Die Bewegungsfreiheit des Kamels

Artikel zum Film von Oliver Stenzel in „KONTEXT-Wochenzeitung“

Von Oliver Stenzel

Ein Immobilienprojekt, das innerhalb der Bahn als „Super-Gau“ gilt: Der Regisseur und Autor Klaus Gietinger hat eine Doku über Stuttgart 21 gedreht, die viele Mängel und Täuschungen auflistet. Die sind zwar bekannt, wirken so geballt aber doch haarsträubend. Am Montag ist Premiere in Stuttgart.

Heinz Dürr wurde womöglich immer missverstanden. Er wollte, auch wenn er in den 1990ern mehrere Jahre Chef der Deutschen Bahn AG war, gar nie den Eindruck erwecken, dass ihm der Bahnverkehr besonders am Herzen liege, geschweige denn, dass er viel davon verstehe. In einem Filmausschnitt von 1998 klagt er über die „unendlichen Gleisanlagen“ und „ungeheuer vielen Weichen“ im Vorfeld des Stuttgarter Hauptbahnhofs, die man „in einer modernen Eisenbahn“ gar nicht brauche. Und betont, es gehe darum, „eine politische Dimension“ in das Projekt Stuttgart 21 zu bringen: Wenn eine Stadt in ihrem Zentrum auf einmal so viel Platz bekomme, dann sei das „eine ungeheure Chance“. 24 Jahre später zu den zurückliegenden Konflikten um Stuttgart 21 befragt, sagt er freimütig: „Das Problem ist, dass das plötzlich ein Bahnhof geworden ist. Mir ging es aber nur darum: Wenn der Sackbahnhof wegkommt, dass dann Stuttgart 120 Hektar Land kriegt im Zentrum. Und das haben die nicht verstanden, da ging es nur noch um den Bahnhof.“

Alles nur ein Immobilienprojekt, dieses schon ewige Argument der S-21-Kritiker so explizit von einem Miterfinder des Projekts zu hören, ist natürlich apart.

„Da war ich schon überrascht, wie deutlich er da war“, sagt Klaus Gietinger, der Dürr für seinen neuen Dokumentarfilm „Das Trojanische Pferd“ interviewt hat. Darin geht es um die Entstehung und Entwicklung von Stuttgart 21 seit Präsentation der Idee 1994. Ein Film über fortgesetzte Täuschungen, Manipulationen, haarsträubende Mängel und die fatale Tendenz, Fehlplanungen mit neuen planerischen Irrwegen zu begegnen – wenig geeignet, Begeisterung für das Projekt zu entfachen.

„Ich bin schon lange Bahnfan“

Bekannt wurde der 1955 in Leutkirch im Allgäu geborene und heute in Saarbrücken lebende Gietinger als Regisseur des Kultfilms „Daheim sterben die Leut“ (1985), führte später auch Regie bei ARD-„Tatort“-Folgen oder bei der Kindersendung „Löwenzahn“, erwarb sich aber auch Meriten als Historiker sowie Autor historischer Dokumentarspiele und -filme wie der zehnteiligen Reihe „Vom Reich zur Republik“ des Bayrischen Rundfunks oder dem „Wie starb Benno Ohnesorg?“, 2018 für den Grimme-Preis nominiert. Er verfasste Sachbücher etwa über die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts, über den Kapp-Putsch 1920 und legte zuletzt 2022 zusammen mit Norbert Kozicki ein Lexikon „Freikorps und Faschismus“ vor.

Autor und Regisseur Klaus Gietinger. Foto: Matthias Becker
Autor und Regisseur Klaus Gietinger. Foto: Matthias Becker

Und jetzt auch noch Bahnverkehr? „Ich bin schon lange Bahnfan und autokritisch“, sagt Gietinger, und zu dem Thema habe er schon vor 30 Jahren Filme gemacht im Rahmen von Franz Alts ARD-Reihe „Zeitsprung“. Aktivist war er auch schon: Ende der 1990er, da lebte er gerade in Frankfurt, gehörte Gietinger zu den Gründern einer Initiative, die Frankfurt 21 verhindern wollte, eine Umwandlung des dortigen Kopf- in einen Durchgangsbahnhof analog zu den Stuttgarter Plänen. Das Vorhaben scheiterte letztlich am Geld, doch in diesem Zuge bekam Gietinger auch Kontakt zu den sich allmählich organisierenden S-21-Gegnern wie Gangolf Stocker und Winfried Wolf. Mit Letzterem ist er heute in der Klimabahn-Initiative.

Teil einer Filmreihe über die Bahn

Der Stuttgart-21-Film ist dabei Teil einer geplanten größeren Reihe. Einen Film gibt es schon, „Eine S-Bahn für alle“, über die Pläne einer Zerschlagung der Berliner S-Bahn (hier anzuschauen). „Das Trojanische Pferd“ wird Nummer zwei, danach fest geplant ist ein Film über das Bahnprojekt Hamburg-Altona. Noch etwas machen will Gietinger „über meine alte Stadt Frankfurt“ und die neuen Pläne eines Fernbahntunnels dort, und wenn genug Geld zusammenkommt, soll es zudem einen Film geben über das Desaster der zweiten Münchner S-Bahn-Stammstrecke. Abschließen soll die Reihe ein resümierender Film über den gesamten Zustand der Deutschen Bahn.

Große Pläne, die erstmal finanziert werden müssen. Anspruchsvoll war das schon beim S-21-Film, über eine Homepage wurden Spenden gesammelt, die immerhin reichten, um die Unkosten zu decken – mehr nicht. „Wir haben alle mit Selbstausbeutung gearbeitet“, so Gietinger, ohne einen Sender im Rücken sei so etwas nicht ganz leicht zu organisieren.

