Ungarn – Bahnfahren klassisch
Nach Jahren des Niedergangs der ehemaligen Staatsbahnen in Osteuropa erfreut sich dort das Bahnfahren, insbesondere bei den jüngeren Leuten wieder erhöhter Beliebtheit. Zum Glück konnten die schlimmsten Streckenstillegungen verhindert werden, allerdings entsprechen die teilweise noch durch die Dominanz des Güterverkehrs geprägten Fahrpläne mit unregelmäßigen Abfahrtzeiten nicht mehr den heutigen Verkehrsbedürfnissen. Die MÁV in Ungarn hat sich zum Glück zwischenzeitlich davon verabschiedet und sich dazu durchgerungen, auch auf Nebenstrecken einen Zweistunden-Takt anzubieten. Mit der Zugkategorisierung in Regional-, Interregio- und Intercity-Verkehr scheint die MÁV das Angebotsmodell der DB aus den 80er Jahren kopiert zu haben.
Auf einer Bahnfahrt von Szekszárd über Sárbogárd nach Budapest Keleti pu. konnte der Autor erleben, wie Regionalverkehr auch ohne perfekte Infrastruktur und Megainvestitionen durchaus funktionieren kann. Abfahrt im Bahnhof Szekszárd, klassisches Bahnhofsgebäude mit geöffnetem Fahrkartenschalter (6.00-17.30 Uhr an sieben Tagen in der Woche), aber auch einem Fahrkartenverkaufsautomaten der neueren Generation, Bänken zum Warten in geschützter Umgebung, kostenfreien Toiletten, liebevoll gepflegtem Blumenschmuck am Bahnhofsgebäude und auf den Bahnseigen und einem klassischen Stationsvorsteher. Hier arbeiten Eisenbahner mit Herz! Die Bahnsteige sind, wie in Osteuropa häufig üblich, auf dem Niveau der Schienenoberkante, das macht Einsteigevorgänge eher beschwerlich. Die Gleislage würde sicher in Deutschland das EBA auf den Plan rufen. Aber pünktlich, wie aus einer Fata Morgana tauchen von beiden Seiten zwei in DB-Rot gestrichene (Standardfarbe der MAV ist ein Graublau) nur mit einem MÁV-Aufkleber versehene Desiro-Dieseltriebwagen (ehemals BR 642) auf, die die MÁV wohl kostengünstig aus dem DB-Stillstandsmanagement erworben haben muss. Die Wagen hatten auch noch die DB-Polster in allen Schattierungen, man sah dem Inneren eine längere Nutzung an, aber insgesamt funktionierten diese Fahrzeuge einschließlich der Klimaanlage. Für ungarische Verhältnisse sicher ein Fortschritt gegenüber den sonst dort noch anzutreffenden Schienenbussen aus lokaler Produktion mit hohen Einstiegen.
Der Bahnhof Szekszárd ist ein typischer Kreuzungsbahnhof mit insgesamt vier Gleisen, wie alle anderen Unterwegstandorte auf dieser Strecke. Die Weichenrausreiß-Arien eines Herrn Mehdorn haben hier noch nicht stattgefunden. Pünktlich zur Abfahrt kommt der Stationsvorsteher aus seinem Häuschen, korrekt gekleidet – dunkle Hose, weißes kurzärmliges Hemd und rote Eisenbahnermütze –und hebt die grüne Kelle zur Abfahrt. Die beiden Desiros brummen jeder in seiner Richtung (nach Süden zum Zielbahnhof Baja und nach Norden zum Endbahnhof Székesfehérvár los. Angesichts der krumpligen Gleislage erwartete ich eine unruhige Fahrt, aber der Desiro schaukelt zwar prächtig, doch es geht immerhin mit 60 bis 100 Sachen über die Schienen durch eine typische ungarische Puszta-Landschaft. An den vier Unterwegshalten immer wieder das gleiche Schauspiel: korrekt gekleidete – fast wie aus dem Eisenbahnermuseum – Stationsvorsteher heben die grüne Kelle zur Abfahrt. Nach rund einer Stunde Fahrtzeit wird der Umsteigebahnhof Sárbogárd, dieser als 6-gleisiger Bahnhof ausgelegt, weil hier Umsteigemöglichkeiten zwischen dem RE und dem reservierungspflichtigen IC nach Budapest geboten werden. Die zwei Desiros (Kreuzungsbahnhof der RE-Linie) waren pünktlich zur Stelle, dann kam der IC aus Budapest, eine Menge Fahrgäste und Radler stiegen aus und begaben sich zu den haltenden RE-Triebwagen. Alles läuft ebenerdig ab, Unterführungen zwischen den unterschiedlichen Bahnsteigen gibt es nicht. Das wird mit einem höheren Personaleinsatz geregelt, die die Fahrgäste sicher über die Schienen geleiten. Der IC-Gegenzug hatte aber eine Verspätung von 14 Minuten. Da die elektrifizierte Hauptstrecke nur eingleisig ist, musste man den Gegenzug abwarten. Also wartete alles, auch die RE-Züge. Für die Einfahrt des aus Süden kommenden IC wurden die Bahnsteige gesperrt. Trotz der unbequemen hohen Treppeneinstiege in die mit einer alten E-Lok ungarischer Bauart bespannten klassischen Reisezugwagen ging der Passagierwechsel überraschend rasch vonstatten. Beim Verladen der zahlreichen Fahrräder in den jeweils mitgeführten Gepäckwagen half das zahlreiche Bahnpersonal tatkräftig mit. Und so wurden trotz Verspätung alle Anschlüsse sichergestellt. Zum Glück hatte der Umsteigebahnhof schon elektronische Anzeigetafeln, aus denen man entnehmen konnte, was hier vorging. Die ellenlangen Ansagen rein auf Ungarisch konnte ich nicht verstehen.
Sicher ein Bahnerlebnis aus einer – aus unserer Sicht – gestrigen Zeit, aber es funktionierte, und es war gut zu sehen, wie mit Improvisation und Eisenbahnergeist eine schwierige Situation souverän gemanagt wurde. Denn der Fahrdienstleiter vor Ort, der auch seinen Auftritt vor dem Publikum hatte und nicht Hunderte von Kilometern entfernt in einem klimatisierten Bunker sitzt, traf jeweils die Entscheidung, welcher Zug zuerst abfahren und auf welchem Gleis einlaufen sollte. Sicher haben die solche Situation schon häufiger erlebt, das merkte man an dem routinierten Zusammenspiel der rund acht Eisenbahner unterschiedlicher Dienstgrade vor Ort.
Fazit: Manches geht auch ohne High-Tech und überzogene Investitionen. Und gut ausgebildetes Personal vor Ort ist häufig wichtiger als ein DB-Navigator, gefüttert mit häufig sich widersprechenden Informationen. Besser ein solcher Bahnverkehr als keiner. Alle Züge waren gut besetzt und es hat trotz Verspätung keiner gemeckert.