Wahnsinn mit Methode: DB Bahnstrategen schlagen Verdreifachung des Europäischen Hochgeschwindigkeitsnetzes vor
Europas Bahnen wollen Hochgeschwindigkeitsnetz
Die Deutsche Bahn (DB AG) schlägt gemeinsam mit ihren europäischen Partnerbahnen den forcierten Ausbau des Hochgeschwindigkeitsnetzes (HGV) vor. Es soll soll von heute rund 11.300 km bis 2050 auf 32.000 km knapp verdreifacht werden. Damit beweist die DB erneut ihre geringe Lernfähigkeit und chronische Korridorfixierung. Denn mit allen deutschen Neu- und Ausbaustrecken der letzten 45 Jahren ist kein Stück Verkehrswende gelungen. Stattdessen hat der Straßenverkehr im Personen- und Güterverkehr konstant im ganzen Land und auch in den HGV-Korridoren massiv zugenommen. Deswegen kommt es auch in den HGV-Korridoren regelmäßig zu Staus und damit begründeten weiteren gigantischen Straßenneu- und Ausbauprogrammen. Wer Verkehrswende will, muss im ganzen Land und nicht nur auf wenigen Korridoren attraktiven Bahnverkehr für Personen und Güter organisieren. Und den Straßennetzausbau stoppen.
Verkehrswende braucht andere Konzepte
Denn Verkehrswende bedeutet in erster Linie Schluss mit dem Neu- und Ausbau von Straßen- und Parkraum, sondern stattdessen den massiven Ausbau des öffentlichen Personen- und Güterverkehrs mit Bahnen und Bussen im ganzen Land plus den massiven Ausbau der Netze für attraktiven Fuß- und Fahrradverkehr sowie für intermodale Schnittstellen im Umweltverbund. Davon ist in dem europäischen Zukunftskonzept der DB AG keine Rede. Für ein reines Hochgeschwindigkeitskonzept den Begriff Verkehrswende zu verwenden, ist Irreführung und basiert auf einer typischen Wahrnehmungsverzerrung der Verkehrsstrukturen. Es unterstellt, der Fernverkehr wäre für die Verkehrswende am wichtigsten. Im Mobilitätsalltag dominieren aber im Personen- wie im Güterverkehr die kurzen und mittleren Distanzen. 90 % aller deutschen Autofahrten sind kürzer als 50 km, 50 % kürzer als 5 km. Die durchschnittliche Tagesfahrleistung deutscher Autos beträgt 37,3 km. Im Schienennahverkehr wurden 2022 11,3 Mrd. Euro Umsatz gemacht, im Fernverkehr dagegen nur 2,9 Mrd. Euro. 80 % der Fahrgäste im deutschen Bahnnetz sind im Nah- und Regionalbereich unterwegs. Die durchschnittliche Reiseweite im Nahverkehr der Bahnen beträgt seit vielen Jahren ca. 20 km, die durchschnittliche Reiseweite einer Fernbahnfahrt um die 300 km. Und in den Nachbarländen gibt es ganz ähnliche Mobilitätsstrukturen. Aus alledem lässt sich keine Priorität für Hochgeschwindigkeitsbahnen ableiten. Das Konzept ist nicht nur unsinnig, weil es den Verkehrsmarkt ignoriert, sondern es ist gefährlich, weil es auf Jahrzehnte die Bahninvestitionen für die Hochgeschwindigkeit monopolisieren würde. Denn Hochgeschwindigkeitsstrecken sind im Bau, Unterhalt und Betrieb besonders teuer. Dann bleibt für die restlichen Netze nicht mehr viel Geld übrig. Dass die Bahnpolitik und der Bahnvorstand trotzdem im Hochgeschwindigkeitsrausch handeln, hat sicher mit der besonders entfernungsintensiven Mobilität der Eliten in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst zu tun. Weil sie selber oft fliegen und Hochgeschwindigkeitszüge nutzen oder mit schnellen Dienstwagen gefahren werden, halten sie hohes Tempo für entscheidend. Darum sind sie in Deutschland immer noch gegen Tempolimits.
Ähnliche Verzerrungen durch reines Korridordenken gibt es für die Güterbahn, auch wenn es dort weniger um Hochgeschwindigkeit geht. Auch im Straßengüterverkehr sind Lkw und Lieferwagen (Lfw) überwiegend im Nah- und Regionalbereich unterwegs. Aber für dieses Marktsegment werden keine Angebote mehr gemacht, im Gegenteil, der Einzelwagenladungsverkehr, die Gütergleisanschlüsse und die dezentralen Güterverteilanlagen werden gestrichen. Die Güterbahn konzentriert sich nur noch auf die langlaufenden Güterzüge, die in wenigen Güterverkehrszentren zusammengestellt werden.
Mit einer solchen Konzentration ihrer Investitionen auf wenige Korridore wird die Bahn ihre klimapolitischen Hausaufgaben und Verkehrswendeziele des massenhaften Ersatzes von bisherigem Autoverkehr krachend verfehlen. Allenfalls dem nach dem Fahrtenaufkommen marginalen Luftverkehr kann sie so ein paar Prozente abjagen.
Auf diesem HGV-Netz sollen dann Geschwindigkeiten von 300 km/h gefahren werden. Dass diese Neubaustrecken umweltfreundlich wären, muss angesichts der typischen Trassierungsmerkmale von HGV-Neubaustrecken bezweifelt werden. Da wurden bisher meistens mit dickem Lineal und ohne Rücksicht auf Natur und Landschaft und städtebauliches Umfeld brutale Bolzstrecken geplant und gebaut. Die Tarnung mit dem EU-Klimaprogramm „Green Deal“ ist eine unverschämte Täuschung. Denn „grün“ ist eine Bahn nur, wenn sie natur- und landschaftsschonend und für angepasste Geschwindigkeiten bis 160 km/h, maximal aber 200 km/h gebaut wird. Die darüber hinausgehende Hochgeschwindigkeit von 300 km/h ist zerstörerisch, energetisch unsinnig und lässt die Trassenkosten explodieren.
Stattdessen Konzept für europäische Flächenbahnen im Personen und Güterverkehr
Stattdessen braucht die EU ein Programm für europäische Flächenbahnen.
- Mit der Beendigung von Bahnstreckenstilllegungen und einer Reaktivierung der vielen stillgelegten Bahnstrecken
- Mit dem Bau vieler neuer S-Bahnsysteme in allen europäischen Regionen
- Mit einer Renaissance europäischer InterRegio-Systeme („IR“), die die mittleren Distanzen im dichten Takt bedienen
- Mit einem dichten europäischen Nachtzugnetz mit Schlaf- und Liegewagen, um den Nachtsprung optimal zu nutzen, und zwar nicht nur für die internationalen Verbindungen, sondern auch mit Anbindung aller Regionen an langlaufende Nachzüge
- Mit einem System dezentraler Güterbahnen, das möglichst viele Lkw- und Lfw-Fahrten auf die Schiene bringt, durch vertaktete Güter-S- und -Regionalbahnen und Güter-IR-Bahnen. Allerdings braucht die Güterbahn nicht so dichte Takte wie der Personenverkehr. Vielfach reichen hier jeweils einige Verbindungen am Morgen, Mittag, Nachmittag und in der Nacht
- Mit einem dezentralen System leistungsfähiger großer, mittlerer und kleiner Knoten.
Diese Infrastrukturaufgabe einer europäischen Flächenbahn ist viel wichtiger und braucht viel mehr Planungs- und Finanzmittel als das eher kontraproduktive, weil parasitäre Hochgeschwindigkeitsnetz für ein kleines Marktsegment. Für die Flächenbahn sind viel bescheidenere Entwurfsgeschwindigkeiten und Standards nötig. Und sie muss den vorhandenen Restbestand der früher viel dichteren Bahnnetze optimal nutzen: für viele zusätzliche Weichen, neue Kreuzungsstellen und Überholgleise, neue Bahnhöfe und Haltepunkte, neue Gleisanschlüsse und dezentrale Güterververteilanlagen, das alles zur Steigerung der Kapazität und Attraktivität.
Schon in der Vergangenheit gab es für alle deutschen Neu- und Ausbaustrecken bestandsorientierte Alternativkonzepte, vielfach konzipiert und berechnet vom Münchener Büro Vieregg-Rößler. Damit wären viele Kosten gespart worden, viele Projekte wären viel früher fertig geworden, und der Nutzen wäre massiv gesteigert worden. Aber die ignorante und betonfixierte DB Netz AG und Bundesverkehrspolitik haben diese Vorschläge immer wieder arrogant ignoriert. Sie setzen weiter auf Tausende neuer Tunnel und Brücken, für die die rastlose Betonbranche riesige Mengen der klimapolitisch problematischsten Baustoffe Stahl und Beton verbauen soll. Angeblich, um damit zur CO2-Einsparung und zur Verkehrswende beizutragen. Beides wird sich als Irrtum erweisen: das durch die Beton- und Stahlherstellung freigesetzte CO2 wird einen Großteil des durch die ohnehin fragliche Verkehrsverlagerung vom Straßenverkehr einsparbare CO2 wieder aufbrauchen.
