernt und nach Frankfurt/M. in die DB-Zentrale verbracht. Es gelang erst vier Wochen später zur Kripo nach Rosenheim. Dort wurde es jedoch nicht untersucht, sondern in die Asservatenkammer verbracht. Erneut Knierim/Wolf, Abgefahren, a.a.O., S.181.
[15] Bahn plant Züge ohne Lokführer, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. Juni 2016; https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/deutsche-bahn-chef-ruediger-grube-plant-zuege-ohne-lokfuehrer-14278928.html
[16] Seit 15 Jahren erscheint jeweils am Tag vor der Bilanzpressekonferenz der Deutschen Bahn der Alternative Geschäftsbericht Deutsche Bahn. In diesem Jahr wurde er am 30. März 2022 im dbb-Haus in Berlin unter anderem von Michael Jung, Prellbock Altona, und mir vorgestellt. https://klimabahn-initiative.de/2022/03/30/alternativer-geschaeftsbericht-deutsche-bahn-2020-21/ und – als Zusammenfassung auf den NachDenkSeiten Winfried Wolf, Klimabahn statt Betonbahn, 13. Mai 2022, https://www.nachdenkseiten.de/?p=83833
[17] Die DB-Tochter Schenker im Juni 2022 erwarb für 435 Millionen Dollar das börsennotierte Unternehmen USA Truck, das über eine Flotte von 1900 Lkw verfügt. Nach: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. Juni 2022. Ich gestatte mir, zu erinnern: 2006 hatte der Bahnkonzern in der Mehdorn-Ära mit Bax Global bereits einen Versuch gestartet, im US-Logistik- und Lkw- und Frachtflugverkehr-Geschäft Fuß zu fassen. 2011 musste der Bahnkonzern dieses Engagement aufgeben und rund eine Milliarde Dollar Verluste hinnehmen.
[18] Abheben im ICE – Bahn tritt Lufthansa-Bündnis Star Alliance bei, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. Juli 2022. Fast 10.000 Züge ausgefallen, in: Süddeutsche Zeitung vom 3. Juli 2022.