rail blog 153 / Joachim Holstein

Erst Schaden in der Oberleitung, dann vier Stunden mitten in Hamburg gestrandet

13. August 2023, Sonntagmorgen: ein ICE ohne Fahrgäste reißt in Hamburg-Rothenburgsort auf Höhe der Billhorner Brückenstraße die Oberleitung auf etwa einem Kilometer (!) herunter, die zum Teil auf dem ICE liegenbleibt.

14. August 2023, Montagabend: ein mit etwa 200 Menschen besetzter ICE stoppt in Hamburg-Rothenburgsort auf Höhe der Billhorner Kanalstraße »wegen eines Defekts am Zug«.

Das »Hamburger Abendblatt« stellt die Frage, ob die beiden Fälle zusammenhängen. Schließlich ist es derselbe Streckenabschnitt, und just das wegen der kaputten Oberleitung gesperrte Nebengleis verhindert, dass einfach ein anderer ICE neben den havarierten Zug fährt und die Reisenden »relativ einfach« umsteigen können.

Kann passieren, man kennt »Murphy’s Law«, und ein Fußballprofi sagte mal »Erst hatten wir kein Glück, und dann kam auch noch Pech dazu«.

Aber: Bei der Havarie vom Montag war nicht nur Pech im Spiel (das gesperrte Nebengleis), sondern auch systemisches Versagen und strukturelle Unzulänglicheit der Deutschen Bahn.

Es handelte sich um ICE 1675, der Binz auf Rügen mit Frankfurt am Main verbindet. Die Streckenführung über Marburg und die vielen Halte – unter anderem in Velgast, Bützow, Lüneburg, Uelzen, Celle, Wabern, Treysa und Friedberg – verraten, dass es sich im Grunde um eine Interregio-Verbindung handelt, die wegen der dogmatischen Konzernpolitik auf ICE-Triebzüge umgestellt wurde. Planmäßig macht dieser Zug in Hamburg Hbf von 16:16 Uhr bis 16:28 Uhr Kopf und belegt dabei Gleis 11 effektiv über 20 Minuten lang: die letzte Zugbewegung davor ist der dort um 16:01 Uhr endende ICE aus Kopenhagen, die erste danach die Abfahrt der Regionalbahn nach Elmshorn um 16:49 Uhr.

Um Gleis 11 zu erreichen, muss der Zug ab Hamburg-Tiefstack den »Südeingang« des Hamburger Hauptbahnhofs ansteuern und sich auf dem Grasbrook in die von den Elbbrücken kommende Strecke einfädeln, anstatt über Berliner Tor den »Osteingang« zu benutzen, wo aber ausschließlich auf Gleis 8 die Fahrtrichtung gewechselt werden kann – und dieses Gleis wird zu dieser Zeit für den ICE Richtung Berlin gebraucht, weil die weiteren nach Osten führenden Gleise 5, 6 und 7 durch die Regionalzüge blockiert sind, die dort aus beiden Richtungen – Nordwest und Ost – alle enden und die Gleise bis zu ihrer Rückfahrt lange Zeit blockieren, anstatt durchgebunden zu werden und die Gleise nach 4 oder 5 Minuten wieder freizumachen, wie es »Prellbock Altona«, »Bürgerbahn« und andere Bahninitiativen seit Jahren fordern.

Das heißt: Wegen des verfehlten Betriebskonzeptes des Hamburger Hauptbahnhofes wurde ICE 1675 am 14. August über eine Strecke geschickt, bei der das Nachbargleis wegen der am Vortag heruntergerissenen Oberleitung gesperrt war.

Jedenfalls stand nun dieser ICE plötzlich in Rothenburgsort, keine 3 km vom Hauptbahnhof entfernt. Auf der Südseite: Eine Lärmschutzwand mit Ausgängen zur Billhorner Kanalstraße. Auf der Nordseite: Ein Containerdorf für Wohnungslose und Geflüchtete.

Vermutlich dachten alle an Bord, dass binnen 20 oder 30 Minuten das Problem gelöst ist, schließlich war man mitten in Hamburg und weder in der Pampa noch auf einem Viadukt über dem Nord-Ostsee-Kanal.

Weit gefehlt. Es dauerte vier Stunden. Laut Medienberichten versuchte die Bahn zunächst, den ICE mit einer Hilfslok nach Hamburg-Bergedorf zu schleppen – das ist 13 km entfernt. Ob das daran lag, dass man am Hbf keine Hilfslok hatte, oder ob man den Zug nicht in den Hbf hineinschleppen wollte, geht aus den Berichten nicht hervor. Jedenfalls klappte das Abschleppen nicht, auch hier bleiben die Gründe bisher im Dunkeln. Bei einem lokbespannten Interregio mit klassischen Schraubkupplungen hätte man allerdings jede in der Nähe befindliche Lok nehmen können – das Betriebswerk der Nordbahn ist einen Katzensprung entfernt, und Güterzugloks gibt es in Rothenburgsort auch einige.

Am Schluss rief man die Profis von der Feuerwehr. Die half dann beim Umsteigen in einen auf der Richtung Hauptbahnhof gelegenen Seite bereitgestellten anderen ICE. Auf den Bildern sieht man, dass der havarierte ICE die Bugklappe geöffnet hatte – warum es nicht möglich war, die beiden ICE zu kuppeln und zum nächsten Bahnhof zu fahren, geht aus den Berichten ebenfalls nicht hervor: vielleicht technische Probleme mit der Kupplung wegen der Havarie?

An Bord des gestrandeten Zuges war unter anderem der Präsident der Bundesnetzagentur Klaus Wolfgang Müller (2000-2005 Umwelt- und Landwirtschaftsminister in Schleswig-Holstein, 2014-2022 Vorstand der Verbraucherzentrale Bundesverband). Der Chef der für die Eisenbahninfrastruktur zuständigen Regulierungsbehörde berichtete, dass die Fahrgäste nicht über den Grund des Stopps informiert worden seien. Und auf die Bitte um eine Äußerung zu den vielen weiteren Zugpannen sagte er: »Kein Kommentar, und ich wünsche der Bahn viel Erfolg bei ihren Investitionsplanungen.«

Ich hoffe, dass die Botschaft dieses mit einem Lächeln vorgetragenen Statements bei den Verantwortlichen ankommt. Vielleicht werden sich jetzt einige warm anziehen müssen.

Über Joachim Holstein

(*1960) arbeitete von 1996 bis 2017 als Steward in Nacht- und Autozügen der DB, war von 2006 bis zur Einstellung dieser Verkehre Betriebsrat der DB European Railservice GmbH und zuletzt Sprecher des Wirtschaftsausschusses. Mitbegründer der Initiative zur Rettung des Nachtzuges Hamburg-Paris (2008; »Wir wollen nach Paris und nicht an die Börse«) und des europäischen Netzwerks für Nachtzüge »Back on Track« (2015; https://back-on-track.eu/de/); Weiteres unter www.nachtzug-bleibt.eu

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