Außerdem wird der Verkehrswendeeffekt durch die reine Korridorstrategie minimiert werden. Die stetige, schlimme Zunahme des Autoverkehrs wird weiter voranschreiten, weil in der Fläche weiterhin der Autoverkehr dominieren wird. Denn für seine Verlagerung von der Straße auf Busse und Bahnen wird wenig getan werden, weil das meiste Verkehrswendegeld von den Hochgeschwindigkeitsstrecken monopolisiert wird.
Mit solchen Absurditäten europäischer Verkehrspolitik müsste sich dringend die Monopolkommission befassen. Bisher kümmert sie sich um die typischen Wettbewerbsfragen im Marktzugang der Bahnunternehmen. Was sie bislang nicht beobachtet, ist der faire Wettbewerb zwischen verschiedenen Bahnkonzepten. Bislang hört die Verkehrspolitik überwiegend auf die Vertreter der Hochgeschwindigkeit und ignoriert die Flächenbahnkonzepte. Diese Art konzeptionelles Monopol für die Hochgeschwindigkeit muss durch einen pluralistischen Ideenwettbewerb der Bahnkonzepte abgelöst werde.. Und dafür muss die Bahn endlich mit Kritikern der Hochgeschwindigkeit reden. Bislang ignoriert sie beispielsweise die Ideen von „Bürgerbahn- Denkfabrik für eine starke Schiene“ und verweigert einen offenen Dialog.
Verlagerungsprognosen illusionär, sowohl im Personen wie auch im Güterverkehr
Es ist schon eine ziemliche Frechheit, wenn der DB-Vorstand Personenfernverkehr, Michael Peterson, mit dieser Strategie lawinenartige Verlagerungen prophezeit. Millionen Menschen würden angeblich von attraktiven Verbindungen und kürzeren Reisezeiten profitieren. Und wie kommen die bitte zu den Metropolenbahnhöfen? Wie erreichen sie ihre Ziele in der Fläche? Und wie kommen die Güter auf diese selektive Schiene? Dafür braucht man ein dezentrales System von Zugangsstellen (Gleisanschlüsse) und von kleinen Güterverkehrs- und Verteilzentren und Anlagen für den kombinierten Ladungsverkehr und ein intelligentes Sammelsystem für den Einzelwagenladungsverkehr. Just solche Angebot will die DB Cargo aber gerade radikal abbauen und Zehntausende Stellen dafür einsparen.
Vor- und Nachlauf zentral für die Verkehrswende. Die autogerechte Bahn ignoriert das
Die Güterbahn ist jedenfalls für die Verkehrswende mindestens so wichtig wie die Personenbahn und wird doch meist in den Debatten vergessen. Ohne ein dezentrales Bahnsystem werden im Vor- und Nachlauf endlos Zeiten verplempert, die Fläche wird dann kampflos der Straße preisgegeben, sowohl im Personenverkehr als auch im Güterverkehr. Das ist das Gegenteil von Verkehrswende.
Um die Verkehrswende-Untauglichkeit solche Konzepte zu erkennen, muss man sich nur einige TGV-Bahnhöfe in Frankreich oder einige der neuen Hochgeschwindigkeitsbahnhöfe in den chinesischen Metropolen anschauen: die meisten sind umlagert von Großparkplätzen und Stadtautobahnen. Damit macht man keine Verkehrswende.
Fazit: offene Netzdebatte und Organisationsdebatte führen
Man kann nur hoffen, dass im Verkehrsausschuss des Bundestages bald grundlegende Debatten über die Zukunft der Bahn geführt werden. Dazu gehören dann die Themen „Strategiewechsel im Netzausbau“, institutioneller Rahmen mit einer eigenen, zusammengeführten und vom Bund selber verantworteten gemeinnützigen Infrastruktursparte, Bahnreform 2.0 mit einer Regionalisierung der Güterbahn und einem bundesgesetzlichen Rahmen für bestellten Fernverkehr einschließlich Nachtzügen. Besonders verkehrswendewirksam wäre eine bessere Nutzung von überdimensionierten mehrspurigen Autobahnen für neue Auto-Eisenbahnstrecken der Güterbahn. Die Bahnpolitik muss endlich aus der Immunisierung gegen alle kreativen Konzepte rauskommen und sich einem breiten Dialog öffnen. Damit haben die weltmeisterlichen Schweizer seit 50 Jahren gute Erfahrungen gemacht. Warum nicht davon lernen?