Umgesetzt wurde das Vorhaben dennoch schnell. Anfang des Jahres habe sich die Idee konkretisiert, am 21. November ist nun Premiere im Stuttgarter Kino Delphi, es folgt eine kleine Film-Tour durch die Republik.

Saftiges von Weselsky

Neben erhellenden alten Filmfundstücken wie dem von Heinz Dürr, hat Gietinger Experten und Aktivisten befragt, die man zum notorischen Kreis der S-21-Kritiker zählen dürfte wie Christoph Engelhardt, Klaus Gebhard, Winfried Wolf, Dieter Reicherter oder Hagen von Ortloff, aber auch solche, die auf Montagsdemos gegen das Projekt eher selten zu Gast sind. Ein paar besonders saftige Statements kommen von GDL-Chef Claus Weselsky, der betont, dass das Projekt unter den Beschäftigten der Bahn als „der Super-Gau“ gelte. Der Gewerkschafter erzählt die hübsche Anekdote, wie ein Mitarbeiter der Schweizer Bahnberatungsfirma SMA verdutzten DB-Funktionären einmal erklärt habe, warum Stuttgart 21 nicht für einen Integralen Taktfahrplan, also auch den Deutschlandtakt, geeignet sei – die acht Gleise seien einfach zu wenig. Worauf der Münchner Informatikprofessor Wolfgang Hesse metaphorisch ergänzt, Stuttgart 21 als Voraussetzung für den Deutschlandtakt darzustellen, „ist so ähnlich, wie wenn ich behaupten würde: Das Nadelöhr ist die Voraussetzung für die Bewegungsfreiheit des Kamels“.

Sieht noch Nachholbedarf beim Kampf gegen S 21: Stuttgarter Fridays-for-Future-Aktivistin Judith Scheytt. Screenshot: Klimabahn-Initiative
Sieht noch Nachholbedarf beim Kampf gegen S 21: Stuttgarter Fridays-for-Future-Aktivistin Judith Scheytt. Screenshot: Klimabahn-Initiative

Während Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann deutlich das Unbehagen anzumerken ist, das von ihm einst bekämpfte Projekt nun mitbegleiten zu müssen, freut sich Bildhauer Peter Lenk offenbar umso mehr, die Mängel des Projekts besonders hämisch und eloquent zu kommentieren. Lenk lieferte auch das Stichwort für den Titel: S 21 erinnere ihn an das Trojanische Pferd – bekanntlich auch ein vergiftetes Geschenk.

Es mag auch an der langen Geschichte des Projekts liegen, dass es arg viele ältere grauhaarige Männer sind, die zu Wort kommen. Umso erfrischender, dass sich zur katastrophalen Klimabilanz des Projekts auch junge Frauen von Fridays for Future Stuttgart wie Nisha Toussaint-Teachout äußern. Haarsträubend sind die aufgezählten Täuschungen und Manipulationen bei Kapazität und Kosten, bei Schlichtung, Stresstest und Volksabstimmung, freilich unabhängig davon, wer sie benennt.

Überrascht vom Ausmaß des „Stuttgart 21 2.0“

Gietinger selbst kannte schon viele Kritikpunkte des Projekts, staunte aber dennoch im Laufe des Drehs noch über manches. „Tatsächlich überrascht“ habe ihn das gigantische Ausmaß der neuen geplanten Ergänzungsprojekte, die einige Mängel der ursprünglichen Planung beheben sollen: Diese seien vom Umfang fast ein neues S 21, „ein Stuttgart 21 2.0“. Pfaffensteigtunnel, P-Option, Nordzulauf und ein Ergänzungskopfbahnhof würden den bestehenden rund 60 Kilometern Tunnel noch einmal gut 40 Kilometer hinzufügen, inklusive enormer Kosten und riesigen CO2-Ausstoßes durch die Bauarbeiten und den benötigten Beton. „Und das ist ja leider kaum bekannt in der Bevölkerung“, so Gietinger. Auch nicht klar sei ihm das Ausmaß der Brandschutzmängel gewesen, „dass das mit die gefährlichsten Tunnel überhaupt sind“.

Während der schon fertige Film zur Berliner S-Bahn eine reine Dokumentation ist, hat Gietinger in „Das Trojanische Pferd“ auch einige Spielszenen integriert – mit der Figur des fiktiven Herr Büro, eines unverbesserlichen S-21-Fans, was bisweilen zu etwas hölzernem Slapstick führt. „Damit das Ganze nicht zu traurig wird, brauchte ich noch eine Buffo-Figur“, erklärt Gietinger, und die Reaktionen bei den ersten Probevorführungen hätten ihn darin bestätigt.

„Ich bin ja immer dafür, über die Form hinauszugehen“, sagt der Regisseur, was sich verstärkt gegen Ende des Films zeigt. Da wird es gelegentlich leicht überdreht, wenn etwa Heiner Geißler zu Besuch aus der „Tunnelhölle“ kommt oder mit einer Sequenz aus dem Beatles-Film „Help!“ ein gewagter Bogen zu den Demonstrationen im Sommer 2010 geschlagen wird. Ein Song der Fab Four könnte nach dem Film allerdings gut als Mahnung an die Projektbetreiber stehen: Let it be.


Film-Premiere „Das Trojanische Pferd“ am Montag, dem 21. November um 19 Uhr im Stuttgarter Kino Delphi, Tübinger Straße 6. Neben dem Regisseur Klaus Gietinger ist DUH-Chef Jürgen Resch auf dem Podium. Weitere Termine auch in anderen Kinos in der Region im Dezember – alle Termine und die Spendenadresse hier.

Am 16.11.22 erschienen in der Wochenzeitung KONTEXT

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert